Der alte Mann am Bahnhof

Der alte Mann am Bahnhof

Der alte Mann steht an diesem Morgen am Fenster und schaut in den Regen hinaus. Der Himmel ist grau und es regnet Bindfäden. Normalweise wird man bei diesem Anblick schwermütig, aber der alte Mann war das schon so lange in seinem Leben, dass er es aufgegeben schwermütig zu sein, wie viele andere Dinge auch. Er ist weder glücklich noch unglücklich. Er ist einfach. Dabei ist er auch ein wirklich alter Mann. Er ist mittlerweile so alt geworden, dass er selber kaum noch weiß wie alt. Das soll aber nicht heißen, dass er senil oder dement sei. Oh, nein, sein Verstand ist noch so scharf wie eh und je. Sollte sich irgendeiner von den „Jungen“ je wagen sich mit ihm auf eine Diskussion einzulassen, könnte er jeden dieser Grünschnäbeln locker in die Tasche stecken. Doch auch das hat er aufgegeben. Was soll es auch- er kann die Welt nicht retten…dazu ist er einfach zu alt. Er ist so alt, dass er manchmal denkt, der alte Schnitter hat ihn einfach vergessen. Er hat bis jetzt alle geholt, die der alte Mann kannte.

Eines hat er allerdings noch nicht aufgegeben: er geht regelmäßig auf den Bahnhof um Züge kommen und gehen zu sehen. Er überlegt manchmal, wenn es in seiner Stadt einen Flughafen gäbe, ob er dort auch hingehen würde, aber der Lärm wäre ihm zu viel. Er denkt sich, Züge sind etwas Besonderes. Allein die Gleise auf denen der Zug fährt sind wie ein leises Versprechen auf Dinge die kommen werden...und der Zug ist die Erfüllung dieses Versprechens.

Auch wenn es heute als Bindfäden regnet, zieht sich der alte Mann seine Schuhe und seinen Mantel an und setzt seine Hut auf. Früher, als er noch jung war, hat er sich immer gewundert warum sich alte Männer immer so anziehen, dass sie auch aussehen wie alte Männer. Mittlerweile weiß er es: es sieht albern aus, wenn sich so ein alter Knacker die Klamotten von Zwanzigjährigen anzieht. Er konnte sich sowieso nicht damit anfreunden, wie jemand auf die Straße gehen kann und sich der Hosenbund auf Kniehöhe befindet. Dann lieber so, mit Hut und Regenschirm.

Der Weg zum Bahnhof ist nicht weit und auch nicht schwer, aber irgendwie hat der alte Mann heute Schwierigkeiten. Die Beine sind etwas schwer und das Herz holpert manchmal. Zum Glück ist es nicht mehr weit zu seinem Stammplatz, da kann er sich ausruhen. Er setzt sich hin und atmet erstmal tief durch, zumindest so tief, wie er kann. Ein paar Bahnhofsmitarbeiter gehen vorbei und nicken ihm beiläufig zu. Er kommt schon so lange hierher, dass man munkelt er hat schon hier gesessen, als es den Bahnhof noch gar nicht gab. Auch der Zeitungsverkäufer schräg gegenüber grüßt ihn freundlich, sieht aber besorgt aus. Der alte Mann bemerkt es nicht. Er hat nur Augen für die Züge, die Menschen die Ein- und Aussteigen. Jeder von Ihnen hat ein ganzes eigenes Leben, voller Höhen und Tiefen, voller Glück und Leid. Das weiß auch der alte Mann- auch deswegen ist er hier. Er stellt sich vor was jeder von Ihnen wohl erlebt haben mag, woher sie kommen und wohin sie gehen. Es fasziniert ihn jeden Tag.

Er ist nie mit einem dieser Züge gefahren. Wohin hätte er denn auch fahren sollen? Auch wenn er früher vielleicht gern das Abenteuer der Reise erfahren hätte, aber er hat niemanden, mit dem er diese Erlebnisse teilen kann, also hat er auch das aufgegeben. So sitzt der alte Mann jeden Tag auf derselben Bank vermutlich wirklich von Anbeginn der Zeit und sieht wie das Leben jeden Tag ab ihm vorbeizieht. Er sieht die Züge Ein- und ausfahren. Er sieht wie die Menschen auf Reisen gehen und wartet auf den Tag, an dem er seine letzte Reise antreten wird.

II.

