Der alte Brunnen

Ich habe mir mal vorgenommen der Politik in meinen Erzählungen fern zu bleiben. Nun stelle ich aber fest, dass das nicht immer möglich ist, wie zum Beispiel bei dieser Geschichte.

Die Geschichte begann eigentlich nach dem ersten Weltkrieg, aber es würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen, um sie vollständig zu erzählen. Deswegen werde ich mich auf ein paar Eckdaten beschränken müssen.

Der Familie Schönfeld- einer großen Sippschaft- wurde das Leben, dass die russische Regierung ihnen aufzwang zu kompliziert. Sie lebten in der Ukraine auf der Halbinsel Krim, wohin ihre Vorfahren dem Manifest der Zarin Katharina der Zweiten gefolgt waren. Die deutschen Siedler hatten ihre eigenen Schulen, Krankenhäuser, Läden und Kirchen. Sie durften ihre Religion so ausleben wie sie es auch in ihrer deutschen Heimat getan hatten und die jungen Männer mussten keinem Wehrdienst nachgehen.

Nach der Niederlage der deutschen Angreifer, wurden den Siedlern alle Privilegien gestrichen; sie durften kein Deutsch mehr in der Öffentlichkeit sprechen, der Wehrdienst wurde zur Pflicht gemacht, in ihren mennonitischen Gemeinden sollte ein Pastor aus einer Orthodoxen Kirche predigen. Dies alles und noch viele andere Schikanen führten dazu, dass Familie Schönfeld ihrer zweiten Heimat den Rücken kehrte und nach Sibirien auswanderte. Ihre Hoffnung beruhte darauf, dass die russische Hand nicht bis in die sibirischen Weiten reichen würde. Bald aber stellte sich heraus , dass sie sich geirrt hatten, denn im Jahr 1935 begann die Enteignung.
Familie Schönfeld, die dank einer guten Planung, aus der Ukraine mitgebrachten Wirtschaftsmaschinen und Kapital ,viele Ländereien erworben und gute Erträge erwirtschaftet hatten mussten alles hergeben; Getreide, Kartoffeln, Technik, Pferde, Kühe und ein Teil ihres Hauses. Aus den beschlagnahmten Zimmern wurde erst eine Grundschule und später ein Getreidespeicher eingerichtet. In den Stallungen wurden die Pferde der Gemeinde untergebracht und ab dem Tag dürfte Familie Schönfeld auch kein Wasser mehr aus ihrem Brunnen holen, das Wasser (der Brunnen führte nur noch wenig Wasser) wurde für das Tränken der Pferde gebraucht. Im Jahr 1938 begann die große Stalinistische Säuberung der erst die deutschen Männer und später auch die Frauen zum Opfer fielen. Herr Schönfeld wurde in den ersten Monaten des Jahres ins Gefängnis gebracht und noch vor Ostern erschossen. Frau Schönfeld bewohnte mit ihren Kindern ein kleines Zimmer und führte ein armseliges Dasein.

Während des zweiten Weltkrieges, im Jahr 1942, brach auf dem Grünstück der Familie Schönfeld ein Brand aus und fraß das Anwesen bis auf die Grundmauer nieder. Der alte Brunnen, von dem nur noch der Schacht übrig war, wurde mit einer Blechplatte zugedeckt und bald , nach dem der Wind genug Staub und Sand über die Platte geweht hatte, vom Unkraut überwuchert.

Maria, ein siebenjähriges Mädchen saß in der Küche auf der Ofenbank und versuchte aus alten Lumpen eine Puppe zu basteln. Eine richtige Puppe besaß sie nicht. Aus einem weißen Taschentuch, mit Watte gefüllt, wurde ein Köpfchen und aus einem schwarzen Lappen der Körper. Plötzlich spürte Maria, dass sie nicht allein in dem Raum war, da war noch jemand, wobei sie keinerlei Geräusche wahrgenommen hatte. In der Küche an der Tür stand eine schmächtige Gestalt, die kaum größer als Maria war und wären da nicht die großen traurigen Augen gewesen, hatte man sie als einen Teenager ansehen können. Es war Marias Tante Irma. Tante Irma sagte nichts, sie schaute wie immer wenn sie zu ihrer Schwester ins Haus kam, und das war sehr selten, auf ihre Füße. Sie trug alte ausgetretene Filzstiefel, einen schwarzen Rock, deren Saum bis auf den Schaft der Stiefel fiel, eine wattierte Jacke, die es in jedem Dorfladen zu kaufen gab und ein beiges Kopftuch.

