Denktagebuch

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Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
der idealismus eines reisenden, muss in seinen koffer passen.

der größte grund zur heiterkeit ist doch dies, wie oft man sich überlebt hat, obwohl andere einen zu grabe trugen.

überzeugungen sind das silberbesteck im armenhaus.

das gewissen ist ein kasten, aus dem nur überzeugungen herausspringen, keine wahrheiten.

kinder sind schlechte diebe, sie stehlen den charakter ihrer eltern, nur um ihn später als last zu empfinden.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wenn die große, lichtschluckende leere in dir staub und unrat angesammelt hat und du jedes staubkorn betrachten würdest, welches in dieser großen leere liegt, so würde gewahr, dass ihnen allen ein auge aufgesteckt ist, ein fassettenauge, rot und riesig wie eine volle vogelbeerstaude. ein auge das, wenn es dich in den blick nimmt, sagt; alle nichtse in dir haben ein auge aufgesteckt, alle nichtse in dir sehen dich unentwegt an, immer. weil du aber erschrickst, fällst du deinem gegenüber in die arme. arme, die aus eintausend lärmenden fingern und handschalen aus dröhnender philosophie bestehen und die dir, traurige, mit lauter ermutigung klappern, als handele es sich nicht um worte, sondern um besteck!

Nur wenn du den sternlosen mantel der langeweile um deine brust trägst, wagst du es in die leere zu schauen. und manchmal gehen gedanken, spitz wie eine nadel, einher mit deinen füßen und du greifst nach den gedanken, indem du sie an den flachen enden fasst und ihre spitzen zwischen deinen fingern hin und her rollst. dann zielst du auf die augen, die dem staub aufgesteckt sind und stichst zu. doch die augen sind fest und unnachgiebig und deine gedanken stumpfen mit jedem weiteren versuch ab.

dennoch brüllt die leere in dir zornig auf und plötzlich entzündet sich um dich ein ozean aus wogender schwärze und das nichts in dir schwappt über die lippen in deine hände, auf deine arme, auf deine füße. der strom versiegt nicht und die menschen um dich herum rutschen aus auf den schwarzen, rhythmisch erbrochenen wogen. nur du selber stehst fest und erbrichst jedes nichts aus jedem herzwinkel, jedes nichts aus jedem seelenwinkel. und um dich fallen die menschen um.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Dieser Mensch, der durch die Straßen kroch, bot einen jämmerlichen Anblick. Nicht so sehr weil er schäbig gekleidet war, das war er nicht. Er trug eine saubere Jeans, die nicht zu sehr um die dünnen Beine schlackerte und darüber ein Hemd, das von Waschflecken weitestgehend verschont geblieben war. Nein, es war seine Haltung. Der krumme Rücken, auf dem der Rucksack saß in den er die Pfandflaschen verschwinden ließ. Es war der gesenkte Blick, der es nicht wagte irgendetwas für eine längere Zeit zu fokussieren und der langsame Gang, der seinem noch jungem Alter nicht entsprechen wollte, irgendwie verzögert, beinah lahm.

Diesem Menschen also geschah etwas zutiefst unangenehmes, das mit nichts gewöhnlicherem begann, als mit einem Husten.

Als er sich nämlich die Hand vor den Mund hielt, beim Husten, wurde ein großer klumpen Schleim in seine Hand geschleudert. Zu allem Unglück hatte der Mensch gerade nichts dabei um den widerlichen, gelben Brocken von seiner Handfläche zu entfernen und da er dieselbe nicht an seiner Kleidung abwischen wollte, kam er dazu eine alte Frau anzusprechen, die gerade an ihm vorbeiging, ob sie nicht ein Taschentuch habe, mit dem er seine Hand reinigen könne.

Die Angesprochene kramte in ihrer etwas altmodischen Tasche, fand eine Packung Taschentücher und reichte sie ihm. Dann griff sie erneut in ihre Tasche und förderte etwas Kleingeld aus derselben, das sie dem verwundertem Menschen in die Hand drückte. „Sie laufen hier so seltsam herum“ sprach sie nur und ließ ihn stehen.

Nach einer Weile der Verwunderung, krochen plötzlich dunkle Gedanken durch das Gemüt dieses Menschen. Ob er wirklich so schäbig aussähe, fragte er sich. Ob er denn mit einem Bettler verwechselt werden müsse, ob er den Anschein erwecke, so bedürftig zu sein.

Mit solchen Gedanken, die wie schweres Gepäck auf ihm lasteten, kroch er nach Hause, in seine kleine, einfache Wohnung.
Er nahm die noch fast volle Packung Taschentücher aus seiner Hosentasche und platzierte sie mittig von sich auf dem Tisch.

Je länger es diese Taschentücher anstarrte - und er starrte sie lange an, desto sicherer glaubte er, sie verhöhnten ihn. Er hatte den Drang sie wegzuwerfen, als würfe er alle die dunklen Gedanken mit ihnen weg. Es war als riefen sie ihm zu; „du bist ein Nichts, ein Penner.“ Und immer wieder; „du bist ein Nichts.“ „Ein Nichts, ein Nichts.“

Alle seine Zweifel, die er so lange unterdrückt hatte, seine Scham und seine Trauer über die Situation, in der er sich befand, kulminierten in dieser einen Packung Taschentücher. Alle diese Gedanken, die er sich machte, klebten wie Dreck an seinem Körper. Da zog der junge Mensch sich aus und sprang unter die Dusche. Als wollte er all diesen Dreck von sich abwaschen, alle diese Gedanken die an seiner Haut klebten, die ihn einhüllten wie ein speckiger Mantel, ihm die Luft zum atmen nahmen und die ihm als unangenehmer Geruch in der Nase lagen.

