Der alte Fasan

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Heute steht mir ein Treffen mit einem anerkannten Fasan bevor. Es handelt sich um eine Art Kultusminister der Fasanengesellschaft. Er möchte mit mir über meine außerordentliche Rolle unter den Fasanen sprechen. Der Kultusminister ist bereits etwas in die Jahre gekommen und hat einen freundlichen Blick, was für Fasane unüblich ist. Einzig seinen Mundwinkeln meine ich ein spöttisches Moment entnehmen zu müssen. Ich kann es nicht leugnen, mangelt es diesem großen Vogel letztlich an Respekt und Anstand? Also den wichtigsten Vorraussetzungen für ein gelingendes Miteinander?
“Ich habe das noch nie einen Menschen gefragt”, setzt der gut gewachsene Fasan an “aber bist du ein Mensch?”. “Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ein Mensch bin”, antworte ich. “Du hast dich unter uns Fasanen bewährt”, sagte der Fasan. “Dir ist nicht jedwedes Gefühl abhanden gekommen”, sein Gesicht wurde knallrot und auch ich lief wutentbrannt an. Der Fasan lächelte aufrichtig erfreut und räusperte sich brummend “Ich möchte dich in einige Geheimnisse einweihen, die wir Fasane über die Welt haben, hör nun gut zu.” Ich war sehr gespannt, Geheimnisse der Welt zu erfahren war stets ein aufrichtiges Interesse von mir gewesen, auch wenn meine Ängste mir dabei oft im Weg standen. “In der Unordnung der Formlosigkeit erkennt der Mensch oft das Chaos. Doch dies ist nicht ganz richtig und ein Blickwinkel, der aus der Kurzsichtigkeit des Menschengeschlechts rührt.”
Der Fasan machte eine Pause und schaute sich in dem Gebüsch, in dem wir saßen, um. Ich stellte aus Neugier heraus die Frage: “Wenn die Formlosigkeit kein Chaos ist, welchem Begriff oder Gleichnis entspricht sie denn dann?” “Oh, das hat viel mit Gefühl zu tun”, sagte der Fasan und sein Gesicht nahm gefestigte und kühle Züge an. “Doch lass es mich dir so sagen, da du dich als würdig erwiesen hast und uns auch so manches lehren konntest”. Der Fasan schaute auf ein einzelnes Ahornblatt, das am Boden lag und sprach: “Die Formlosigkeit gleicht einem Ei, auch der Mensch lebte einst in der Formlosigkeit dieses Eis. Dieser Mensch war der Urmensch und ein enger Freund der Fasane. Doch eines Tages brach der Urmensch das Ei, da er glaubte die Welt des Seienden kennenlernen zu wollen. So flossen Eiweiss und Eigelb in die Welt. Der Mensch und alle Tiere kamen durch ihr logisches Denken zur Sinneswahrnehmung, die auf dem Konzept der geradlinigkeit zwischen den punkten wahr und falsch begründet liegt. An diesem Tag aber starben Urmensch und Urtier."
Ich brach in Tränen aus, da ich die Wahrheit des Fasans in jedem Kubikmilimeter meines beschränkten Körpers zu spüren meinte. “Konnte der Urmensch fliegen?” fragte ich. “Naturellement” entgegenete der Fasan strahlend und verließ lachend das Gebüsch. Außerhalb des Buschs verkündete der Minister, dass das Gebüsch in dem wir uns unterhalten hatten, nun mir gehören würde und dass es nicht ohne Weiteres zu betreten sei. Ich blieb zurück und dachte über Worte des alten Ministers nach.
 



 
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