Demut und Demütigung

Demut und Demütigung
„Der Meister bot seinen Jüngern Schutz und Zuflucht in alle Ewigkeit; doch viele Schüler waren so habsüchtig, dass sie obendrein noch Balsam für ihr liebes Ich verlangten. Und so reisten sie wieder ab und zogen es vor, die zahllosen Demütigungen des Lebens hinzunehmen, anstatt selbst Demut zu lernen.“- P. Yogananda





1


Hastiger Züge erglühte zwischen dürren, zittrigen Fingerspitzen die erste Zigarette seit Jahren, deren giftigen Dunst sie tief in ihre Lunge einsog, den sie gepaart mit gleichermaßen toxischer, in Worte verschnürter Erzürnung wieder in die Atmosphäre ausspie. Dabei trat sie hektischen Schrittes hin und her, wandte ebenso rasant ihre erregten Blicke immer wieder von ihm ab und schellte weiter, als wüsste sie, dass es sich im Grunde um einen Monolog handelte. Sie wünschte sich von ihm keine Lösung, sondern die unermüdliche Widerstandkraft einer Steinwand, an der ihre ungestüme Wut abprallen konnte, wie ein fest aufgepumpter, beinah zerplatzender Gummiball. Schweigend, mit in die Hosentaschen geschobenen Händen stand er da, starrte auf ihre hellbraunen Lippen, die sich auf und ab bewegten und den spitzen, hervorstehenden Eckzahn entblößten, der ihre Schönheit dennoch nicht zu schmälern vermochte. Ihr von glutreibender Rage erhitztes Gesicht stützte sie geschlossener Augen einen Moment lang auf scheinbar betende Hände, bis ihr Herzschlag vor Entrüstung erneut in Fahrt geriet und diese mit der Zunge in Form von heftigen Flüchen und sarkastischer Verspottung nach Außen abfeuerte. „Für diese Schule nicht geeignet! Dass ich nicht lache! Eine Direktorin…nein! Ein durchtriebenes, hinterlistiges Weib! Verleumdung ist das! Ich sag dir, was dahintersteckt: Neid! Jämmerlich geplagt von einer vergiftenden Krankheit. Niederträchtige, selbstverherrlichende… Ratte! Hochintelligent, hochsensibel ist das Kind! Gleich morgen früh wird es ihr die schändliche Sprache verschlagen! Dir zeig ich es, ich zeige es dir…du Direktorin, arrogant, aufgeblasen! Abschaum! Das wird sie noch bereuen, hörst du! Ungeeignet, ungeeeeignet!!! Unverschämt, ungeheuerlich, respektlos! Das wird sie bereuen, hörst du?“ Wieder verhallten ihre hasserfüllten Anklagen auf dem Weg zu ihm wie ein leises Glöckchen im Stimmengewirr eines überfüllten Festsaals. Ihre schlanken Beine wirkten wie Bambusstöcke, zu dünn und klapprig, ihr knöchriger Rücken, die einzelnen Wirbel ragten heraus und schmiegten sich eng an die Oberfläche der weißen Bluse an. Zusammengekauert sank sie auf die im Schatten liegende Seite der von Moos befallenen Stufen der Steintreppe nieder und schwieg mit hervorgetretener Stirnader noch immer rauchend, ins Leere starrend und gab vor ihn zu ignorieren, - ihn, der behutsam, diskret nach ihren Blicken erhaschte, sich nach etlichen geduldigen Versuchen ebenfalls eine Zigarette ansteckte und gescheitert in die Ferne blickte, wo der Junge auf einer Wiese zwischen hunderten schaukelnden Margeritenköpfchen spielte, seine Eltern heimlich beschattete und ahnte, dass er Schuld an ihrem Wutausbruch trug.

