Der alte Mann und die Erinnerung

4,30 Stern(e) 3 Bewertungen

Marian.b

Mitglied
Hier findet sich die aktuelle Version.


Er saß auf der Veranda des Altenheims, seine altersfleckigen Hände krampften sich um ein Mobiltelefon, das aus einem Display und vier überdimensionierten Kurzwahltasten bestand. Nur neben der obersten Kurzwahltaste stand ein Name auf einem kleinen Zettel, der unübersehbar aufgeklebt worden war. Wo bleibt sie nur? Gleich ist die Besucherzeit vorbei, dachte er, ob ihr was passiert ist? Was, wenn sie einen Unfall hatte? Er spürte ein Ziehen in der Kehle. Ich muss sie finden. Das Ziehen in seiner Kehle verengte sich, wurde zu einem Kloß, drohte ihn zu ersticken. Vor seinem inneren Auge tauchte ein unscharfer, nachtblauer Ford Ka auf. Ist das Blech zertrümmert? Ich muss sie finden, dachte er wieder. Er stemmte sich mühsam empor, dann fühlte er einen Schlag, der gegen seine Brust pochte. Sein Gesicht zuckte zusammen, wurde für einen Moment zu einer Grimasse. Gleich ist es aus mit mir, wo bleibt sie nur? Er versuchte an sie zu denken, doch alles, was ihm blieb, war eine weit entfernte Erinnerung wie ein lang vergangener Urlaub. Um ihn herum wurde es dunkler, er ließ sich wieder in den Stuhl sinken.
Plötzlich zuckt er zusammen. Jemand rief seinen Namen. Was ging hier vor sich, waren sie gekommen, um ihn zu holen? Er öffnete die Augen und drehte sich schwerfällig um. Ein junger Mann in einem weißen T-Shirt und Hose kam auf ihn zu.
„Wir haben Sie schon gesucht, was machen Sie hier draußen?“, fragte er.
„Ich muss meine Frau finden“, antwortete der alte Mann verstört, es lag kein Ausdruck des Erkennens in seinem faltigen Gesicht.
„Warten Sie bitte einen Moment, ich komme gleich wieder“, sagte der Mann in weißer Kleidung mit einer Stimme, in der Mitgefühl und Verständnis mitschwangen.
Kurz darauf kam er mit einem Glas Wasser und einer Tablettenbox zurück.
„Sie haben ihre Medikamente noch nicht genommen. Ihre Frau ist vor vielen Jahren bei einem Autounfall gestorben", sagte er.
Der alte Mann schaute ihn an, ohne etwas zu sagen. Meine Frau kann nicht tot sein, das kann nicht sein, dachte er. Was habe ich dann in den letzten Jahren gemacht? Wer bin ich in den Jahren gewesen?
„Wo bin ich? Wer sind sie?“, fragte er mit einem leeren Blick.
„Ich bin Jack, ihr Pfleger. Hier, bitte nehmen sie“, sagte er und gab ihm eine Tablette. Er schluckte sie hinunter.
„Kommen Sie, ich bringe Sie in ihr Zimmer. Dann können sie sich ausruhen.“
Ich muss sie finden, dachte der alte Mann. Wie war nochmal ihr Name? Seine Erinnerungen verschwammen immer mehr, er fühlte sich müde. Der Pfleger führte ihn in ein Zimmer, das aus einem Bett, einem Bücherregal und einem kleinen Schreibtisch bestand.
„Bitte, legen sie sich hin. Ruhen Sie sich aus, ich schaue morgen früh wieder nach Ihnen.“
Der alte Mann krümmte sich auf dem Bett zusammen, der Pfleger breitete die Decke über ihn aus. Ich muss sie finden, dachte er ein letztes Mal, doch er hatte keine Erinnerung mehr an ihr Gesicht.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
G

Gelöschtes Mitglied 20513

Gast
Eine kurze Geschichte, weniger eine Kurzgeschichte. Eine Klinik oder ein Pflegeheim für Altersdemente der Ort des Geschehens. Zwei Personen treten auf, der alte Mann und der Pfleger. Der alte Mann, dessen Namen man nicht erfährt, der also als Person bereits anonym ist, verhält sich undiszipliniert, er hält sich nicht in seinem Zimmer auf, er versucht sich seiner Frau zu erinnern, er sucht sie in seinem kranken Gedächtnis, für ihn lebt sie noch. Der Pfleger bringt ihm die tägliche Medizin, die er nicht eingenommen hatte, was offensichtlich das versuchte Erinnern ausgelöst hatte, fügt aber (für mich nicht beiläufig genug) hinzu, dass die Frau des alten Mannes bei einem Autounfall ums Leben kam. Im Zimmer des alten Mannes tritt die Wirkung der Medizin ein: Er kann sich nicht mehr an das Gesicht seiner Frau erinnern.