Maria rief nach ihrer Mutter, die in der großen Stube an der Nähmaschine saß. Marias Mutter Ulrike fuhr ihre Schwester mit der Frage:,, Was willst du?“ harsch an. Tante Irma meinte, ohne die Augen von den Füßen zu heben, dass sie Wasser holen müsse. Maria sprang auf und rief:,, Mama, ich gehe“, zog hastig ihre Stiefel an, schlug ein großes Wolltuch um ihren Körper und verließ mit Tante Irma das Haus. Maria mochte ihre Tante, es war ihre Lieblingstante, warum ihre Mutter so kalt zu ihr war konnte Maria nicht begreifen, denn zu den anderen Verwandten war sie immer nett, lud sie Sonntags zum Kaffee ein und freute sich über ihren Besuch. Nur Tante Irma behandelte sie wie eine Stiefschwester.

Hendrik, Tante Irmas kleiner Sohn, auf den Maria aufpasste, wenn seine Mutter Wasser holen musste, war ein fröhliches, aufgewecktes Kerlchen. Am liebsten spielte er mit seinem einzigen Spielzeug, einer Peitsche, die seine Mutter ihm aus einer Rute und einem Lederriemen gezimmert hatte. Die Peitsche wurde flexibel eingesetzt, mal war sie ein Pferd auf dem Hendrik in den Süden ritt, mal ein Gewähr mit dem Diebe gestellt wurden.

Im Dorf hatte keiner fließendes Wasser, denn die Rohre hielten dem Frost von Minus 50 Grad nicht stand. Tante Irma musste gut einen Kilometer zum Brunnen hin und zurücklegen, um Wasser für ihre Tiere und für den Haushalt ranzuschaffen. Die meisten Familien hatten sich Schlitten mit großen Behältern für solche Zwecken angeschafft, Tante Irma besaß jedoch nichts davon und trug das Wasser mit zwei großen Eimern Heim. Und wenn es draußen dunkel wurde, und es wurde im Januar schon gegen 17 Uhr dunkel, kletterten Hendrik und Maria auf das Fensterbrett und pusteten so lange auf die vereiste Fensterscheibe bis ein kleines Guckloch entstand. Sie schauten dann abwechselnd durch das Loch, um zu sehen ob Tante Irma im Anmarsch war, denn nach dem letzten Gang kam sie immer ans Fenster und winkte den Beiden zu. Danach gab es für Hendrik kein Halt mehr, er hopste vom Fensterbrett und eilte zur Tür, um seiner Mutter in die Arme zu laufen. In solchen Momenten strahlte Tante Irmas Gesicht, sie lachte glücklich und drückte ihren Sohnemann an sich, nur in ihren Augen jedoch lag Trauer.

Im Frühjahr nach der Schneeschmelze war auf Tante Irmas Grünstück hinter dem Haus ein tiefes Loch entstanden. Marias Mutter verbot ihren Kindern in die Nähe des Loches zu gehen. ,,Der alte Brunnen der Familie Schönfeld hatte sich gemeldet“ erklärte sie. Maria, ein neugieriges Mädchen hatte sich dann doch an den Rand des Loches gewagt und nach unten geschaut. In der Tiefe lagen Knochen; große und kleine Knochen und zwischen diesen Knochen lag ein kleiner runder Schädel, nicht viel größer als Marias Faust und sah aus wie ein Babykopf.

Abends erzählte Maria, unter der Angst eine Rüge zu beziehen, über das kleine Köpfchen, das sie im Brunnen gesehen hatte.,, Unsinn“, führ ihr Vater ihr über den Mund ,,früher wurden die verendeten Tiere in den Brunnen geworfen, weil der ja ausgetrocknet war“. Maria widersprach ihm, sie bestand darauf einen Kindeskopf gesehen zu haben. Erst als ihre Mutter meinte, dass es höchstwahrscheinlich ein Porzellan Kopf von einer Puppe sein könnte, rückte Maria von ihrer Behauptung ab. Maria hatte oft davon gehört , dass viele Siedler richtige Puppen mit Porzellanköpfen aus der Ukraine mitgebracht hatten und somit könnte es tatsächlich ein Puppenköpfchen gewesen sein.

Und als am nächsten Tag ein Bagger anrückte und den Brunnenschacht mit Erde zuschüttete und einebnete war für Maria die ganze Sache vergessen.

