vknecht
Mitglied
Die Sonne hing draußen rot über dem Horizont, als das Telefon läutete. Eilig schritten Beine über den Flur, hastig griff eine Hand nach dem Hörer, und bestimmend sprach ein Mund hinein.
- Bert Krämer, hallo?
- Guten Tag, Herr Krämer.
- Wer ist am Apparat?
- Mein Name tut nichts zur Sache. Nur das, was ich gesehen habe.
- Um was geht es?
- Überlegen Sie mal. Um Ihre Tat.
- Wovon reden Sie? Ich bin ein ehrbarer Bürger und habe mir nichts zu Schulden kommen lassen.
- Sind Sie sicher?
- Natürlich.
- Sie sind nicht aufrichtig.
- Okay. Sie meinen die Sache mit Eberhardt. Er hat mich gestern besucht. Es kam zu einem Streit und ich habe ihn erschlagen. In der Nacht habe ich seine Leiche in meinem Garten verscharrt. Offensichtlich haben Sie mich dabei beobachtet. Wie viel wollen Sie?
- Seien Sie nicht albern.
- Aber so läuft das doch in jedem Krimi.
- Sie übertreiben. Wie auch immer. Aber wir wissen beide, dass das nicht den Tatsachen entspricht.
- Ach?
- Sie haben keinen Menschen getötet.
- Natürlich nicht. Ich wollte Ihnen nur zeigen, wie absurd Ihr Anruf ist.
- Das steht Ihnen frei.
- Warum sollte ich mich überhaupt mit einem wildfremden Menschen unterhalten, der mich ungefragt anruft und mir irgend eine Untat unterstellt, aber seinen Namen nicht nennt?
- Das stimmt. Warum sollten Sie. Jedenfalls tun Sie es. Vielleicht sind Sie neugierig.
- Ich könnte auch einfach auflegen.
- Könnten Sie. Tun Sie aber nicht.
- Noch nicht.
- Sie sprachen von einer Untat. Dabei hatte ich noch gar nicht verraten, um was es geht.
- Sie würden mich sicher nicht anrufen, um mir zu sagen, dass Sie mich dabei beobachtet haben, wie ich eine alte Frau über die Straße geführt habe.
- Vermutlich nicht.
- Also, um was geht es?
- Denken Sie an Ihre Mahlzeiten.
- In der Kantine? Meinen Sie die Sache mit Herrn Underberg? Ich war nicht der Einzige, der über ihn spottete. Die Kollegen taten es auch.
- Kein Grund, es ihnen gleich zu tun. Zumal sich das Ganze über Monate hinzog.
- Er war aber auch ein komischer Kauz. Und das nicht nur, weil er Veganer war.
- Dabei haben Sie sich mit ihm auch einmal sehr nett unterhalten. Als Sie ihn einmal bei einem Spaziergang im Wald trafen.
- Ach, das wissen Sie auch? Da war doch niemand außer uns.
- Deshalb waren Sie auch freundlich zu ihm.
- Woher wissen Sie das?
- Ich weiß alles.
- Waren Sie hinter einem Busch versteckt?
- Unsinn.
- Sind Sie der Weihnachtsmann? Oder, besser gesagt, Knecht Ruprecht? Der sich übers Jahr alle guten und bösen Taten aller Kinder aufschreibt und sie gegeneinander aufrechnet, um den überwiegend guten Kindern Geschenke zu bringen und den überwiegend bösen Buben die Rute zu geben?
- Sie machen sich über mich lustig. Wie über Herrn Underberg.
- Warum reiten Sie weiter auf dieser Geschichte herum? Sein Tod war ein Unfall, das ist allgemeiner Konsens.
- Weil es bequem ist und niemand Schuld haben muss.
- Was Sie aber anders sehen?
- Sturz in die Düsterschlucht, weil er auf dem Brückengeländer gesessen habe und ausgerutscht sei. Kommen Sie.
- Sie meinen, jemand hat ihn gestoßen?
- Glaube ich nicht. Er ist gesprungen.
- Ach, hören Sie auf.
- Tief in Ihrem Innern ist Zweifel.
- Was wissen Sie schon von mir?
- Sehr viel. Mehr als Ihnen lieb ist.
- Zum Beispiel?
- Das Passwort für Ihren Arbeits-PC. Es lautet „GmZSN1K“.
- Nein!
- Aber sicher. Erst vor Kurzem haben Sie es geändert, am 8. März. Vorher hieß es „IETmW8“.
- Sie sind ein Hacker.
