Der Ahorn und die Tänzerin

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Mariaan

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Mit Einsetzen der blauen Stunde kam sie die Straße hinunter, schritt über die Wiese und blieb unter dem großen Ahorn stehen. Sie stellte ihre Tasche ab, trat ein paar Schritte vom mächtigen Baumstamm weg und blieb regungslos stehen, die Füße geschlossen, aufrecht, mit geschlossenen Augen. Zu einer weiten, hellen Hose trug sie eine weiß gemusterte Tunika, die ihre wunderschönen glänzenden braunen Locken betonte. Ihre Füße steckten in Ballerinas.

Der Ahorn war verzückt. Wie schön, dass die endlich wieder da war. Er hatte sie schon so vermisst.

Mit dem Einatmen nahm sie beide Arme über die Seite nach oben, mit dem Ausatmen ließ sie sie langsam wieder sinken. Die junge Frau wirkte ganz in sich versunken. Nach einigen Wiederholungen, auf und ab, nahm sie ein Handy aus ihrer Tasche, schaltete es ein und leise Flötentöne begannen über die Wiese zu gleiten. Dazu setzte sanfte Streichmusik ein.

Langsam begann die zierliche Frau zu tanzen. Sanft wiegte sie hin und her, setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen und schien dann über die Wiese zu schweben. Sie drehte Pirouetten, sprang hoch in die Luft, wirbelte um den stattlichen Stamm des Ahorns herum. Große und kleine Schritte wechselten sich ab, mal waren ihre Arme weit ausgebreitet, dann hoch über dem Kopf ausgestreckt. Ihre Locken wirbelten um ihren Kopf. Sie schien geradezu dahin zu fliegen, verschmolzen mit der Musik.

Der Baum war berührt und ergriffen. Seine Blätter rauschten leise. Wie wundervoll. Tanzen, mit ihr tanzen, das würde er so gern. Er sah sich mit ihr, dieser grazilen jungen Frau, gemeinsam über die Wiese tanzen, sich mit ihr und um sie drehen. Er würde sie halten, mit seinen Ästen ihre Arme, wünschte sich sie mit seinen Blättern zu umfangen, schützen, beschützen.

Immer weiter tanzen, schweben, fliegen zu der klangvollen Musik, mit ihr über die Wiese, den Weg, hinunter bis zum Fluß tanzen. In seiner Vorstellung fühlte er sich ganz leicht. Seine Äste und Blätter vibrierten vor Sehnsucht und schwangen leicht hin und her. Wenn da doch nicht seine großen Wurzeln wären, die ihn tief im Boden halten. Und sein Stamm, groß und kräftig, der ein Tanzen und Schweben unmöglich macht. Er seufzte.

Die Tänzerin begann zu trudeln, beugte sich vor, berührte mit den Fingerspitzen den Boden. Dann schwang sie ihre Arme hoch. Die Musik wurde langsamer, das Stück klang aus. Ihre Bewegungen wurden ruhiger, sie schlang die Arme um sich und blieb auf Zehenspitzen stehen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Langsam drehte sie sich um, umarmte den Stamm des Ahorns. Ihre Arme reichten nicht einmal zur Hälfte um seinen Stamm herum. Er spürte ihr Herz an seiner Rinde schlagen, nahm die Wärme ihres Körpers wahr.

Jäh sank sie zu Boden und begann zu weinen. Wie nach jedem ihrer Tänze liefen ihr nun die Tränen über das Gesicht und tropften vor seinem Stamm in den Boden. Es schmerzte ihn sie wieder so zu sehen.

Nach einer Weile richtete sie sich langsam auf, schmiegte ihren Rücken in eine Wölbung seines Stamms, richtete den Blick nach oben und sah den Mond durch die leicht raschelnden Blätter scheinen. Sie atmete tief ein und aus. Der Tränenstrom versiegte. Dann hörte er sie flüstern: „Danke. Danke, dass du meine Traurigkeit aushältst. Danke, dass du hier stehst und mich mit deinen Blättern und Ästen behütest. Hier bei Dir fühle ich mich beschützt und geborgen. Danke, dass du so fest verwurzelt bist, ich die Stärke deines Stammes spüren darf, deine Stärke, die mir Kraft und Sicherheit gibt. Du bist mein Halt, wenn ich mich an dich lehne und dich umarme.“

Der Ahorn war tief berührt und ließ behutsam ein paar seiner Blätter auf die Tänzerin hinunter schweben.

Bedächtig stand die junge Frau auf, nahm Handy und Tasche und ging über die Wiese zur Straße. Dort drehte sie sich noch einmal um, blickte lächelnd auf ihren Ahorn, ging die Straße hinauf und verschwand in der Dunkelheit. Ihre Schritte hörten sich leicht an. Ein Ahornblatt lag in ihren braunen Locken.

Der Ahorn raschelte leicht mit seinen Blättern.
 

Rachel

Mitglied
Diese einfühlsame Geschichte las ich zur Unzeit, zu müde für eine Reaktion. Zurück blieb eindrucksvoll die Idee, mal mit einem einzelnen Baum Kontakt aufzunehmen, mal anders Waldbaden. Hat was! :)
 

Blue Sky

Mitglied
Hallo Mariaan,

Die Bilder, die du mir hier spendierst, schieben mich auf meinem Stuhl umher.
Wecken irgendwie das Sinnen nach ursprünglichem Halt und unumstößlicher Freundschaft.

Einiges hättest du gar nicht umständlich ausführlich beschreiben müssen, einige wenige Worte sind Zeichnungen allein.;)


LG
BS
 

Bo-ehd

Mitglied
Der Test geht weit über "mein Freund, der Baum" hinaus, erinnert mich vielmehr an die Baum-Märchen des Ostens (Sibirien, China, Japan).
Gruß Bo-ehd
 



 
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