Was will uns der Autor mit dieser Geschichte sagen? Ich lese sie als Protest gegen den Umgang mit den dementen Kranken, die in den Augen der Öffentlichkeit, vertreten durch den Pfleger, bereits Verlorene sind, man könnte auch sagen, bereits Tote sind. Die Behandlung erfolgt durch eine Medizin, die die Kranken lediglich ruhigstellt, nicht aber das versuchte Erinnern zu aktivieren. Aber darum geht es, dass die Kranken ihre Erinnerung verloren haben. Nun komme ich nicht aus der Medizin, denke mir aber, dass mit den Kranken ganz anders gearbeitet werden müsste - nicht ruhigstellen, sondern alles tun, damit das Leben der Kranken auch noch mit der Krankheit lebenswert ist, indem man sie in ihren Erinnerungen unterstützt. Dies würde natürlich ein völlig anderes Herangehen an diese Erkrankung erfordern und auch vor allem in der Zahl ausreichendes, geschultes Pflegepersonal. Inwieweit auch hier Fallpauschalen zählen, ist mir nicht bekannt. Ablesbar aber für mich, dass diese Kranken für die Gesellschaft abgeschrieben sind, sie sind die vielfach Unnützen für das Goldene Kalb, die Erzielung des Profits, und der Umgang mit ihnen legt die ganze Unmenschlichkeit des kapitalistischen Systems bloß, wie es das auf so vielen anderen Gebieten auch tut. Wobei die "gesunde" Gesellschaft daran nichts auszusetzen hat, obwohl jeder weiß, dass auch er einmal alt sein wird (falls er nicht jung stirbt), dass auch er sein Gedächtnis verlieren könnte und dass er dann dazu verdammt sein wird, als Objekt und nicht als Subjekt von der Gesellschaft behandelt zu werden.

Gut, dass du dieses Thema in deiner kleinen Geschichte aufgegriffen hast, Marian.

Lieben Gruß, blackout
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Gibt es eigentlich irgendetwas, an dem das kapitalistische System nicht Schuld ist, blackout? :rolleyes:

Hallo Marian,

eine einfühlsam erzählte Geschichte, in der Du noch ein paar kleine Fehler ausbessern könntest:

Plötzlich zuckt zuckte er zusammen.
„Sie haben ihre Ihre Medikamente noch nicht genommen.
Wer sind sie Sie?
„Ich bin Jack, ihr Ihr Pfleger. Hier, bitte nehmen sie Sie.
„Kommen Sie, ich bringe Sie in ihr Ihr Zimmer. Dann können sie Sie sich ausruhen.“
„Bitte, legen sie Sie sich hin.

Allerdings sollte der Pfleger nicht erst am nächsten Morgen nach dem Mann schauen, sondern vielleicht sagen: „Ich schaue später noch mal bei Ihnen vorbei.“

Gruß, Ciconia
 
G

Gelöschtes Mitglied 20513

Gast
Nein, Ciconia, gibt es meines Wissens nicht, denn unser ganzes Leben ist Politik, selbst dann, wenn du über Vöglein und Blümchen sprichst, dann ist der Grund dafür, dass du dich nicht mit Politik beschäftigen willst. Und da das, was wir Politik nennen, also das, worauf die Gesellschaft gründet, die Produktionsverhältnisse sind, der Kapitalismus ist, hängt alles von ihm ab. Auch der Umgang mit Demenzkranken. Ich nehme an, das ist dir nicht verständlich, weil man dir dein Leben lang anderes gesagt hat. Du weißt, ich bin dir gegenüber in diesem Fall im Vorteil, ich habe die Erfahrungen aus der DDR, habe also zwei Erfahrungen und kann abwägen und vergleichen, und wenn ich das tue, senkt sich die Waagschale zugunsten des Sozialismus. Und das ist etwas, was du nicht glauben kannst und vielleicht auch nicht willst. Ich habe dafür volles Verständnis, ich hätte auch ein anderer Mensch werden können, wenn meine Eltern 1949 nicht ein paar Kilometer weit aus dem Berliner Westen in den Berliner Osten gezogen wären mit uns Kindern. Und ich weiß, das war das teuerste Geschenk, das mir meine Eltern machen konnten. Und dass an der Sache mit dem Kapitalismus was dran ist, hat Brecht in seinen Stücken verständlich beschrieben, z. B. in "Der gute Mensch von Sezuan" oder in "Die Heilige Johanna der Schlachthöfe". Ich kann dir dieses Lesevergnügen bzw. -ärgernis nur empfehlen.