- Könnte ich dann auch sehen, was Sie denken?
- Sind Sie dazu in der Lage? Was geht mir denn gerade durch den Kopf?
- Plätschern, Rauschen. Fallendes Wasser. Nasse Materie, die sich ohnmächtig der Schwerkraft hingibt und in die Tiefe stürzt. Geräusche und Bilder einer Bergwanderung. In Österreich letzten Sommer, am 18. Juli.
- Autsch. Das wird mir langsam unheimlich.
- Kann ich verstehen.
- Wer sind Sie?
- Raten Sie nochmal.
- Ich kann gar nicht glauben, dass ich das denke, dass ich das frage. Aber sind Sie - Gott?
- Das ist eine Schöpfung des Menschen. Erschaffen aus dem Bedürfnis nach Halt angesichts dessen Sterblichkeit. Nach einer Möglichkeit der Manipulation. Der Gläubige ist brav und hofft, dass ihm der Allmächtige hilft, eine Prüfung zu bestehen, befördert oder gesund zu werden, einen Krieg zu gewinnen.
- Nun werden Sie philosophisch.
- Die Gottheit liebt den Menschen und erhebt ihn über die Tiere. Mach dir die Erde untertan. Eine Rechtfertigung, andere Lebewesen nicht nur zu töten. Sondern vorher zu quälen. Und sei es aus purer Gleichgültigkeit. Betrachten Sie ihr Frühstücksei. Wie viele männliche Küken wurden geschreddert oder lebendig in den Abfall befördert, wo sie vom Gewicht vieler anderer zerquetscht wurden, weil sich ihre Aufzucht nicht rechnet. Und das nur, damit Sie am Morgen genüsslich das weiche Weiß mit gelbem Kern verspeisen können.
- Das mit dem Schreddern verdrängt man gerne.
- Was ist mit dem Fleisch, das Sie essen? Dem Schnitzel in ihrem Teller?
- Paniert und gebraten schmeckt es sehr lecker.
- Dabei gehörte es zu einem Lebewesen. Schweine sind sehr intelligent und verspielt. Und werden, um unseren Gaumen zu schmeicheln und gierigen Mägen zu füllen, auf engstem Raum herangezogen, so dass sie sich kaum bewegen können, um getötet zu werden, sobald sie ausgewachsen sind.
- Tatsächlich erregt rohes Fleisch aus diesem Grunde eher meinen Ekel. Aber gegrillt mit Sauce ist es köstlich. Noch lieber esse ich Wurst; da ist die Vorstellung, dass meine Speise einst Teil des Körpers eines fühlenden Wesens war, eher abstrakt.
- Das kann ich verstehen.
- Aber mit diesen Essensgewohnheiten stehe ich doch nicht alleine da. Was ist mit allen anderen Menschen mit konventionellem Speiseplan?
- Die sind hier nicht relevant.
- Wer sind Sie nur? Vielleicht mein Gewissen?
- Eine sehr treffende Metapher für das, was ich tatsächlich bin.
- Ich habe nie verstanden, was Erbsünde ist. Schuld zu sein durch die bloße Existenz.
- Jetzt gehen Ihre Gedanken in die richtige Richtung. Wenn ich auch von allzu religiösen Begriffen wenig halte. Aber dieser enthält einen wahren Kern.
- Zumindest wird mir meine Schuld wieder bewusst. Selbsterkenntnis ist der beste Weg zur Besserung, sagt man.
- Und lehnt sich zurück. Im Glauben, die eigenen Abgründe auszuloten.
- Aber?
- Wer sagt Ihnen, dass Sie nicht nur an der Oberfläche kratzen? Inwiefern Ihre Selbsterkenntnis reicht, können Sie selbst nicht ahnen. Das ist das Dilemma.
- Sie sind unerbittlich.
- Zu Ihrem Glück reicht mein Geld nicht länger. Ich bin altmodisch und telefoniere noch von einem Automaten. Noch dreißig Cent.
- Gott sei Dank. Ich bitte um Verzeihung.
- Schon gut. Ich nehme es nicht persönlich. Aber ich melde mich wieder. Noch zwanzig Cent.
- Ich weiß.
- Noch zehn Cent. Ich sag schon mal guten Abend.
- Guten Abend.
- Wir bleiben in Kontakt.
Ein Klick, und die Leitung war tot.
Aber nicht für immer.
Inzwischen wurde es draußen langsam dunkel. Eine Hand stellte den Hörer in die Ladebox. Schlurfend bewegte der Mann sich von dannen. Hinter ihm versank das anthrazitfarbene Telefon langsam in Finsternis. Nunmehr still, und drohend.