Hochbegabung, 150 hatte die Berechnung ergeben. Bereits mit zehn Monaten war er, wie das Nachbarskind, erste Schritte getreten, hatte ein Jahr später zwischen der Sprache des Vaters und der der Mutter spielend leicht jongliert, beobachtete die Launen des Regens, der Bäume und Felder rieselnd, sprühend, prasselnd oder platzend tränkte, den Wind, der in das Meer hineindrang, um ihm Wellen aller Stärken zu verleihen, liebliche Blüten, die dem Sonnenlicht verfallen waren. Zahlen schienen kein Teil von alle dem zu sein, dennoch sah er ihre Unendlichkeit, summierte und subtrahierte sie. Vor sechs Jahren kam er zur Welt, in einer Vollmondnacht wachte sie in durchnässten Laken auf, um vor Schmerz zu stöhnen, zu schwitzen, zu wimmern, zu schreien, zu erbrechen, zu zittern und von innen zu zerreißen. Die unaufhaltsame Naturgewalt der Wucht einer Geburt ließ einen ausgebluteten, farblosen Körper zurück, der Leben gegeben und dabei das eigene scheinbar mit ausgesaugt hatte.

Während ansässige Schwalben mit ihrem langen Ruf über ihm vorbei huschten und eine Schar abgemagerter Straßenkatzen um ihn herumlungerte, an Grashalmen knabberte und sich fragend vor ihm platzierte, schlugen plötzlich Hagelkörner wuchtartig auf ihn und die Margeritenköpfchen nieder, die gleich ohnmächtig nach unten hingen. Das Hagelmeer stürzte in der gleichen Flut auf den Ruhe bewahrenden Vater ein, der die jähzornigen Wutanfälle der Mutter aufsog wie den Qualm des vergiftenden Glimmstängels, an dem er sich die dünne Haut zwischen den Fingern verbrannte. Der Hagel raschelte immer schneller, heftiger, unkontrollierter und verwandelte sich in Starkregen, der die giftverspritzende Zunge übertönte. Aufgedunsen, triefend nass wurde er, der wie ein vollgesogenes Blatt Papier gefährlich brüchiger Struktur dennoch immer noch bereit war zu absorbieren.

Nachts wälzte sie sich unruhig, wie ein an einer Straßenlaterne zappelnder Nachtfalter in den Laken, während ihr Mann regungslos zu schlafen vortäuschte, immer tiefer ins Kopfkissen sinkend Zuflucht in der wirren Sphäre zwischen Gedanken- und Traumbildern fand, die keine Unterscheidungskraft mehr trennte. Ihre Stimmen im Kopf jedoch schwangen weiter, drangen wie Schallwellen immer wieder von oben nach unten durch ihren zugeschnürten Brustkorb in den schmerzenden Magen bis in die verkrampften Waden hinab: „Einen Besuch werde ich ihr abstatten, einen unerwarteten, unvergesslichen Besuch!“ flüsterte sie hilflos im Strudel ihrer eigenen boshaften Vergeltungspläne wirbelnd, ohne den dritten Faktor des ohrenbetäubenden Lärms wahrzunehmen. Als das erste Licht in die Nacht drang und sich die Dunkelheit schließlich dem Tag unterwarf, schlief sie sitzend am Küchentisch ein, bis es Zeit war aufzubrechen.

Die Fahrt zur Schule verlief in Stille und dennoch kroch die zornige, gekränkte Stimmung seiner Mutter in jeden Winkel des Wagens und fraß sich durch jede kleinste feine Pore in ihn hinein. Sensibel war er, dass stand außer Zweifel. Sein schwitzender Nacken befeuchtete die Haarsträhnen, die Hände rieb er über der Hose ab. Er stellte sich vor, wie die Scheiben auf allen Seiten beschlügen, die brodelnde Rage der Mutter immer fester und gewaltiger gegen sie drückte, sie allmählich in immer tiefere Risse sprängen und in tausend kleinen Glassplittern zersprängen. Je mehr sie sich der Schule näherten, desto fester presste der gewaltige Zorn auf seinen Brustkorb, sodass er rasch das Fenster öffnete, um frische Frühlingsluft hineinströmen zu lassen. Über den Dächern der nahe am Meer gelegenen Häuser kreisten Möwen und hielten Ausschau. Zwischen den noch immer kahlen Buchen sprießten Blüten in roten, gelben, violetten Tönen, die mit der Geschwindigkeit des Wagens ineinanderflossen wie Wachs. Sie fuhren ins Schulgelände ein, in dem sich bereits hunderte Kinder auf dem Weg zu ihren Klassensälen tummelten, Lehrer ihnen angestrengt vorauseilten, Mütter und Väter überlastet davon drängten. Während sie noch nervös nach Papieren kramte, entdeckte er eine Ameisenstraße und folgte ihr neugierig bis ins Gebüsch. Sie marschierten, trugen schwere Ladungen mit Brotkrümeln. Vorsichtig ließ er eine von ihnen auf seine Finger klettern, um sie von ganz nah zu betrachten. Ob sie ihn wahrnehmen konnten? Die Welt musste ein unendlich großes Universum für sie sein. Als er sich umsah, winkte sie ihn sichtlich verängstigt mit eiligen Handbewegungen herbei.