Gruß, blackout
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
dann ist der Grund dafür, dass du dich nicht mit Politik beschäftigen willst
Ich glaube, hier hast Du gerade eine Grenze überschritten, blackout.

Wie kommst Du dazu, wildfremde Menschen zu beurteilen, über deren Herkunft, Privatleben und politische Einstellung Du überhaupt nichts wissen kannst?
 

Marian.b

Mitglied
Hallo @blackout ,

vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar.

Der alte Mann, dessen Namen man nicht erfährt, der also als Person bereits anonym ist
Ja, genau so war das gedacht, schön, dass es so rüberkommt.

er sucht sie in seinem kranken Gedächtnis, für ihn lebt sie noch.
Genau, und sein einziger Wunsch besteht darin, sie zu finden.

fügt aber (für mich nicht beiläufig genug) hinzu, dass die Frau des alten Mannes bei einem Autounfall ums Leben kam.
Das ist eine wichtige Anmerkung für mich, ich war mir nicht sicher, ob es zu abrupt ist. Da muss ich weiter drüber nachdenken, damit ich das beiläufiger hinbekomme. Danke!

Ich lese sie als Protest gegen den Umgang mit den dementen Kranken
Ja, freut mich, dass es spürbar ist. :) Das zweite Motiv, war die Frage, wer bin ich, wenn ich kein Gedächtnis mehr habe?

nicht ruhigstellen, sondern alles tun, damit das Leben der Kranken auch noch mit der Krankheit lebenswert ist, indem man sie in ihren Erinnerungen unterstützt.
Es gibt kaum einen traurigeren Ort als ein Altenheim, finde ich. Bin ganz bei dir.

Gut, dass du dieses Thema in deiner kleinen Geschichte aufgegriffen hast, Marian.
Vielen Dank für deine Worte, ich schätze das sehr und freue mich, dass du es auch so siehst.

Viele Grüße,
Marian



Hallo @Ciconia ,

vielen Dank für deine Zeit und dein Kommentar. :)

eine einfühlsam erzählte Geschichte
Danke, das hat mich gefreut.

in der Du noch ein paar kleine Fehler ausbessern könntest:
Oh, ja. Wichtiger Hinweis, vielen Dank für das aufmerksame Lesen. Gibt es eine Möglichkeit den Text noch im Nachhinein zu bearbeiten?


Viele Grüße,
Marian
 
G

Gelöschtes Mitglied 20513

Gast
Ciconia, du vergisst, dass ich deine Gedichte kenne und daher weiß, wie du denkst. Oder nicht denkst. Ich bin sicherlich sehr viel älter als du und habe genügend Welt und Menschen kennengelernt, um bestimmte Einschätzungen treffen zu können. Nein, eine Grenze habe ich nicht überschritten, ich habe dir nur auf den Kopf zugesagt, was ich denke. Ich habe dich nicht diskrimniert, wie das hier in meinem Fall das Übliche ist, sondern dir nur völlig emotionslos die Wahrheit gesagt, auch wenn du dir darüber selbst noch nicht klargeworden bist. Und das darf ich doch wohl? Dass ich den Nagel auf den Kopf getroffen habe , das ist für dich der Grund, dich angegriffen zu fühlen. Das ist alles. Ich denke, du kennst auch mich ganz gut, um zu wissen, dass ich niemals die Unwahrheit sage, nur dann, wenn ich es für angebracht halte. Und in deinem Fall gab es für das zweite keinen Grund. Ich bin auch nicht bereit, mich für meinen Kommentar zu entschuldigen. Es ist eine Diskussion zwischen uns beiden und kein Schlagabtausch. Übrigens, so wildfremd bist du mir nicht, wenn du deine Gedichte öffentlich postest. Vergiss nicht, dass man mit jedem Wort, das man schreibt, etwas von sich selber offenbart. Das ist die Crux des Schreibens.

blackout
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Marian,

ist die Geschichte auch sehr kurz, so offenbart sie doch menschliche Nöte in der Pflege - sei es als Erkrankter oder Pflegender.

Du kannst eine verbesserte Version einstellen und ich verlinke sie dann oben, so kann man sie direkt aufrufen.

