Den Flur auf und ab

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cyranelli

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Den Flur auf und ab


Eine riesige Gerölllawine wälzt sich langsam über Fabios Oberkörper türmt sich auf der linken Seite auf und drückt und quetscht das Brustbein wölbt sich nach innen ein Schraubstock um den Herzmuskel der Schweiß bricht ihm aus als ihn die Lawine unter sich begräbt

Das Piepsen der Pulsuhr reißt ihn aus seinem Alptraum. Die Digitalanzeige an seinem Handgelenk zeigt nur noch 33 an. Ruhepuls unter 35 und das im Schlaf, ALARM!!! Entsetzt reißt Fabio sich den Brustgurt ab und schwingt die Beine aus dem Bett, reißt dabei die zerknüllte Zudecke zu Boden. Die Lawine wird leichter, etwas leichter, rutscht in Richtung Füße.

Fabio knipst die Nachttischlampe an und sieht an sich hinunter. Da ist kein Geröll, da sind nur ab Mitte Oberschenkel abwärts braun gebrannte, glatt rasierte Beine, die in nackten Füßen enden. Er lauscht den leisen Atemzügen seines Zimmer-und Mannschaftskameraden Julio-Enrique. Schläft er?

Fabio schlüpft mit den Füßen in seine Badelatschen. Das unvermeidliche wartet. Leise nimmt er seinen Kulturbeutel vom Nachttisch, knipst die Lampe wieder aus und tritt auf den Gang hinaus, schließt sorgfältig die Tür hinter sich. Mit jedem Schritt, den er den Hotelkorridor hinauf- und wieder hinuntergeht, verlieren auch die letzten Steine der Gerölllawine an Gewicht, werden zu harmloseren Kieseln und schließlich zu Sand, der rechts und links an seinem Körper hinunterrieselt.

Was mache ich nur hier?, fragt Fabio sich, während er weitermarschiert, um seine Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Die paar anerkennenden Worte des Chefs, dem er heute zum Sieg verholfen hat. Wertvoll?

Fabio hat seine Aufgabe erledigt: erst die Mannschaft über 200 Kilometer mit Wasserflaschen versorgt, ein Handzeichen von vorne und er hat sich zurückfallen lassen zum Mannschaftswagen, dann hat er sich mit den vollen Bidons wieder nach vorne gekämpft, bis zu zehn Bidons auf einmal in der Trikottasche transportiert, Anstieg oder kein Anstieg, egal, der Chef wartet nicht gerne auf seine Verpflegung und die anderen auch nicht.

Dann das Tempo übernommen und sie verschoben, die Wand, die starre, meterhohe, die sich drohend vor ihm aufbaute, nachdem der Gipfel nur noch läppische 1200 Meter entfernt war. Fast wäre Fabio diesmal an ihr zerschellt, der Etappensieg zum Greifen nahe, aber dann haben sie ihn nicht im Stich gelassen, seine neuen Helfer und Kameraden, die vielen roten Blutkörperchen, die auf einmal frischen Sauerstoff-Wind bis in den letzten Winkel seiner ächzenden Muskeln transportierten und ihn rund werden ließen, seinen Tritt, und da waren sie beide weg, die Verfolgergruppe, die hartnäckige, an seinem Hinterrad und die Wand.

Fabio ist durch sie hindurchgefahren und hinter ihm, da ist sie kollabiert, einfach zusammengefallen… und da war er passiert, der Teufelslappen, und der Chef zog vorbei an Fabio, vorbei durch den jubelnden Korridor der Zuschauer, rief ihm zu, lass lieber abreißen, ich brauche dich noch später. Und weg war er.
Die Verfolgergruppe flog an Fabio vorbei, er, der die letzten Meter nur noch ausrollte und als Sechster ins Ziel kam, dort von wenig bedeutenden Helfern aus dem Sattel gehoben wurde. Seine Beine konnte er kaum noch beugen, die Milchsäure stand bis oben, er wankte am rollenden Labor vorbei und musste sich im Schutz des Mannschaftswagens in den Straßengraben legen.

Später, nachdem der Hintergrund nicht mehr flimmerte, aus der Ferne nur, sah er den Chef auf dem Treppchen stehen, erster Etappensieg, endlich, nach über der Hälfte der Strecke hatten alle darauf gewartet, aber für die Übernahme der Gesamtführung hatte es nicht gereicht. Dafür würde er, Fabio, eben später noch gebraucht werden. Wie ihm bereits zugerufen worden war. Am Teufelslappen.

