Der Antrieb einer guten Geschichte

Stellt euch vor, ihr habt alles für eure Geschichte, was ich braucht um losfahren zu können. Ihr habt das Auto (=das Grundgerüst), das Navi, das euch sagt, wo die Reise hingehen soll (=die Handlung der Geschichte), die Passagiere (=Charaktere), aber aus irgend einem Grund will das Auto einfach nicht fahren. Etwas fehlt: der Antrieb.

Vielleicht wart ihr schon einmal in einer ähnlichen Situation. Ihr habt einen Film gesehen oder ein Buch gelesen, das eigentlich schon ganz interessant war. Die Charaktere waren sympathisch, das Setting war gut, die Geschichte war unterhaltsam und witzig, aber irgendwie hat die Geschichte einfach nicht richtig gezündet und das obwohl ihr euch nicht erklären konntet warum. Die Geschichte hat sich angefühlt wie eine 0815-Geschichte, obwohl sie eigentlich keine sein sollte.
Oder hier ein anders Beispiel. Ihr zappt durch die TV-Programme und bleibt – obwohl euch das vielleicht sogar total anödet – bei dieser einen schnulzigen Liebesromanze hängen. Die Charaktere haben nichts außergewöhnliches zu bieten und sind einfach nur zwei Menschen, die ihr Leben leben. Womöglich schämt ihr euch sogar ein bisschen, dass ihr überhaupt auf dem Programm hängen geblieben seid, doch irgendetwas daran hindert euch daran, wegzuschalten. Vielleicht wollt ihr es euch selbst nicht eingestehen, aber aus irgend einem Grund, wollt ihr einfach wissen, wie es mit den beiden Protagonisten weitergeht.

Ich glaube, der Grund dafür ist der sogenannte Drive (=Antieb). Davon steht – jedenfalls soweit ich weiß – nichts in gewöhnlichen Büchern für Jungautoren, die erklären, wie man eine Geschichte schreibt. Das liegt wohl daran, dass das einerseits schwer in Worte zu fassen ist und andererseits wohl ein wenig über den rein technischen Aspekt einer Geschichte hinaus geht. Ich denke am einfachsten zu erklären ist das anhand eines Beispiels.

Der Pate (insbesondere Teil 2)
Wer die Filme gesehen oder die Bücher gelesen hat, wird mir vermutlich zustimmen, dass die Geschichte rein nüchtern betrachtet, eigentlich ziemlich langweilig ist. Ein paar Mafiosi streiten sich darum, wie es mit der Familie weitergeht. Das ist nichts Besonderes. Als ich den ersten Teil zum ersten Mal sah, fiel mir auf, dass den ganzen Film lang kaum etwas passierte, außer, dass sich die Charaktere unterhalten haben und ich konnte nicht richtig nachvollziehen, warum der Film so besonders sein soll. Erst als ich den zweiten Teil sah, wuchs mein Verständnis für das Erzählen von Geschichten. Die Hälfte des Films sehen wir, wie Vito Corleone sein Imperium zum Wohle seiner Freunde und Familie aufbaut, während wir in der anderen Hälfte sehen, wie sein späterer Sohn Michael eben dieses Imperium sowie Freunde und Familie auf dem Weg nach Macht Stück für Stück verliert. Dabei werden mehreren gegenüber gestellten Szenen zwei völlig unabhängige Geschichten erzählt, die jede für sich ziemlich langweilig wären. Doch in der Kombination und den direkten Gegenüberstellungen hat mich so sehr beeindruckt, dass ich immer weiter sehen wollte.

Gegensätze ziehen sich an
Es ist das einfache Prinzip des Gegensatzes, das hier angewendet wird. Wie schon gegensätzlich geladene Magnete sich anziehen, trifft das auch auf Geschichten und deren Charaktere zu. Wer den Film Titanic gesehen hat, wird unweigerlich auch hier den krassen Gegensatz zu der versnobten Adelsgesellschaft der Reichen und der verarmten Arbeiterklasse bemerkt haben. Ich für meinen Teil habe am Ende des Films Rotz und Wasser geheult. Und das liegt nicht zuletzt am Prinzip des Gegensatzes. Einerseits weil die Gegenüberstellung von Adel und Armut so gut funktioniert hat und der Film zeigt, dass beides am Ende keinen Wert besitzt und andererseits weil sich Mann und Frau so verschieden sind, dass sie sich unweigerlich anziehen. Letzteres trifft so ziemlich auf jede gute Liebesgeschichte zu und ist auch der Grund dafür warum wir Männer und in Frauen verlieben und umgekehrt.
Der Pate macht dies ebenfalls richtig indem er zwei Charaktere gegenüberstellt, die zwar das gleiche Ziel haben, jedoch auch zwei völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sie dieses erreichen wollen.
Dieses Prinzip ist auf so ziemlich alles und jeden übertragbar. Will man eine Geschichte über Rassismus schreiben setzt man einen rassistischen Hauptcharakter ein, der sich im Laufe der Handlung immer mehr zum Guten wandelt. So hat man ebenfalls eine Gegenüberstellung des Protagonisten am Anfang und des Protagonisten am Ende der Geschichte. Obwohl man zweimal denselben Charakter hat, könnten sich diese unterschiedlicher nicht sein.
Oder ihr seht euch Superman an. Den Jesus-ähnlichen Übermenschen, der in einer korrumpierten und falschen Welt versucht das Richtige zu tun und legitime Werte durchzusetzen. Auch hier haben wieder eine Gegenüberstellung. Auf der einen Seite die kaputte Welt und auf der anderen den rechtschaffenen Hauptcharakter, der immer noch an das Gute glaubt.