Irma hatte Bauchschmerzen, dem Bauchweh waren starke Rückenschmerzen vorausgegangen und nach dem der Rückenschmerz etwas nachgelassen hatte und Irma aufatmen konnte, begann das Ziehen im Unterleib. Das Ziehen wuchs zu einem nie dagewesenen Schmerzen an. Irma weinte, sie wusste nicht weiter, wer konnte ihr helfen, wohin sollte sie gehen? Einen Arzt gab es im Dorf nicht und zu Schwester Ricke konnte nicht gehen. Als Irma nicht mehr gehen und liegen konnte, kroch sie auf Knien durch das Zimmer, biss die Zähne zusammen, um die Schreie zu unterdrücken. Nach ihrer Schätzung war es zu früh für eine Geburt, die sollte erst in sieben oder acht Wochen erfolgen, aber ganz sicher war dieser Termin nicht, denn sie hatte anfangs nicht gewusst warum ihr morgens immer übel war.

In der Zeit, als im Land der Wirrwarr der Enteignungen tobte, wurde in der Familie Schönfeld ein Mädchen geboren. Das Kind kam als Frühchen zur Welt. Der Arzt, der die Hausgeburt begleitet hatte, hatte gemeint, dass das Kind nicht lebensfähig sei, sollte es doch überleben, würde es schwer behindert sein. Das Neugeborene bekam den Namen Irma und musste bis zu ihrem dritten Lebensjahr von ihrer Mutter gestillt werden, denn sie vertrug keine feste Nahrung. Auch das Laufen und Sprechen lernte sie viel später als alle anderen gleichaltrigen Kinder. Mit 10 Jahren wurde sie eingeschult und lernte in den darauffolgenden Jahren bis hundert zu zählen, ihren Namen zu schreiben und einzelne Wörter zu lesen. Das Lesen von Texten, das Schreiben von längeren Sätzen, so wie das Einmaleins blieb für Irma unerreichbar. Der Lehrer hatte irgendwann mal zu Frau Schönfeld gesagt sie solle doch das Kind von den Qualen erlösen und sie aus der Schule nehmen. Sie solle Irma die Haushaltsführung beibringen, denn mehr wäre von dem Mädchen nicht zu erwarten. Frau Schönfeld fiel dieser Schritt sehr schwer, denn in ihrer Familie waren alle Kinder sehr begabt.

Frau Schönfeld hatte nach dem der Brand ihres Anwesens für ihre Familie ein kleines Häuschen auf dem alten Fundament gebaut und als ihre älteste Tochter Ulrike, genannt Ricke, geheiratet hatte, noch ein paar Zimmer angebaut. Kurz nach Irmas achtzehntem Geburtstag verstarb ihre Mutter, die aber vorher ihrer Tochter Ulrike das Versprechen abgenommen hatte, sich um Irma zu kümmern.

Irma kam mit dem Haushalt gut allein zurecht, brauchte aber jemanden der für sie die Arbeitsabläufe plante, einer der ihr sagte was sie zuerst und was später erledigt werden musste. Nach der Beerdigung ging Irma arbeiten, Ricke hatte ihr einen Job gesucht und eine Kollegin, die bereit war Irma unter ihre Obhut zu nehmen. Die Kollegin, eine ältere Frau, klopfte jeden Morgen an Irmas Fenster und dann gingen sie zusammen zur Arbeit. Für Irma tat sich eine neue Welt auf ; sie fühle sich gebraucht, hatte Verantwortung zu tragen und als sie ihren ersten Lohn in den Händen hielt, auch noch erwachsen und klug. Ihr ganzes Leben lang hatte man sie als ,,Dummchen" beschimpft und nun konnte sie Allen beweisen, dass dem nicht so war.

Dann musste Ricke ins Krankenhaus und das Schicksal nahm seinen Lauf. Abends kam Helmuth, Rickes Ehemann zu ihr in die Wohnung, sie hatten zusammen gegessen und dann hatte Helmuth ihr nette Worte gesagt, er hatte sie für das leckere Essen gelobt und gemeint, dass sie ein gescheites und hübsches Mädchen sei. Am nächsten Abend hatte er eine Flasche Wein mitgebracht und Irma überredet davon zu probieren. Irma, die zuvor noch nie Alkohol getrunken hatte fing bald an zu lachen und zu tanzen, bis ihr schwindelig wurde. Morgens stellte sie mit Entsetzen fest, dass sie und Helmuth nackt im Bett lagen, als ihre Kollegin am Fenster klopfte riet Helmuth ihr keiner Menschenseele von dieser Nacht zu erzählen. Denn sonst würde sie Freiwild für alle Männer im Dorf werden und Ricke würde nie mehr mit ihr sprechen. Und außerdem, wäre das Ehebrechen eine schwere Sünde.