- Bert Krämer, hallo?
- Guten Tag, Herr Krämer.
- Wer ist am Apparat?
- Mein Name tut nichts zur Sache. Nur das, was ich gesehen habe.
- Um was geht es?
- Überlegen Sie mal. Um Ihre Tat.
- Wovon reden Sie? Ich bin ein ehrbarer Bürger und habe mir nichts zu Schulden kommen lassen.
- Sind Sie sicher?
- Natürlich.
- Sie sind nicht aufrichtig.
- Okay. Sie meinen die Sache mit Eberhardt. Er hat mich gestern besucht. Es kam zu einem Streit und ich habe ihn erschlagen. In der Nacht habe ich seine Leiche in meinem Garten verscharrt. Offensichtlich haben Sie mich dabei beobachtet. Wie viel wollen Sie?
- Seien Sie nicht albern.
- Aber so läuft das doch in jedem Krimi.
- Sie übertreiben. Wie auch immer. Aber wir wissen beide, dass das nicht den Tatsachen entspricht.
- Ach?
- Sie haben keinen Menschen getötet.
- Natürlich nicht. Ich wollte Ihnen nur zeigen, wie absurd Ihr Anruf ist.
- Das steht Ihnen frei.
- Warum sollte ich mich überhaupt mit einem wildfremden Menschen unterhalten, der mich ungefragt anruft und mir irgend eine Untat unterstellt, aber seinen Namen nicht nennt?
- Das stimmt. Warum sollten Sie. Jedenfalls tun Sie es. Vielleicht sind Sie neugierig.
- Ich könnte auch einfach auflegen.
- Könnten Sie. Tun Sie aber nicht.
- Noch nicht.
- Sie sprachen von einer Untat. Dabei hatte ich noch gar nicht verraten, um was es geht.
- Sie würden mich sicher nicht anrufen, um mir zu sagen, dass Sie mich dabei beobachtet haben, wie ich eine alte Frau über die Straße geführt habe.
- Vermutlich nicht.
- Also, um was geht es?
- Denken Sie an Ihre Mahlzeiten.
- In der Kantine? Meinen Sie die Sache mit Herrn Underberg? Ich war nicht der Einzige, der über ihn spottete. Die Kollegen taten es auch.
- Kein Grund, es ihnen gleich zu tun. Zumal sich das Ganze über Monate hinzog.
- Er war aber auch ein komischer Kauz. Und das nicht nur, weil er Veganer war.
- Dabei haben Sie sich mit ihm auch einmal sehr nett unterhalten. Als Sie ihn einmal bei einem Spaziergang im Wald trafen.
- Ach, das wissen Sie auch? Da war doch niemand außer uns.
- Deshalb waren Sie auch freundlich zu ihm.
- Woher wissen Sie das?
- Ich weiß alles.
- Waren Sie hinter einem Busch versteckt?
- Unsinn.
- Sind Sie der Weihnachtsmann? Oder, besser gesagt, Knecht Ruprecht? Der sich übers Jahr alle guten und bösen Taten aller Kinder aufschreibt und sie gegeneinander aufrechnet, um den überwiegend guten Kindern Geschenke zu bringen und den überwiegend bösen Buben die Rute zu geben?
- Sie machen sich über mich lustig. Wie über Herrn Underberg.
- Warum reiten Sie weiter auf dieser Geschichte herum? Sein Tod war ein Unfall, das ist allgemeiner Konsens.
- Weil es bequem ist und niemand Schuld haben muss.
- Was Sie aber anders sehen?
- Sturz in die Düsterschlucht, weil er auf dem Brückengeländer gesessen habe und ausgerutscht sei. Kommen Sie.
- Sie meinen, jemand hat ihn gestoßen?
- Glaube ich nicht. Er ist gesprungen.
- Ach, hören Sie auf.
- Tief in Ihrem Innern ist Zweifel.
- Was wissen Sie schon von mir?
- Sehr viel. Mehr als Ihnen lieb ist.
- Zum Beispiel?
- Das Passwort für Ihren Arbeits-PC. Es lautet „GmZSN1K“.
- Nein!
- Aber sicher. Erst vor Kurzem haben Sie es geändert, am 8. März. Vorher hieß es „IETmW8“.
- Sie sind ein Hacker.
- Könnte ich dann auch sehen, was Sie denken?
- Sind Sie dazu in der Lage? Was geht mir denn gerade durch den Kopf?
