Willi Corsten
Mitglied
Was ihr dem geringsten
meiner Brüder getan habt,
habt ihr mir getan.
Matth. 3. 25. 40
Der alte Mann
von Willi Corsten
Der alte Mann hat lange in der Fußgängerzone gesessen und das Schild gehalten mit der ungelenken Aufschrift: ‚Obdachloser bittet um eine kleine Spende.’
Aber heute, am letzten Tag vor dem Heiligen Abend, sind die Menschen viel zu sehr mit ihren Einkäufen beschäftigt und so wirft nur ab und an jemand eine kleine Münze in den Hut.
Früh setzt die Dämmerung ein. Ein eisiger Wind fegt durch die Straßen der Stadt, Schnee liegt in der Luft. Mühsam steht der alte Mann auf, zieht den abgetragenen Mantel enger um die Schulter und bückt sich nach seinem Geld. Da torkeln ein paar Skinheads vorbei und einer der Glatzköpfe ruft: „He du Penner, arbeiten sollst du und nicht betteln.“
Er wirft seine leere Bierdose fort, rempelt den hilflosen Mann an und stößt ihn zu Boden. Dann versetzt er dem Hut einen Fußtritt und lacht verächtlich, als die wenigen Geldstücke in den Rinnstein kullern.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht rappelt sich der alte Mann wieder auf und sucht nach seinen Münzen. Als er sechs Groschen und drei Fünfziger aufgelesen hat, entdeckt er unter einer zerknüllten Zeitung einen fast neuen Hundertmarkschein. Verstohlen schaut er sich um, doch da es nun dunkel geworden ist, hat niemand seinen Fund bemerkt. Heimlich steckt er den Schein in die Manteltasche und sucht nach weiteren Geldstücken, die hier noch irgendwo liegen müssen.
Plötzlich sind emsige Helfer zur Stelle. Zwei kleine Mädchen haben zusammen mit ihrer Mutter den üblen Streich beobachtet und bringen ihm nun einige Münzen, die hinter einen Blumenkübel gerollt waren. Verlegen bedankt sich der alte Mann und will gehen. Da hält die Frau seinen Arm fest und sagt: „Sie bluten ja am Kopf. Die Wunde muss desinfiziert und verbunden werden"
Der alte Mann winkt ab, doch da nehmen die Mädchen ihn entschlossen bei der Hand und erklären: „Mami ist Krankenschwester. Komm mit, ohne Verband holst du dir eine böse Blutvergiftung."
Jeder Widerstand ist sinnlos, denn ein Kinderlächeln kann die Welt verändern.
„Aber was sagt ihr Mann, wenn sie einen Landstreicher wie mich ins Haus bringen?“, fragt er zögernd.
Da huscht ein Schatten über das Gesicht der jungen Mutter und sie antwortet traurig: „Ich lebe allein mit meinen Kindern und habe mehr Zeit, als mir lieb ist, denn vor drei Monaten wurde mir die Arbeitsstelle gekündigt. Die Bescherung muss daher ausfallen in diesem Jahr."
"Und dabei hatten wir uns so auf eine schöne Puppe gefreut", flüstert das jüngere der Mädchen und schweigt sogleich wieder verschämt.
In der kleinen, ärmlichen Mietwohnung lässt der Mann seine Wunde behandeln, murmelt ein leises Dankeschön und ist bald darauf wieder fort.
Am Heiligen Abend läutet bei der Familie die Klingel. Die Mädchen öffnen die Tür und schauen sich verwundert in dem leeren Flur um. Dann stürmen sie zurück ins Zimmer und rufen: „Mami, Mami, das Christkind ist doch gekommen. Es hat für jeden von uns beiden eine wunderschöne Puppe auf die Treppe gelegt, und eine große Tafel Schokolade noch dazu".
Als wenig später das Licht im Treppenhaus wieder verlöscht und die tiefe Dunkelheit in den Flur zurückkehrt, verlässt ein alter Mann sein Versteck und schlurft hinaus in das einsetzende Schneetreiben.
meiner Brüder getan habt,
habt ihr mir getan.