Auch später, als ihre Schwester schon aus dem Krankenhaus da war, ließ Helmuth keine Gelegenheit aus mit Irma intim zu werden. Sie hatte sich geweigert, kam aber gegen einen Mann wie Helmuth nicht an. Nach ein paar Monaten merkte Irma, dass mit ihr etwas nicht stimmte, da war die anhaltende Übelkeit, das Ausbleiben der Blutungen, die größer gewordene Brüste. Und als auch noch der Bauch anfing zu wachsen wusste sie, dass sie schwanger war. Sie trug weite Kleider und Jacken um ihren Körperumfang zu kaschieren, es dürfte keiner erfahren, dass sie in anderen Umständen war.

Und dann waren diese, kaum auszuhaltende, Schmerzen da und zerrissen ihren Leib. Gegen Morgen, da spürte sie plötzlich, dass etwas zwischen ihren Beinen hing, und als sie die Nabelschnur mit einer Schere durchtrennt hatte , hielt sie ein lebloses Wesen in den Händen. Dann verlor sie das Bewusstsein. Als sie zu sich kam, stand Helmuth im Zimmer und wickelte etwas in ein altes Tuch ein und trug es fort, Ricke hatte den Ofen angeheizt und wusch Irma den Schweiß und das Blut vom Körper, zog ihr frische Sachen an und brachte sie ins Bett. Dann wischte sie den Fußboden und verbrannte anschließend die blutverschmierten Lappen, dabei sagte sie kein einziges Wort.

Nach drei Tagen Bettruhe, wagte Irma sich aufzustehen und etwas zu essen, dann, nach acht Wochen, als sie wieder im Stande war ihren Haushalt allein zu führen, zog Ricke mit ihrer Familie aus. Sie hatten auf der anderen Straßenseite am Ende des Dorfes ein Haus gekauft und Irma bekam einen neuen Nachbar. Im Frühjahr ging Irma wieder zur Arbeit, aber über das, was in der Januarnacht mit ihr geschehen war, schwieg sie eisern. Irma freundete sich mit dem neuen Nachbarn, einem alleinstehenden Mann, der von seiner Frau sitzen gelassen worden war, an. Sie kochte für ihn und er half ihr im Stall aus, abends saßen sie oft im Garten und genossen den Feierabend. Irgendwann hatte er ihr vorgeschlagen zusammen zu ziehen, sie aber wünschte sich eine kleine Hochzeitsfeier.

Am Hochzeitstag, Irma stand am Fenster und wartete auf den Bräutigam, sie trug ein weißes Kleid, das eine Schneiderin für sie angefertigt hatte und war glücklich. Das erste Mal, nach dem Tod der Mutter, hatte sie jemanden an ihrer Seite dem sie vertrauen konnte. Dieser Mann liebte sie, er liebte sie so wie sie war, mit allen ihren Problemen und Einschränkungen. Er hatte sie auch nicht danach gefragt wer ihr die Unschuld genommen hatte, aber womöglich lag es an dem Wein den sie ihm bereitwillig, vor ihrem Beischlaf eingeschenkt hatte. Draußen fiel der erste Schnee und deckte die schmutzige, mit Morast durchzogene Straße mit einer reinen Decke zu. Die Welt sah so friedlich , ja, fast feierlich aus, so ,als würde der Himmel Irmas Glück teilen wollen.

Nach einer Weile, ihr Freund ließ immer noch auf sich warten, ging Irma in seine Wohnung. Noch in der Tür wusste sie, dass ihr Glück dabei war in dem alten Koffer zu verschwinden. Der Mann, der mit ihr alt werden wollte saß im Anzug auf dem Stuhl und sah zu wie seine Ex-Frau die Sachen packte.

Jeder Tag danach war ein grauer Tag, ein Tag ohne Hoffnung und ohne Sonne, Irma wollte nicht mehr leben, aber das Kind in ihr wollte es. Nach der Geburt, diesmal geschah es im Krankenhaus , war sie ständig müde, daran änderte sich auch nach den ersten acht Wochen nichts. Sie hatte bloß noch so viel Kraft um sich um ihr Kind zu kümmern; sie halbierte ihren Kartoffelacker, schaffte ein Teil ihrer Nutztiere ab , erledigte im Haushalt nur das Nötigste. Sie lebte nur noch für ihren Hendrik, er war ihr Ein und Alles.

PS- Irma starb im Alter von dreiunddreißig Jahren. Ihre letzte Reise trat sie im weißen Hochzeitskleid an.

Hendrik wurde adoptiert.
 
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