2

Nur vorsichtig suchte die Direktorin in den oberen verstaubten Buchreihen ihrer Bibliothek, als ob eine gewisse Gefahr von den alten Romanen, Gedichtbänden, wissenschaftlichen Texten und Publikationen ausginge. Behutsam tippte sie die ruhenden Bücher an, wurde nach kurzer Suche fündig und zog das Exemplar mit zögerlicher Hand heraus. Sie wirbelte den Staubfilm mit einem schwachen Atemzug auf und half mit zitternden Fingerkuppen sorgsam nach, als ob die Buchstaben mit dem Staub davonflögen, in der Lift schwirrten, um sich dann vereint mit anderen losen Partikeln als dünne, brüchige Decke auf einem anderen Fleck des Zimmers niederzulassen. Unerwartet schlug die dunkelblaue Flügeltür mit einer schockierenden Wucht auf und versetzte sie in leichte Panik, sodass sie, ertappt und bloßgestellt, das wertvolle Stück aus den Händen verlor.

Mit dem Zeigefinger über den Lippen gelegt, blickte sie finster aus tief über die Nase gezogenen Brillengläsern zu der aufgestoßen Tür, aus deren Richtung bereits schrille Worte einer eindringenden Frau, gekleidet in dem gleichen kühlen Blau, das sie im Türrahmen verschluckte, in ihr Büro schossen, die sich jedoch auf dem Weg zu ihr wie dünnes Pulver in Luft auflösten. Denn im Augenwinkel entdeckte sie die in Tinte geflossenen Zeilen auf der aufgeschlagenen Buchseite, die nach vielen Jahren wieder Licht erblickten und ließen sie in einem erstarrenden Schockzustand zurück, in dem sie keine Sprache mehr verstand. Die sichtlich erregte Eingedrungene blieb an der Türpforte stehen, als ob sie keine weitere Grenzüberschreitung wagte: „Warten Sie draußen! Derzeit empfange ich niemanden!“, unterbrach sie die losgelöste Direktorin mit einer harschen Kühle in der Stimme, durch die sie die unerwartete Besucherin missbilligend herabzusetzen versuchte. Demütigung und eigene Emporhebung sprachen die eisigen Züge ihrer leeren, verzerrten Mimik aus heruntergezogenen, dünnen Mundwinkeln und zugekniffenen, undurchschaubaren Augen aus denen keinerlei Freundlichkeit blinzelte. Die die Demütigung annehmende Invasorin hinter der Schwelle hüllte ihren Ausdruck, wie ein Reflektor, in die gleiche Finsternis voller niederschmetternder Blicke, jedoch lag eine gewisse Schmerzlichkeit in ihrem Gesichtsausdruck, die sich über die Jahre in ihr schönes Antlitz eingebrannt hatte. Diese Verletzlichkeit unterlegte ihre Stimmfarbe mit einem wimmernden Flehen nach Anerkennung, das sich mit kraftvollen Anschuldigungen tarnte, die so perfekt gelang, dass nur letztere von der ebenso klapprig dürren Direktorin wahrgenommen wurden.

Schlagartig gingen die beiden Frauen mit Worten aufeinander los und häuteten sich währenddessen aus ihren Körpern und Seelen, um ein leidendes Wesen zu nähren, das sich von nichts als Schmerz ernährte. Die unwillkommene Besucherin, deren erzürntes Gesicht sich bis zur Unkenntlichkeit verwandelte, schoss gewaltige Beschimpfungen wild in den Raum hinein, denen die Attackierte schutzlos ausgeliefert war. Während des unerbittlichen Wortgefechts loderten tausende glühende Giftpfeile auf, schwere Felsbrocken feuerten durch die Luft, in der hochexplosive Substanzen schwebten. Erst als die Gegnerinnen sich tiefe Wunden geschlagen hatten, gingen sie schweigend in einem Waffenstillstand auseinander, der keinen Frieden bedeutete. Die beiden Türflügel schlugen grell aufeinander und trennten die beiden gehäuteten, porösen Hüllen von Frauen voneinander, die mit dem kleinsten Gegenstoß unverzüglich zerbröckelt wären.