Der alte Mann ist erleichtert. Die letzten Wochen waren eine Qual für ihn. Dabei fing der Tag damals eigentlich gut an. Es war sonnig, die Vögel zwitscherten und er fühlte sich richtig gut. Die Ernüchterung traf ihn, als er in den Bahnhof kam. Es gab auf einmal Bauzäune und Bauarbeiter. Das war aber nicht das Schlimmste- bei weitem nicht! Seine geliebte Bank auf der er immer saß war, weg und dort wo sie war klaffte plötzlich ein Loch im Boden. Der alte Mann stand vor der Absperrung und konnte seinen Augen nicht glauben. „Was ist denn hier bloß passiert?“ fragte er sich.

„Das sieht viel schlimmer aus als es in Wahrheit ist.“ Hörte er eine vertraute Stimme hinter sich rufen. Er drehte sich um so schnell es ihm möglich war, aber die Skoliose plagte ihn mit zunehmendem Altem, deshalb sah es fast wie in Zeitlupe aus, bis er es endlich geschafft hatte, sich soweit umzudrehen, dass er den Eigentümer der Stimme ins Auge fassen konnte.

Es war der Zeitungsverkäufer. Er winkte ihn zu sich herüber und hielt dabei seine Thermoskanne in der Hand. Der alte Mann schlurfte zu ihm hinüber. Es schien als sei alle seine Energie mit einem Mal weg. Der Zeitungsverkäufer erklärte ihm, dass die Bauarbeiter hier wären um diverse Renovierungen am Bahnhof durchzuführen. Der alte Mann, sagte, es sähe eher so aus, als ob die Bank weg gesprengt worden sei. Der Zeitungsverkäufer schüttelte den Kopf und sagte, die Bank sei abtransportiert worden- Sie soll restauriert werden. „Restauriert?“ fragte der alte Mann und „was gibt’s da zu restaurieren? Die Bank war doch noch gut!“

Einer der Bahnhofsmitarbeiter kam vorbei und sagte, es würde gut zwei Wochen dauern, dann wäre die Bank wieder wie neu. Der alte Mann war alles andere als glücklich darüber. Er sagte:“ Es hat Jahre gedauert, bis ich diese Bank so eingesessen habe, dass sie auch bequem war...und jetzt ist alles für die Katz!“

Der Bahnhofsmitarbeiter schaute zum Zeitungsverkäufer und beide nicken sich unmerklich zu. Der Zeitungsverkäufer lädt den alten Mann ein, er könne hier bei Ihm sitzen, bis seine geliebte Bank wieder da ist.

Das war vor drei Wochen. Nun ist der alte Mann zurück auf seiner Bank und muss zugeben, dass die Bank zwar „restauriert“ wurde, aber sie ist noch genauso bequem wie vorher. Es scheint, als habe der Restaurateur heimlich seine Hintern und seinen Rücken vermessen und das neue Holz entsprechend eingeschliffen.

Jetzt sitzt er also wieder hier und atmet tief durch. Ein kleines Lächeln spielt um seine Lippen, aber nicht lang. Das Herz macht wieder seltsame Sprünge und die Luft wird etwas knapper. Der Zeitungsverkäufer schaut zufällig herüber und hebt die Augenbrauen, aber der alte Mann winkt ab. Es ist nichts.

Jetzt, da die Bauarbeiten abgeschlossen sind, hat sich auch der Bahnhof insgesamt wieder beruhigt. Die Reisenden sind nicht mehr so hektisch wie vorher und es kommt hin- und wieder mal vor, dass sich jemand zu ihm auf die Bank setzt. Manche gehen wieder, ohne ein Wort zu sagen, andere, wenn Sie genügend Zeit haben, fangen ein Gespräch mit ihm an. Das freut den alten Mann, denn er hört den Reisenden gern zu.

Gerade eben setzt sich wieder jemand zu ihm. Der alte Mann war in Gedanken versunken, so wie es ihm in den letzten Tagen häufiger passiert ist und bemerkt erst, dass jemand neben ihm sitzt, als er von der Person angesprochen wird. Es dauert eine Weile, bis er die Frage verstand:“ Finden Sie nicht, dass Züge etwas Wunderbares sind?“ Fragte der andere und fährt, ohne eine Antwort abzuwarten fort:“ Man steigt hinein und sie bringen einen fort- irgendwohin, an die entlegensten Orte“ Der alte Mann seufzt still und sagt nichts. Irgendwie hat er das Gefühl er muss gar nichts sagen…der Fremde scheint seine Gedanken eh zu kennen. Er weiß nicht genau warum, aber er weiß, dass es so ist.

