Der

Nicht in Ehren ergraut

Seit vielen Jahren beschäftigt mich die Äußerung eines, dann doch wohl nicht in „Ehren ergrauten“ älteren Mannes, die dieser nach einer Feier nach dem Genuß einiger Biere und Schnäpse in eine Unterhaltung über den Nationalsozialismus einwarf: „Ich habe heute immer noch Angst, daß sie mich holen.

Der einem angeborene oder anerzogene Takt, bzw. der Respekt vor älteren Leuten, oder auch einfach die Angst, den älteren Mann bloßzustellen, hat mich davon abgehalten, herauszufinden, wovor der Mann Angst hat. Es bleibt also nur, Spekulationen anzustellen. Fühlt sich der ältere Mann schuldig, weil er damals nichts unternommen hat oder vielleicht nichts unternehmen konnte, aufgrund seiner Stellung und der damit verbundenen Möglichkeiten der Einflußnahme, oder gehört er zu den vielen, die heute noch gesucht werden, weil sie damals schwerwiegende Schuld auf sich geladen haben? Ist er vielleicht ein kleiner, verkleideter Dr. Mengele, von denen noch zu viele unter uns sind? Ich stelle mir seit einiger Zeit die folgende Geschichte vor:

Der „nicht in Ehren ergraute“ ältere Mann war Mitglied im Wachpersonal eines kleineren Konzentrationslagers, über dessen Grausamkeiten bis heute noch kein Chronist berichtet und für das noch kein Gericht über Schuld und Unschuld entschieden hat.

Auf einem seiner Wachgänge ist ihm und einem zweiten Wachmann abends ein kleines Kind über den Weg gelaufen, das - Kinder sind eben so - der Mutter weggelaufen war, um eine verlorengegangene Murmel zu suchen, dem Untergang der Sonne zuzusehen, Blumen zu pflücken, um sie der Mutter zu schenken, oder vielleicht auch nur, um mit 2 netten Wachmännern ein Gespräch zu führen.

Das Gespräch mag am Anfang ganz normal begonnen haben, dann hat jedoch der „nicht in Ehren ergraute“ ältere Mann - oder auch der zweite Wachmann - etwas von einer Wanze gesagt, die man beim Desinfizieren vergessen habe. Ein Wort hat das andere ergeben, man hat beschlossen, an diesem Abend mit der nicht wiedergefundenen Murmel, dem schönen Sonnenuntergang und den noch nicht gepflückten Blumen, eine private „Endlösung“ an diesem Kind zu praktizieren.

Vielleicht hat der zweite Wachmann oder „der nicht in Ehren ergraute“ ältere Mann den ersten Schlag geführt. Anfangs hat das Kind noch an ein Spiel geglaubt, hat die Murmel, den Sonnenuntergang und die Blumen vergessen und gedacht, jetzt etwas zu erleben, was es nachher voller Stolz der Mutter erzählen konnte.

Doch nachdem die Männer das Spiel zu Ende gespielt hatten, gab es nichts mehr zu erzählen. Es gab nur noch zerrissene Kinderkleidung, blutige Stiefel, blutige Hände, blutige Murmeln, blutige Sonnenuntergänge und blutige Blumen - und es gab den kleinen Bruder des Mädchens, der das Spiel der beiden Männer mit seiner Schwester mit angesehen hatte.

Erst hatte er eingreifen wollen, aber dann hatte er sich an viele andere, ähnliche Spiele erinnert, die er im Lager gesehen hatte, und an die Brüder, Väter, ;Mütter, die versucht hatten, das Spiel zu unterbrechen und die dann selbst hatten mitspielen und mitsterben müssen.

So hatte er sich darauf konzentriert, sich die Gesichter der Spielkameraden seiner Schwester einzuprägen, im Besonderen das Gesicht des „nicht in Ehren ergrauten“ älteren Mannes, da dieser während des Spiels die meiste Zeit in seiner Blickrichtung gestanden hatte. Die Linien dieses Gesichts hatten sich in sein Gedächtnis eingegraben, wie die Inschrift in eine Marmorplatte. Er hatte in diesem Gesicht die Lust am Spielen, die Ekstase gegen Ende des Spiels und am Ende des Spiels auch so etwas wie Entsetzen gesehen - doch da lag seine Schwester bereits, des Spielens müde, zwischen blutigen Murmeln, blutigem Sonnenuntergang und blutigen Blumen - doch das alles konnte sie der Mutter nicht mehr schenken. Der Bruder aber bewahrte das Geschenk seiner Schwester ein Leben lang, immer auf der Suche nach dem „nicht in Ehren ergrauten“ älteren Mann, um ihm endlich das Geschenk seiner Schwester zurückzugeben.

