DER ALTE MATIA

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GerRey

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Der alte Matia war Koch, und als solcher fuhr er für eine Hamburger Reederei zur See, wo man damals viel Geld verdienen konnte - mehr jedenfalls, als in einem Wiener Vorstadtbeisl. In den ersten Jahren lief alles gut mit ihm. Auf Heimaturlaub konnte er eine junge, schöne Serviererin für seinen Traum gewinnen, nach der Seefahrt, wenn genügend Geld beisammen wäre, ein eigenes Restaurant zu eröffnen. Er heiratete sie und machte ihr zwei Kinder, die sie - Sylvia - groß zog, während er von Hamburg aus die ganze Welt als Schiffskoch bereiste.

Wenn er später über diese Zeit sprach, endete die Geschichte immer mit dem Satz: “Ich kann nur Mädchen”. Und dann gab es welche - darunter auch meinereiner -, die darauf antworteten: “Ich mach’s nur mit Mädchen”.

Die schöne, schwarzhaarige Sylvia also, die sich kaum der trinkenden Männer erwehren konnte, für die sie in einem Innenstadt-Cafe servieren musste, gebar dem blonden Matia zwei wunderschöne, rothaarige Mädchen, die von Sommersprossen übersät waren. (Als sie ein reiferes Alter erreicht hatten, konnte man sie nur daran unterscheiden, dass die ältere Tochter sich um zwei Jahre voraus weiblicher entwickelte als die jüngere, aber beide trugen die Nase gleich hoch und verachteten alles, was darunter lag - wie es solche Leute gerne tun.)

Nachdem Matia genügend Geld gespart hatte, kaufte er ein Restaurant an unserem See, das er mit seiner Frau Sylvia führte, um die große Seeterrasse, die zu dem Restaurant gehörte, bewirtschaften zu können, während die Töchter noch in die Grundschule gingen. Und in den Sommermonaten ging das Geschäft bombastisch. Auch seine Kochkunst erregte genügend Aufmerksamkeit, um ihm und seiner Familie im Wechsel der Jahreszeiten ein Auskommen zu sichern.

Wir, die dörfliche Jugend am Stadtrand der großen, alten Stadt, gingen gerne zu ihm, weil er freitags und samstags im Keller seines Lokals einen Discoabend veranstaltete. Das war damals sehr beliebt bei uns Jugendlichen, da auch unsere Musik (Hard- und Bluesrock) gespielt wurde. Wir mussten nicht mehr in die teuren Disco-Tempel der Stadt, die auch noch dazu ein anderes Publikum bevorzugten. So kamen junge Leute aus der ganzen Umgebung zu Matia. Auch viele wilde Burschen - jedoch nicht sehr viel wilder, als wir selber waren! Sah man ein fremdes Mädchen auch nur schief an, flogen schon die Fetzen (Narben unter meinen Augenbrauen zeugen heute noch davon). Aber genauso oft konnte man diese Mädchen auch “aus- oder umspannen”; mit ihnen die Nacht im Kornfeld verbringen und nach den Sternen am Nachthimmel schauen. Welch traumhafte Nächte voller Zärtlichkeit, streichelnder Wärme und Romantik, die - bis heute - das Herz erwärmen! Was sind dagegen schon ein paar Narben?

Aber mit der Zeit wird man älter und ruhiger. Auch Matia hatte die ständigen Blaulichteinsätze, die sein Lokal in Verruf brachten, bald satt. So begnügte er sich mit dem Sommergeschäft, das sein Hauptumsatzfeld wurde. Es plätscherten ein paar Jahre dahin, in denen Matia auch gerne beim Bier und seinen Stammgästen saß. Abende voll trunkener Erzählrunden, in denen Männer und Frauen gemütlich beisammen saßen wie in grauer Vorzeit an Lagerfeuern. Dann passierte es plötzlich - als hätte der Blitz eingeschlagen: Die schöne Sylvia - die Töchter, die nie in dem Restaurantbetrieb tätig waren, gingen zu dieser Zeit bereits auf höherbildende Schulen - haute mit einem Typen ab, den keiner kannte. Alles rätselte, woher sie ihn hatte haben können, wenn sie doch täglich in der Arbeit und mit Matia zusammen war. Jedoch sind Frauen in solchen stillen Geheimnissen eben diskreter als Männer. Aber für Matia brach die Welt zusammen, sodass es kaum mit anzusehen war, wie er im alkoholisierten Selbstmitleid in sein Bier heulte, wenn er genug gesoffen hatte.