Blackout und Ciconia: Bitte tragt eure Konflikte nicht unter diesem Text aus.

Gruß an alle, DS
 

Marian.b

Mitglied
Er saß auf der Veranda des Altenheims, seine altersfleckigen Hände krampften sich um ein Mobiltelefon, das aus einem Display und vier überdimensionierten Kurzwahltasten bestand. Nur neben der obersten Kurzwahltaste stand ein Name auf einem kleinen Zettel, der unübersehbar aufgeklebt worden war. Wo bleibt sie nur? Gleich ist die Besucherzeit vorbei, dachte er, ob ihr was passiert ist? Was, wenn sie einen Unfall hatte? Er spürte ein Ziehen in der Kehle. Ich muss sie finden. Das Ziehen in seiner Kehle verengte sich, wurde zu einem Kloß, drohte ihn zu ersticken. Vor seinem inneren Auge tauchte ein unscharfer, nachtblauer Ford Ka auf. Ist das Blech zertrümmert? Ich muss sie finden, dachte er wieder. Er stemmte sich mühsam empor, dann fühlte er einen Schlag, der gegen seine Brust pochte. Sein Gesicht zuckte zusammen, wurde für einen Moment zu einer Grimasse. Gleich ist es aus mit mir, wo bleibt sie nur? Er versuchte an sie zu denken, doch alles, was ihm blieb, war eine weit entfernte Erinnerung wie ein lang vergangener Urlaub. Um ihn herum wurde es dunkler, er ließ sich wieder in den Stuhl sinken.
Plötzlich zuckte er zusammen. Jemand rief seinen Namen. Was ging hier vor sich, waren sie gekommen, um ihn zu holen? Er öffnete die Augen und drehte sich schwerfällig um. Ein junger Mann in einem weißen T-Shirt und Hose kam auf ihn zu.
„Wir haben Sie schon gesucht, was machen Sie hier draußen?“, fragte er.
„Ich muss meine Frau finden“, antwortete der alte Mann verstört, es lag kein Ausdruck des Erkennens in seinem faltigen Gesicht.
„Warten Sie bitte einen Moment, ich komme gleich wieder“, sagte der Mann in weißer Kleidung mit einer Stimme, in der Mitgefühl und Verständnis mitschwangen.
Kurz darauf kam er mit einem Glas Wasser und einer Tablettenbox zurück.
„Sie haben ihre Medikamente noch nicht genommen. Ihre Frau ist vor vielen Jahren bei einem Autounfall gestorben", sagte er.
Der alte Mann schaute ihn an, ohne etwas zu sagen. Meine Frau kann nicht tot sein, das kann nicht sein, dachte er. Was habe ich dann in den letzten Jahren gemacht? Wer bin ich in den Jahren gewesen?
„Wo bin ich? Wer sind Sie?“, fragte er mit einem leeren Blick.
„Ich bin Jack, Ihr Pfleger. Hier, bitte nehmen Sie“, sagte er und gab ihm eine Tablette. Er schluckte sie hinunter.
„Kommen Sie, ich bringe Sie in Ihr Zimmer. Dann können Sie sich ausruhen.“
Ich muss sie finden, dachte der alte Mann. Wie war nochmal ihr Name? Seine Erinnerungen verschwammen immer mehr, er fühlte sich müde. Der Pfleger führte ihn in ein Zimmer, das aus einem Bett, einem Bücherregal und einem kleinen Schreibtisch bestand.
„Bitte, legen Sie sich hin. Ruhen Sie sich aus, ich schaue morgen früh wieder nach Ihnen.“
Der alte Mann krümmte sich auf dem Bett zusammen, der Pfleger breitete die Decke über ihn aus. Ich muss sie finden, dachte er ein letztes Mal, doch er hatte keine Erinnerung mehr an ihr Gesicht.
 

Maribu

Mitglied
Hallo Marian,
dein Text ist ein Versuch, sich in einen alten dementen Mann hinein zu versetzen.
Da seine Frau seit vielen Jahren tot ist, muss er noch jemanden haben, zu dem er Kontakt hat.
(Der Zettel auf der Kurzwahltaste)
Außerdem hat er noch lichte Momente. (Waren sie gekommen, um ihn zu holen?)
Etwas später : (Wo bin ich? Wer sind Sie?)
Wer weiß, was sich im Gehirn abspielt?!
Es ist dir gelungen, Mitgefühl zu erregen und gleichzeitig Angst, nicht alt, aber dement zu werden!
Kollegiale Grüße
Maribu
 



 
Oben Unten