Ich stelle mir weiter vor:

Der „nicht in Ehren ergraute“ ältere Mann hat inzwischen die üblichen Hoch’s und Tief’s erlebt, ist Pensionär und genießt , was man gemeinhin den wohlverdienten Ruhestand nennt. Er hat einige Enkelkinder, die sich gern von ihm von früher erzählen lassen. Alles erzählt er ihnen, er breitet den Schatz seiner Erfahrungen aus, wie alte in Ehren ergraute Männer das tun, um ihren Kindern und Enkelkindern den Weg ins Leben zu ebnen. Von allem erzählt er seinen Enkelkindern - nur nicht von Murmeln, Sonnenuntergängen und - Blumen pflückt er nicht mit ihnen, die sie ihrer Mutter schenken könnten.

Eines Abends geht dann er „nicht in Ehren ergraute“ ältere Mann mit seiner Enkeltochter spazieren und wird von einem fremden Mann zu einem Spiel zu Dritt aufgefordert. Der alte Mann kennt das Gesicht des fremden Mannes nicht, der jedoch hat das Gesicht des „nicht in Ehren ergrauten“ älteren Mannes viele Jahre lang, tief in sein Gedächtnis eingegraben, mit sich herumgetragen.

Der alte Mann erkennt zwar dann das Spiel, das ihm vorgeschlagen wird, verbittet sich aber lautstark die, wie er sagt, Belästigung des fremden Mannes und läßt diesen einfach stehen. Seinem Enkelkind, das ihn nach dem Vorfall befragt, sagt er etwas von „ungebührlichem Benehmen“ und „man könne nicht einfach wildfremde Leute ansprechen, um diese zu irgendwelchen Spielen zu überreden“.

Als der „nicht in Ehren ergraute“ ältere Mann und sein Enkelkind im Licht eines wunderschönen Sonnenuntergangs von ihrem Spaziergang zurückkehren, sehen sie, daß die Tochter des alten Mannes und die Mutter des Enkelkindes in der Zwischenzeit Besuch gehabt hat. Dieser Besucher hat ihr endlich nach langen blumenlosen Jahren Blumen und auch Murmeln gebracht, mit denen sie nie spielen durfte.

Und nun liegt sie selbst, zerzaust und zerrissen, ermüdet wie nach einem wilden Spiel, zwischen blutigen Murmeln und blutigen Blumen, im Licht eines blutroten Sonnenuntergangs - auf ihrem Gesicht ein mit Verständnis gemischtes Entsetzen, so als hätte ihr der Besucher am Ende des Spiels doch noch die Spielregeln erklärt, die er vor langen Jahren von dem „nicht in Ehren ergrauten“ älteren Mann kennengelernt und so lange in seinem Gedächtnis bewahrt hatte.
 

Charima

Mitglied
Hallo, Elmar!

Mit Grauen und Entsetzen habe ich Deinen Text gelesen und gedacht: Ja, genau so ist es! Immer noch. Heute noch. Nicht nur mit Tätern und Opfern der Nazizeit. Bloß: Wer ist wie in der Lage, den Wahnsinn zu beenden? Wann werden wir Menschen endlich aus der Geschichte lernen? >>> Ich verkneife mir hier an dieser Stelle nur schwer das Wort "Männer" statt Menschen, das ich eigentlich benutzen würde, da Kriege bisher immer zum größten Teil von Männern geführt worden sind und noch geführt werden. Aber ich will ja nicht verallgemeinern.

Allerdings habe ich auch gedacht, daß dieser Mann durch seine erste Bemerkung genausogut in die andere Rolle passen würde. Daß er das Grauen am eigenen Leib erfahren hat und immer noch Angst davor empfindet, daß er "geholt" werden könnte. Sei es, daß er sich immer noch davor ängstigt, im Konzentrationslager zu landen, sei es, daß er die Formen natinalsozialistischer Gewalt in ihrer heutigen, neuen Form fürchtet.

Den Gruß der strahlenden Mittagssonne,

Charima
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
kann

mich charima nur anschließen und noch hinzufügen, daß selbstjustiz keine lösung ist. übrigens halte ich den krieg, den die usa gegenwärtig führen, auch für eine art selbstjustiz. habt ihr meine türmchen weggehauen, hau ich euer land kaputt - dass ist doch kindisch! lg
 



 
Oben Unten