3

Die Direktorin sank kraftloser Glieder, überwältigender Müdigkeit hinab in ihren abfedernden Drehstuhl, während in ihr noch immer eine kraftvolle Welle der Empörung rauschte, die geheime rachsüchtige Räderwerke von Intrigen antrieben. Doch in den leeren Raum jeder ihrer Fasern zog plötzlich eine dunkle Wolke der Erschöpfung und verdichtete sich zu stockendem, undurchlässigem Nebel, der sich erst mit ihrem bestürzenden Blick zum gestürzten Buch auflöste, das nach seinem tiefen Fall noch immer auf den kühlen Fliesen geduldig wartete und dessen Anblick allein genügte, um die Skizzierung einer ausradierten Erinnerung an diesen alles verändernden Tag immer klarer und detaillierter nachzuzeichnen:

An jenem Morgen war er früh auf, der Platz neben ihr leer gewesen, doch die Geborgenheit spendenden Gerüche von süßen Apfelblüten und würzigem Tee sowie Klänge der aufklappenden Fensterläden, leisem Klavierspiel hatten sie zurück in den Schlaf getragen. Ungewohnt lange hatte sie an jenem Tag geschlafen. Er war durch die prächtig weißblühenden Apfelplantagen gewandert, hatte ihr von weitem zugewunken, als sie noch immer schlaftrunken auf der Terrasse umhergewandelt war und dabei Kaffee schlürfend, auf ihre nackten Füße niedergeschaut hatte. Wieder aufblickend, hatte sie ihn in der dichten Blütenpracht aus den Augen verloren.

Ohne zu zögern, hatte er sie damals auf dem Campus angesprochen, denn Warten hätte ihm jeden Mut entzogen. Vertieft in Gedanken über ins Universum reichende Bibliotheken zu Babel, hatte sie ihn erst in dem Augenblick wahrgenommen, als er bereits an ihrem Tisch Platz genommen hatte. Eines Nachts, sie waren nicht älter als 22 gewesen, hatten sie einen Barttisch nach zu vielen kleinen Gläschen des mexikanischen Brands zu Fall gebracht, dem wütenden Kellner nichts als unverständliches Gelächter mehr entgegenbringen können, für den kurzen Fußweg in das winzige Apartment mehr als eine Stunde gebraucht und dabei geraucht, immer wieder pausiert, um noch einen Schluck und einen weiteren Zug zu nehmen, waren Arm in Arm beinah zu Boden gestürzt, hatten sich stundenlang geliebt, nackt, verschwitzt, umschlungen bis in die Mittagsstunden geschlafen.

Obwohl die Erinnerungen durch die Jahre von verlorenen Bruchstücken und Umdeutungen der Wirklichkeit durchdrungen waren, so war doch immer das vom Vergessen vergessene Gefühl geblieben. Seit diesem einen Morgen jedoch hatte sie versucht all die kostbaren Erinnerungen in das schwarze Loch des Gedächtnisses zu werfen und die restlichen Überlebenden hinter hunderten Steinmauern, die eine undurchdringbare Metallpforte mit eisernen Ketten umringten, einzuschließen. Die verzerrten Lichtbilder aus der Vergangenheit wirkten jetzt wie Fantasien auf einer Leinwand, wobei sie selbst die Darbietung einer Frau inszeniert hatte, die ihr heute fremd und irreal erschien. Die törichte Schauspielerin der Gegenwart war eine gebrochene Frau, die keine Blüten mehr berührte und auch nicht mehr an ihnen roch. Die brüchigen Mauern, hinter denen sich die Erinnerungen verbargen, zerbröckelten durch das federleichte Gewicht der verstaubten Buchseiten und befreiten das alte stechende Gespenst aus dem dunklen Verließ der Vergangenheit, dass sie zu quälen begann, da es schon so lange demütig um Freiheit bat. Das traurige Phantom, dessen flehendes Flüstern sie mit eiserner Strenge zum Schweigen zu bringen versucht hatte, ertönte nun unaufhörlich, deutlich und immer lauter aus jedem Winkel des Zimmers und sog sie immer tiefer hinein in die mystische Welt der Erinnerung, in der sie sich ganz lebendig wiederfand:

Sekunden vergehen, keine Antwort, nichts zu sehen. Dann geht sie los. Barfuß in brauner kühler Erde, im hohen, feuchten Gras zwischen weißen Obstblüten. Sie ruft ihn, doch er antwortet nicht. Sie durchforstet neugierig jede Baumreihe, berührt dabei die lieblichen, süßduftenden Kelche, deren Frühlingsankündigungen in jeder Seele Lebensfreude aufkommen lassen. Sie ruft ihn erneut. Keine Antwort. Weder auf der Veranda noch im Garten, weder im Geräteschuppen noch in der unteren Plantage. Die oberen Reihen erreicht sie nur mühevoll, die Kühle zieht in die Fußsohlen und beginnt zu schmerzen. Dennoch setzt sie ihren Marsch fort, während die Verwunderung über seinen Verbleib ihre Tonlage erhöht, ihre Schritte beschleunigt und sie dadurch unvorsichtiger werden. Er antwortet nicht. Die Verwunderung mündet in Ärger, der ihre Stimme verfärbt, die seinen Namen immer wütender ausruft bis er in der Kehle glüht. Eiskalte Füße, brennende Kehle. Minuten vergehen. Keine Antwort. Niemand zu sehen. Hastige Schritte, um die letzte steil gelegene Baumreihe erschöpft und frierend zu erklimmen, jedoch belohnt werden durch einen weiten Blick über glasklare Gewässer, die die uralten Gebirge an ihren von Nebel verborgenen Ufern umringen, die in mystischer Stille demütig verweilen, während alle Naturkräfte sich an ihnen verausgaben.

Von ihrer Schönheit überwältigt, unterbricht sie ihre Suche. Sekunden vergehen. Ein brechender Damm der einschlagenden Angst spült restlos jedes Ärgernis fort, spült jede Wut vom Plantagenhügel hinab, den sie rennend und schreiend durchstreift. Das von der Weisheit besitzenden Intuition in Aufruhr versetzte Herz rast schutzlos in der Brust der Klinge entgegen. Sie rennt, schreit, folgt weiter blind nur dem dritten Auge des Bauches. Keine Antwort. Schwarze, eiskalte Fußsohlen, rote Nägel, weißer Morgenmantel zwischen tausenden schaukelnden Blüten. Sekunden vergehen. Ihre zur Wehr setzenden Schreie prallen hilflos gegen die massive Bergkette, schallen ungehört zurück über den stillen See im Tal. Keine Antwort, nichts zu hören. Stille. Die Krallen der Verzweiflung ergreifen die auslaugende Angst, um sie zu Panik zu steigern. Dort liegt er auf der Erde.

Sie rennt und schreit. „Oh Gooott!“ Sekunden vergehen. Sie dreht ihn zu sich, seine Hand erschlafft in ihrer. Sekunden vergehen. Verzweifelte Hilfeschreie hallen durch das gesamte Bergtal. „Hilfe! Hiilfe!“ Nur Sekunden, in denen sein Leben langsam, doch unaufhaltsam, aus seinem Körper entweicht, ausströmt wie der Sand in der Uhr, Kühle einströmt in seine Fasern, während seine Seele bereits in der Stille über dem weiten Tal schwebt, sich den sinnlichen Reizen entziehend verborgen hält und dabei unschuldig und dennoch Wunden schlagend das zurückbleibende pulsierende Herz an seine wahre Heimat erinnert, immer dann, wenn es von tiefem Leid heimgesucht wird. Nur eine Sekunde zwischen Leben und Tod, keine Antwort. Nur Stille.

Welch ein zauberhaftes Gedicht. Ihre Finger berührten seine Schrift, die Buchstaben, die er vor langer Zeit gezeichnet hatte. Sie strich liebevoll über seine auf dem dünnen Papier ruhenden Worte. Welch brüchige Brücke zur Vergangenheit, gefährlich, unsicher und doch wunderschön. Es war ein ungewöhnlicher Morgen gewesen: kühler, stiller See, in dem sich die Berge gespiegelt und deren Gipfel noch letzte Schneedecken getragen hatten. Die Apfelblüten hatten sich vorsichtig aus ihren ledernen Knospen herausgewagt und die kühle Luft mit wärmenden Ankündigungen versüßt. Wie oft waren sie hier durch die Baumreihen gewandert. Und jedes Mal die dezente Berührung an den Händen, in der die ganze Sanftheit seines Wesens spürbar gewesen war.