Der Fremde und der alte Mann schauen sich an. Von dem Fremden strahlt etwas Besonderes aus, was der alte Mann nicht deuten kann, aber er weiß, dass es nichts Bedrohliches, sondern etwas Freundliches ist. Der Fremde fragt: „Sie sind bestimmt noch nie mit einem Zug gefahren, stimmts?“ Wieder wartet der Fremde keine Antwort ab, oder so scheint es. „in ein paar Minuten kommt ein Sonderzug hier herein. Mit einer wunderschönen Dampflokomotive und wunderschönen Wagons. Den Zug sollten Sie nehmen.“ Der alte Mann schaut den Fremden an und sagt:“ Ist er endlich auf dem Weg? Ich habe lange auf ihn gewartet.“ Kurz darauf kann er die Dampflokomotive, ihr schnaufen und stampfen und ihre schrille Pfeife hören. Er schaut neugierig in die Richtung des Gleises. Er wundert sich etwas, dass keiner der anderen Reisenden Notiz zu nehmen scheint, aber er ist zu aufgeregt um sich weiter darum zu kümmern.

Der Fremde neben ihm steht auf, als der Zug zum Stillstand kommt. Er blick zu dem alten Mann herunter und hält ihm seine Hand hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Der alte Mann beißt die Zähne zusammen- die Skoliose hat ihn wirklich gequält und er erwartet den alten Schmerz beim Aufstehen. Seltsam, denkt er sich, heute scheinen mich die alten Knochen doch nicht ärgern zu wollen. Er nimmt die Hand des Fremden und richtet sich auf. Sie gehen beide hinüber zu dem Zug und wieder wundert sich der alte Mann etwas über die Ignoranz der anderen Reisenden. Sie bleiben vor einem der Wagons stehen. Die Tür ist offen und der Fremde bittet ihn einzusteigen. Der alte Mann schaut ihn an und sagt: „Das kann ich nicht. Ich habe doch gar keine Fahrkarte“ Der Fremde lächelt und sagt, er solle doch mal in seinen Manteltaschen suchen. Der alte Mann greif mit beiden Händen links und rechts in seine Taschen und holt tatsächlich eine Fahrkarte hervor, mit einer Freudenträne in den Augen. Er sieht nun auch, dass der Fremde gar kein wirklicher Fremder ist, sondern der Schaffner des Zuges!

Nachdem der Schaffner die Karte kontrolliert hat, hilft er dem alten Mann in den Wagon. Er geht in sein Abteil und atmet tief ein. Es riecht nach altem Leder und Holz. Ein angenehmer Geruch. Wieder, in Erwartung seiner Rückenschmerzen die Zähne zusammenbeißend, lässt er sich auf den großzügig gepolsterten Sitz nieder, wieder ohne Schmerzen.

Es dauert nicht lange und der Zug ruckt an, die Pfeife der Lokomotive schrillt, das Schnaufen und Stampfen intensiviert sich und der Zug verlässt den Bahnhof. Der alte Mann sieht, wie der Bahnhof, den er so viele Jahre besucht hat, immer weiter hinter ihm bleibt. Er sieht die schönen Landschaften an sich vorbeiziehen. So hatte er es sich immer vorgestellt, aber sich nie getraut es zu erfahren. Er lehnt sich zurück und schließt müde die Augen, während ein glückliches Lächeln sein Gesicht erhellt.

Epilog

Es ist nun schon ein paar Jahre her, dass der alte Mann dort auf seiner Lieblingsbank eingeschlafen ist. Der Zeitungsverkäufer war der erste, der es bemerkt hatte. Er kannte den alten Mann besser als die meisten hier und war schon lange besorgt. Er wusste aber auch, dass der alte Mann wirklich alt war. Darum hatte er und die Bahnhofsmitarbeiter sich so ins Zeug gelegt, dass die Bank für den alten Mann wieder an Ort und Stelle kam.

Dabei blieb es aber nicht. Viele Menschen kamen seitdem und haben Blumen an der Bank abgelegt und selbst der Bahnhofsdirektion blieb der Tod des alten Mannes nicht verborgen. Es gab eine Spendenaktion und nun sitzt der alte Mann wieder an seinem Platz, genauso wie viele Jahrzehnte vorher schon- oder zumindest eine Bronzefigur von ihm. Er sieht genauso aus, wie man ihn zuletzt sah: Die Augen geschlossen, ein leichtes, glückliches Lächeln im Gesicht, die linke Hand in seiner Manteltasche, die rechte Hand neben sich auf der Bank. Wenn man genau hinsieht, kann man erkennen, dass seine rechte Hand aussieht wie poliert. Das kommt daher, dass viele Menschen sich gern neben ihn setzen und seine Hand halten…entweder, weil sie Trost bei ihm finden, oder weil sie ihm Trost geben wollen.
 
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