- Plätschern, Rauschen. Fallendes Wasser. Nasse Materie, die sich ohnmächtig der Schwerkraft hingibt und in die Tiefe stürzt. Geräusche und Bilder einer Bergwanderung. In Österreich letzten Sommer, am 18. Juli.
- Autsch. Das wird mir langsam unheimlich.
- Kann ich verstehen.
- Wer sind Sie?
- Raten Sie nochmal.
- Ich kann gar nicht glauben, dass ich das denke, dass ich das frage. Aber sind Sie - Gott?
- Das ist eine Schöpfung des Menschen. Erschaffen aus dem Bedürfnis nach Halt angesichts dessen Sterblichkeit. Nach einer Möglichkeit der Manipulation. Der Gläubige ist brav und hofft, dass ihm der Allmächtige hilft, eine Prüfung zu bestehen, befördert oder gesund zu werden, einen Krieg zu gewinnen.
- Nun werden Sie philosophisch.
- Die Gottheit liebt den Menschen und erhebt ihn über die Tiere. Mach dir die Erde untertan. Eine Rechtfertigung, andere Lebewesen nicht nur zu töten. Sondern vorher zu quälen. Und sei es aus purer Gleichgültigkeit. Betrachten Sie ihr Frühstücksei. Wie viele männliche Küken wurden geschreddert oder lebendig in den Abfall befördert, wo sie vom Gewicht vieler anderer zerquetscht wurden, weil sich ihre Aufzucht nicht rechnet. Und das nur, damit Sie am Morgen genüsslich das weiche Weiß mit gelbem Kern verspeisen können.
- Das mit dem Schreddern verdrängt man gerne.
- Was ist mit dem Fleisch, das Sie essen? Dem Schnitzel in ihrem Teller?
- Paniert und gebraten schmeckt es sehr lecker.
- Dabei gehörte es zu einem Lebewesen. Schweine sind sehr intelligent und verspielt. Und werden, um unseren Gaumen zu schmeicheln und gierigen Mägen zu füllen, auf engstem Raum herangezogen, so dass sie sich kaum bewegen können, um getötet zu werden, sobald sie ausgewachsen sind.
- Tatsächlich erregt rohes Fleisch aus diesem Grunde eher meinen Ekel. Aber gegrillt mit Sauce ist es köstlich. Noch lieber esse ich Wurst; da ist die Vorstellung, dass meine Speise einst Teil des Körpers eines fühlenden Wesens war, eher abstrakt.
- Das kann ich verstehen.
- Aber mit diesen Essensgewohnheiten stehe ich doch nicht alleine da. Was ist mit allen anderen Menschen mit konventionellem Speiseplan?
- Die sind hier nicht relevant.
- Wer sind Sie nur? Vielleicht mein Gewissen?
- Eine sehr treffende Metapher für das, was ich tatsächlich bin.
- Ich habe nie verstanden, was Erbsünde ist. Schuld zu sein durch die bloße Existenz.
- Jetzt gehen Ihre Gedanken in die richtige Richtung. Wenn ich auch von allzu religiösen Begriffen wenig halte. Aber dieser enthält einen wahren Kern.
- Zumindest wird mir meine Schuld wieder bewusst. Selbsterkenntnis ist der beste Weg zur Besserung, sagt man.
- Und lehnt sich zurück. Im Glauben, die eigenen Abgründe auszuloten.
- Aber?
- Wer sagt Ihnen, dass Sie nicht nur an der Oberfläche kratzen? Inwiefern Ihre Selbsterkenntnis reicht, können Sie selbst nicht ahnen. Das ist das Dilemma.
- Sie sind unerbittlich.
- Zu Ihrem Glück reicht mein Geld nicht länger. Ich bin altmodisch und telefoniere noch von einem Automaten. Noch dreißig Cent.
- Gott sei Dank. Ich bitte um Verzeihung.
- Schon gut. Ich nehme es nicht persönlich. Aber ich melde mich wieder. Noch zwanzig Cent.
- Ich weiß.
- Noch zehn Cent. Ich sag schon mal guten Abend.
- Guten Abend.
- Wir bleiben in Kontakt.
Ein Klick, und die Leitung war tot.
Aber nicht für immer.
Inzwischen wurde es draußen langsam dunkel. Eine Hand stellte den Hörer in die Ladebox. Schlurfend bewegte der Mann sich von dannen. Hinter ihm versank das anthrazitfarbene Telefon langsam in Finsternis. Nunmehr still, und drohend.