Schlagartig begrub sie die Verse unter dem Buchdeckel und zwängte sie in die staubige Lücke ihrer Bibliothek. Plötzlich rauschte der Lärm vom bebenden Pausenhof in ihren Ohren, den sie bis dahin vollkommen ausgeblendet hatte. Ihre Blicke durchwühlten die Menschenmenge und kollidierten dabei mit Mehdi, der unter einem Baum sitzend ebenso apathisch in die Vergangenheit starrte und dabei mit seinem pechschwarzen Haar das Weiß der bestechenden Mandelblüten vergrellte. Jahre später erinnerte sich an diesen Augenblick, als sei es gerade gestern gewesen, dass sie ihn zum ersten Mal beobachtet hatte. Mit dem Anblick der blühenden Pracht des Mandelbaumes stieß der Schmerz aufschreiend in unbändigen Tränenflüssen aus ihr heraus, die wie Wasserfälle niederschossen und auf den aufgetürmten Papierstapeln landeten, die wie immer ihre Arbeit verrichteten, sie verlässlich aufsaugten, verschwinden ließen und nur noch kleinste Papierwellen zurückblieben, wo vorher tiefe Seen standen.

Jemand klopfte. Sie wandte sich um, mit schmerzverzogenen Zügen, zusammengekniffenen Augen, in denen keine Freundlichkeit blinzelte, die verleugneten und nichts preisgaben. „Jetzt nicht!“, brüllte sie forsch und ließ sich gebrechlich in ihren Stuhl niedersinken, um kurz darauf, wie eine Welle, die sich wehrte, an seinem Ufer zu brechen, eine Nacht, die sich verweigerte, Tageslicht zu empfangen und Blätter, die sich an ihre im Herbstwind schaukelnden Zweige klammerten, weiterzukämpfen.





4

Auf der anderen Seite der Flügeltür flüchtete die Mutter wie eine verwundete Beute noch immer angstgetrieben durch den langen Korridor, ohne zu bemerken dabei ins scharfe Visier sämtlicher auf den seitlichen Bänken lauernden Raubtiere geraten zu sein. Schnaufend zündete sie sich mit zittrigen, abgemagerten Fingern eine Zigarette an und stieß ein qualvolles Fauchen mit der Rauchwolke aus. Ein schockierter Blick in den Rückspiegel, um sich selbst verächtlich in die Augen zu starren: Schwäche in den schwarzen Rändern, Zorn zwischen ihnen, Schwere auf den Lidern, Unglück in ihnen. Welche Geringschätzung, welche Entwürdigung. Die Wut lastete noch immer schwer, sodass sie die zerstörerische Selbstbeobachtung aufgab, weiter rauchte und ungeduldig nach dem Jungen Ausschau hielt.

Dieser beobachtete, wie sich die grauen Wolkenschleier für eine bereits spürbar starke Sonnenkraft öffneten, in den Büschen Regentropfen in ihrem Licht funkelten, an den grünen Blättchen saugten und sich zu fragilen Perlen wunderschönen Glanzes formten, die an ihren Rändern fest und stolz posierten. Schon von weitem vernahm der Junge die Niedergeschlagenheit seiner Mutter an der Art wie sie die Schulter hängen ließ, den Mund zu einem Lächeln verkrampfte und ihn kräfteaufsparend mit heißerer Stimme begrüßte. Ihr Zorn löste sich nun in lähmende Traurigkeit auf, die sich wie eine dornige Kletterpflanze immer enger um das Auto herumwindete und sich während der schweigsamen Fahrt mit ihren Stacheln in ihn hineinzubohren begann. Möwen segelten über ihren Köpfen und kreischten verdächtig, spürten mit jeder kleinsten Vibration in ihren Flügeln, was auf sie zukommen würde. Denn erneut zog ein von Eile gepeitschter Wind auf und zerzauste die zarten Blättchen, die auf einen Schlag all ihre glänzenden, ihrem Schicksal entgegenrinnenden Wasserperlen verloren, die sich allem Anschein nach im großen Ganzen auflösten. Bereitwillig verbeugten sich alle Äste, Gräser, Blumen, alle Masten und Fahnen der Segelboote, jeder Wasserspritzer in den Wellen des Meeres dem stürmischen, hektischen Besucher, der sie alle heimsuchte und dessen Herkunft und Ziel so unberechenbar waren, wie seine Wahl auf die mit ihm davonfliegenden Begleiter, die er erst losließ, wenn es ihm bedurfte.