Gefeiert hatten sie den Chef am Mannschaftstisch heute, am Abend vor dem lang ersehnten Ruhetag. Fabio war früher als sonst aufs Zimmer gegangen.

Mit dem zwanzigminütigen Kopfstand vor dem Schlafengehen kam die Angst zurück.
Das Einschlafen danach ist immer das schlimmste. Nie vergisst Fabio, die Pulsuhr anzulegen und die Alarmschwelle von 35 Ruhepuls zu überprüfen. Er stellt sich sein zähes, honigklebriges Blut vor, wie es durch sein Adergeflecht fließt, wie langsam die Wirkung der eingenommenen Aspirin-Tablette es etwas verflüssigt und daran hindert, Klümpchen zu bilden, tödliche Klümpchen, die dann in die Lunge oder ins Gehirn schießen können. Und dann würde er in die Kategorie der „Eingeschlafenen“ fallen, deren Tod im Schlaf meist nur eine zweizeilige Pressemeldung wert ist.

Als Fabio nach einer Viertelstunde wieder ins Zimmer zurückkehrt, kramt er vor der Tür noch eine Aspirin-Tablette aus seinem Kulturbeutel. Im Bett schluckt er sie mit Wasser aus seinem Bidon, schnallt den Pulsmesser wieder um und vergräbt sein Gesicht in den Kissen. Der Wecker zeigt viertel vor drei. Ruhelos wälzt er sich hin und her, während aus dem Bett des anderen ein leises Schnarchen ertönt.

Die Wand taucht vor ihm auf, die Wand, der er heute, nein gestern, überwunden hat. Sie hat Risse bekommen, große Risse, durch einen der Risse erspäht er das Gesicht seiner Freundin Anita, der von höherer Stelle verboten wurde, ihn während des Wettkampfes zu begleiten. Zuviel Ablenkung, so hatte es geheißen. Ihr verzweifeltes Weinen dringt auch durch die Wand, das Weinen nach der Fehlgeburt, zwei Wochen vor dem großen Start.

Fabio hatte sie trösten wollen und ihr noch einmal die Worte der Ärztin vorgebetet. Ein Zellhaufen, der nicht lebensfähig gewesen wäre, der Körper habe ihn von selber abgestoßen und das sei eigentlich gut so. Es würde neue Chancen geben, sicher noch mehrere.
Ihre Frage nach dem WARUM?
Seine Schuldgefühle, auch wegen der vielen Präparate, er hatte sie nicht vor ihr ausgebreitet. Zu verletzt und zu traurig war er selber, es war ja auch sein Kind gewesen, das da nicht die Schwelle zum Leben geschafft hatte.
Wegdrücken musste er ihn, diesen Gedanken und an seine Zukunft denken.
Über seinen sportlichen Werdegang würde nur seine Arbeit hier in diesem Rennen entscheiden, das war ihm mit Nachdruck gesagt worden, nicht nur einmal.

Als Fabio erneut hochschreckt, ist es nicht die Pulsuhr gewesen, die ihn aus dem Schlaf gerissen hat. Die Zimmertür hat geklappt, ganz deutlich hat sich das Geräusch von denen seiner Träume abgehoben.
Fabio richtet sich auf.
Sein Ruhepuls ist bei vierzig.
Im Morgengrauen hat das Zimmer Umrisse bekommen.
Das Bett seines Mannschaftskameraden Julio-Enrique ist leer. Vom Flur hört er Schritte, langsam, schleppend, kontinuierlich. Bestimmt eine Viertelstunde lang.

Fabio kneift die Augen zu und stellt sich schlafend, als sich die Zimmertür wieder öffnet und Julio-Enrique zurück ins Bett kriecht.
 

anbas

Mitglied
Hallo cyranelli,

eine bedrückende Geschichte aus einem Bereich, der mir eher unbekannt ist. Bis auf den ersten Absatz - wo Du gerne noch ein paar Kommata und vieleicht auch einen Punkt verteilen solltest ;) - ein gut geschriebener Text, wie ich finde.
Gern gelesen.

Liebe Grüße

Andreas
 



 
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