Matth. 3. 25. 40
Der alte Mann
von Willi Corsten
Der alte Mann hat lange in der Fußgängerzone gesessen und das Schild gehalten mit der ungelenken Aufschrift: ‚Obdachloser bittet um eine kleine Spende.’
Aber heute, am letzten Tag vor dem Heiligen Abend, sind die Menschen viel zu sehr mit ihren Einkäufen beschäftigt und so wirft nur ab und an jemand eine kleine Münze in den Hut.
Früh setzt die Dämmerung ein. Ein eisiger Wind fegt durch die Straßen der Stadt, Schnee liegt in der Luft. Mühsam steht der alte Mann auf, zieht den abgetragenen Mantel enger um die Schulter und bückt sich nach seinem Geld. Da torkeln ein paar Skinheads vorbei und einer der Glatzköpfe ruft: „He du Penner, arbeiten sollst du und nicht betteln.“
Er wirft seine leere Bierdose fort, rempelt den hilflosen Mann an und stößt ihn zu Boden. Dann versetzt er dem Hut einen Fußtritt und lacht verächtlich, als die wenigen Geldstücke in den Rinnstein kullern.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht rappelt sich der alte Mann wieder auf und sucht nach seinen Münzen. Als er sechs Groschen und drei Fünfziger aufgelesen hat, entdeckt er unter einer zerknüllten Zeitung einen fast neuen Hundertmarkschein. Verstohlen schaut er sich um, doch da es nun dunkel geworden ist, hat niemand seinen Fund bemerkt. Heimlich steckt er den Schein in die Manteltasche und sucht nach weiteren Geldstücken, die hier noch irgendwo liegen müssen.
Plötzlich sind emsige Helfer zur Stelle. Zwei kleine Mädchen haben zusammen mit ihrer Mutter den üblen Streich beobachtet und bringen ihm nun einige Münzen, die hinter einen Blumenkübel gerollt waren. Verlegen bedankt sich der alte Mann und will gehen. Da hält die Frau seinen Arm fest und sagt: „Sie bluten ja am Kopf. Die Wunde muss desinfiziert und verbunden werden"
Der alte Mann winkt ab, doch da nehmen die Mädchen ihn entschlossen bei der Hand und erklären: „Mami ist Krankenschwester. Komm mit, ohne Verband holst du dir eine böse Blutvergiftung."
Jeder Widerstand ist sinnlos, denn ein Kinderlächeln kann die Welt verändern.
„Aber was sagt ihr Mann, wenn sie einen Landstreicher wie mich ins Haus bringen?“, fragt er zögernd.
Da huscht ein Schatten über das Gesicht der jungen Mutter und sie antwortet traurig: „Ich lebe allein mit meinen Kindern und habe mehr Zeit, als mir lieb ist, denn vor drei Monaten wurde mir die Arbeitsstelle gekündigt. Die Bescherung muss daher ausfallen in diesem Jahr."
"Und dabei hatten wir uns so auf eine schöne Puppe gefreut", flüstert das jüngere der Mädchen und schweigt sogleich wieder verschämt.
In der kleinen, ärmlichen Mietwohnung lässt der Mann seine Wunde behandeln, murmelt ein leises Dankeschön und ist bald darauf wieder fort.
Am Heiligen Abend läutet bei der Familie die Klingel. Die Mädchen öffnen die Tür und schauen sich verwundert in dem leeren Flur um. Dann stürmen sie zurück ins Zimmer und rufen: „Mami, Mami, das Christkind ist doch gekommen. Es hat für jeden von uns beiden eine wunderschöne Puppe auf die Treppe gelegt, und eine große Tafel Schokolade noch dazu".
Als wenig später das Licht im Treppenhaus wieder verlöscht und die tiefe Dunkelheit in den Flur zurückkehrt, verlässt ein alter Mann sein Versteck und schlurft hinaus in das einsetzende Schneetreiben.