„Sehen uns die Möwen von da oben?“, fragte er in die Stille mit sanfter Tonlage eindringend, die in ihr ein behagliches Gefühl von Geborgenheit stiftete, nachdem sie sich seit Stunden gesehnt hatte. Sie inspizierte ihn unauffällig im Spiegel, während sich ihre verbitternden Züge in die eines wunderschönen lächelnden Kindes verwandelten: „Ja, sie nehmen uns wahr. Von dort oben sehen wir aus wie klitzekleine Ameisen.“ Von dort sah man bis zu den höchsten Gipfeln, das weite Meer rauschen, grüne, braune und gelbliche Quadrate, schwarze Streifen und kleine bewegliche Punkte, den Anfang und das Ende der Stadt, in der beide Frauen lebten.

Als sie in das Parkgelände einfuhren, sprang eine in Aufruhr versetzte Gruppe wilder Katzen vorsorglich unter die parkenden Autos. Augenblicklich wirkte ihr Gesicht wieder wie das einer rasant gealterten Frau, die eine Rolle in einem qualvollen Alptraum gespielt hatte. „Wegschaffen muss man diese schmutzigen Kreaturen! Dafür werde ich schon sorgen!“, keifte sie und hielt sich dabei den qualvoll schmerzenden Magen. Nur eine Handlänge darüber lag ihr in Aufruhr versetztes Herz, durch das längst ein ungebetener Gast hinab in das Körperorgan eingedrungen war, sich ungeachtet wie rasant in allen Zellen ausbreitete, die schon bald zu streuen beginnen würden. Zwei Handlängen darüber lag der Schlüssel bereit, doch es war ihr unmöglich ihn den kurzen Weg hinab zu ihrem Herzen zu transportieren. Ungebetene Gäste, denen man keine Beachtung schenkte, gingen schnell wieder. Der Junge sah seiner Mutter nicht mehr nach, sondern hielt Ausschau nach den unter der Motorhaube verborgenen Straßenbewohnern. Zusammengekauert versteckten sie ihre kleinen Näschen unter den weichen Tatzen, wobei nur eine von ihnen einen Blick ins blendende Sonnenlicht wagte. Geduldig wartete der Junge, lockte mit sanfter Stimme und gutmütigen Augen. Nach einer ganzen Weile lugte sie demütig aus dem vermeintlich sicheren Versteck hervor und schnupperte neugierig an der zärtlichen Kinderhand.





Für Trudi im Juli 1997



Solange Blütenmeere sich in all ihrer Pracht dem Sonnenlicht hingeben

Und vor der Dunkelheit gnadenlos verschließen,

die die Tage verführerisch umgarnt, mit ihrem nächtlichen Gewand umschlingt,

das mit vier in Licht und Schatten spielenden Mondgestalten der Erde verschiedene Gesichter skizziert

Von denen keines die Wahrheit enthüllt



Solange sämtliche Wellen nach weiter Reise den Ufern vertrauensvoll entgegenblicken

Um sich kurz darauf wieder ganz dem Ozean zu überlassen

sich mit gewaltigen Winden zu machtvollen Stürmen auftürmen

bis sie unsichtbar und schweigend auf der spiegelglatten See ruhen



Solange pralle, vollgesogene Früchte die müden Äste herabziehen,

die schon bald vom eisigen Hauch erstarrt, still und kahl erscheinen

die geduldige Knospen verbergen

sodass jedem Tod wieder ein neues Leben

dem Leben ein neuer Tod folgt



Solange der Atem einfließt, innehält, ausfließt und ewig innehält

So diene ich erhobenen Hauptes im Puzzlespiel der Dualität,

dass dies eine Bild ergibt.

So folge ich bedacht voller Demut und Zuversicht dem Pfau,

dessen Fährte ohne Hindernisse führt

zwei Handlängen hinab

ins pulsierende Zentrum

wo die Freiheit wohnt
 



 
Oben Unten