Natürlich schlug sich diese Veränderung auch auf das Restaurant nieder; Matia hätte eine Kellnerin einstellen müssen, um in gewohnter Weise weiter zu machen. Dazu konnte er sich aber nicht durchringen, weil er insgeheim noch immer auf die schöne Sylvia hoffte, die es sich jedoch anderweitig, unter einer bestimmten Hörigkeit, besser gehen ließ - womit ein weiteres Mal bewiesen wäre, dass Erwartungshaltungen in Beziehungen kaum fruchten. So mischte sich zu den Tränen und dem Bier auch vermehrt der Schnaps in Matias Gemütslage.

Ich ging trotzdem gerne zu ihm, weil er ein guter Kerl war (damals hatte das noch eine höhere Bedeutung), und saß mit den eingefleischten Stammgästen und ihm beisammen. Auch gab es in den Sommermonaten immer genügend Frauen, die gerne im Bikini mit uns am Stammtisch saßen und tranken. Ich sagte zu Matia, er solle doch auf Sylvia pfeifen und sich eine andere aufreißen. Aber mehr, als diesen Frauen Kochtipps zu geben - die oft nur für ein Eis gekommen und von uns zu Getränken eingeladen worden waren -, schaffte er nicht. Auch glaube ich, Frauen gehen Männern, die sich wie Loser gebärden, lieber aus dem Weg. Obwohl man sie gerade dann am Nötigsten bräuchte (ich habe es selbst aus eigener Erfahrung gesehen - wenn ich down war, ging überhaupt nichts).

Aber Matia hatte nicht nur den Kontakt zu seiner Frau verloren - auch den zu seinen Töchtern, die den Vater wegen seiner Trunkenheit mieden, weil sie ja jetzt in die große, weite Welt der Gebildeten aufbrachen. So war aus Matias großen Traum ein Alb geworden.

Eines Abends hatte sich eine besonders trinkfeste Runde bei Matia eingefunden, deren Teil auch ich war. Bier und Schnaps, Runde auf Runde. Immer wieder von Neuem. Irgendwann war ich weggetreten. Als ich erwachte, lag ich mit dem Kopf auf der Tischplatte und hatte ein Meer aus leeren und halbvollen benutzten Gläsern, Flaschen, überquellenden Aschenbechern vor mir - der ganze Tisch, an dem zehn Personen Platz fanden, war zugestellt; auf ihm gab es sicher mehr Gläser als in den Regalen hinter dem Tresen.

Was für ein Besäufnis, dachte ich und sah mich um. Die Runde hatte sich aufgelöst - außer mir war gerade nur mehr Matia anwesend, dem es zwei Sitze weiter ähnlich wie mir zu gehen schien. Aus einer Zigarette, die auf einem Aschenbecher vor ihm auf dem Tisch lag, stieg eine dünne Rauchfahne auf, die sich weiter oben, unterhalb des Plafonds, zerteilte - davor eine etwa zwei Zentimeter lange Aschenhaube aus der in den Ascher abgelegten Zigarette. Matias rechte Hand lag dahinter auf der Tischplatte. Ich rief ihn an - er rührte sich nicht. Ich rutschte auf der Holzbank zu ihm hinüber und stieß ihn an - weiter keine Reaktion. Verdutzt bemerkte ich, dass er nicht mehr atmete. Da gewahrte ich, dass sein Herz nun endgültig die Hoffnung aufgegeben hatte.


Feelings:
Bachman-Turner Overdrive - Takin' Care Of Business (Live)
Deep Purple - Black Night (Live 1972)
barclay james harvest 'hymn'
 



 
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