„Du bist ein Nichts“ schallte es bis unter die Dusche zu ihm und immer wilder begann er sich zu waschen und zu schrubben. Doch der Lärm, der bis unter die Dusche dröhnte und der von dieser einfachen Packung Taschentücher ausging, ebbte nicht ab. „Du bist ein Nichts“

Als er schließlich aus der Dusche trat, noch immer dreckig von dunklen Gedanken, sich abgetrocknet und eingekleidet hatte, starrte er erneut auf den Tisch auf dem die Tücher lagen. „Sie müssen fort“, sagte er sich. Der Mensch griff sie, ging aus der Wohnung und warf sie fort, weit weg, in das Gebüsch vor dem Haus. Sie sind fort, dachte er, sie sind fort …

Ach, verdammt! Er musste sein Leben ändern.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
weiß ist geläutertes schwarz
schwarz ist schuldig gewordenes weiß
das tut nicht zur sache denn
mein linker schuh ist die kunst

ich hüpfe in meinen gedichten
ich bin ein hüpfender fleischballen quatsch
das tut nicht zur sache denn
mein rechter schuh ist ein banause

trete ich mit ihm auf
rollt mein fester stand durchs gedicht
und um sich zu erwürgen schnürt
sich mein linker schuh erschrocken zu

überhaupt im licht besehen führt
mich das alles zu der these
mein rechter schuh bist leser du
und was bleibt ist ein reim auf chinese
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
… dass es ein Unter-dem-Ich sein, ein in der Folge davon empfundenes, nicht länger Über-das-Ich hinausreichendes und einem bestimmten Wert zuzitterndes, oder sagen wir besser, - dass es ein Zurückticken aller inneren Uhren gibt, weiß jene stets hoch Stehende nicht. Die Gipfel, ihre Gipfel, gewölbt und gemacht aus dem biegsamen und doch festen Stoff ihrer Seele, sind Ich verseuchte Plateaus. Die dünne Luft jener Gipfel ein selten von Schwermut und Schweigsamkeit durchdrungenes Ideal …

Es war ihr Krieg gegen einen Schwerpunkt, der doch nicht, wie man meinen könnte, zu einem Leicht, oder gar einem Geistpunkt wurde, nein, er verkam zu einem Schwertpunkt. Einem Punkt, der Übergehen muss, wo es doch von Not wäre zu Übersteigen, um hinab zu finden ... sie war nie groß!
 
G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Hallo Patrick,

ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich mal in deinem Tagebuch vorbeischaue und auch eine Seite davon beschreibe. Ich möchte nur auf die Aphorismen in #1 und #2 eingehen, denn die restlichen Beiträge lese ich später.

Ich liebe intelligente Aphorismen (z.B. von Ebner-Eschenbach) und deswegen sprechen mich die deinen sehr an. So z.B. dein erster:

mit dem wachsenden glauben daran, dass alleine die expertenmeinung legitimation für politisches handeln sei, wächst auch der unglaube an die mündigkeit des einzelnen bürgers
In meinen Augen ist das eine gute Diagnose unserer Zeit. Ich kann kein Anfangsdatum festmachen, wann diese Entwicklung begonnen hat, aber es war wohl ein schleichender Prozess, der mittlerweile immer neue Höhepunkte erreicht. Ich habe ein Zitatebuch, in das ich mir besonders gelungene Zitate schreibe. Hast du etwas dagegen, wenn ich mir diesen Aphorismus dort hineinschreibe?

Auch sehr gut finde ich folgende Sentenz:

kinder sind schlechte diebe, sie stehlen den charakter ihrer eltern, nur um ihn später als last zu empfinden.
Allerdings gilt dies denke ich nur für Kinder, die kein Glück bei der "Wahl" ihrer Eltern hatten. Dann aber umso mehr.

Ich habe noch zwei grammatische Anmerkungen:

der idealismus eines reisenden, muss in seinen koffer passen.
Ist das Komma inhaltlich beabsichtigt, denn grammatisch ist es falsch?

der größte grund zur heiterkeit ist doch dies, wie oft man sich überlebt hat, obwohl andere einen zu grabe trugen.
Hier stimmt etwas nicht. Ich glaube, wenn du das Wort dies entfernst, geht es grammatisch wieder auf.

Insgesamt sehr gern gelesen!

Liebe Grüße
Frodomir
 
G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Nachtrag: Ne, irgendwie ist es immer noch nicht korrekt, wenn man das dies entfernt... wie wäre es damit:

der größte grund zur heiterkeit ist doch der, dass man sich jedes mal überlebt hat, wenn andere einen zu grabe getragen hatten.

Liebe Grüße
Frodomir
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
der größte grund zur heiterkeit ist doch dies, wie oft man sich überlebt hat, obwohl andere einen zu grabe trugen.
Hallo @Patrick Schuler, hier werde ich öfter vorbeikommen und lesen und hängenbleiben, den Worten nachsinnen ...
Der größte Grund zur Heiterkeit ist doch jener: Wie oft man es überlebt hat, dass andere einen zu Grabe getragen haben. ;)
Jou. Findet meine vollste Zustimmung.
 



 
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