Damit will ich sagen, so ziemlich alle großen Filme, Bücher und Geschichten bedienen sich auf die ein oder andere Weise des Prinzips des Gegensatzes. Der kann dabei in allen möglichen Formen auftreten, ist aber so gut wie immer gegeben. Und ich denke, diese bewusste Gegenüberstellung von Gegensätzen in Form von Szenen, Charakteren, Welten, etc. ist es, die den eigentlichen Antrieb einer Geschichte darstellen. Erst dadurch wird im Zuschauer oder Leser etwas ausgelöst, dass ihn wirklich fesselt und bei der Stange hält. Zumindest geht das mir so, aber ich möchte wetten, dass ich damit nicht der einzige bin.
 

jon

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Doch doch, in Schreibratgebern steht das durchaus. Dort heißt es in der Regel "Konflikt" - Konflikt zwischen Held und Umwelt, Anspruch/Sehnsucht und Realität, Intention und Mittel, zwischen Figuren oder was auch immer.
 

jon

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Du hast Schreib-Ratgeber gelesen, in denen nicht mal ansatzweise von Konflikt, Zuspitzung und Lösung (also dem Grundmuster des Spannungsbogens) die Rede war?? Die gehören dann alle auf die "Finger weg!"-Liste.
 
Also viele habe ich nicht gelesen, zumal sie mir nicht viel weitergeholfen haben, da letztlich überall das gleiche drin steht, was ich meist eh schon weiß. Hinzu kommt, dass ich gerne unorthodoxe Wege gehe, wie man sicherlich auch an meinen anderen Post sehen kann. Ich denke, das hängt mit der Anzahl an Filmen und Anime zusammen, die ich bisher gesehen habe. Irgendwann hatte ich einfach das Gefühl, dass ich jede Story in der ein oder anderen Form schon 5x gesehen hatte und habe angefangen mich mehr mit der Thematik „Wie funktionieren Filme“ zu beschäftigen, nicht zuletzt weil ich mir selbst Inspirationen für meine eigenen Geschichten holen wollte, in wie weit man die verbessern kann. Aber bis auf die Grundlagen wie eine 3-Akt-Struktur oder einen Spannungsbogen, habe ich mir eig. alles selbst erarbeitet.
 

jon

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Stimmt: Um das Machen von Kopf-Kino-Filmen zu lernen, ist Filme-Ansehen wirklich hilfreich. Sowohl mit Blick auf die analogen Elemente als auch beim Bewusstmachen der Unterschiede zwischen Text und Film.
 

Aerdna

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Bitte entschuldigt, wenn ich mich zu Wort melde, denn ich bin noch ganz neu in Euren Reihen. Selbstverständlich habe ich auch schon ein paar Schreib-Ratgeber gelesen, aber nicht so klar verstanden, wie den Artikel von Atsuna. Im Schreib-Ratgeber wird der Konflikt genannt, das bedeutet für mich stets Kampf. Gegensatz - so finde ich - ist ein besseres Wort dafür. Es lässt mich gleich verschiedene Wege erkennen, mit denen ich arbeiten kann. Vielen Dank, Atsuna!
 
Hallo Aerdna,



ich glaube du vermischt da einige Dinge. Ein Konflikt ist etwas anderes als ein Antrieb und ein Antrieb ist etwas anderes als ein Gegensatz. Alle drei der genannten Begriffe sind Tropen, bzw. Elemente, die in einer guten Geschichte zu finden sein sollten.

Ein Gegensatz ist nicht mehr und nicht weniger als eine Gegenüberstellung zweier entgegengesetzter Pole. Ein gutes Beispiel dafür ist ein Charakterduo, das immer wieder in Geschichten verwendet wird. Der eine ist groß und stark, aber ein wenig minderbemittelt. Der andere ist klein und schwach, dafür aber recht schlau. Das sieht man in Asterix und Obelix, in Guardians of the Galaxy mit Rocket und Groot, in Pinky und Brain und in vielen anderen Geschichten. Aber nur durch diese Charaktere bekommt die Geschichte noch keinen Antrieb. Und ein Konflikt ist hier auch nicht zwingend vorhanden. So eine Gegenüberstellung kann aber auch subtiler verpackt sein. Bei einer anti-rassistischen Geschichte, kann der Hauptcharakter z.B. ein Schwarzer sein, der Antagonist aber ein alter, weißer Rassist. Auch das ist eine Gegenüberstellung. Genauso ist funktioniert die Gegenüberstellung von Mann und Frau recht gut, besonders in Dramen. Aber all das hat per se mit einem Antrieb nichts zu tun.

Zum Thema Konflikt können sich andere sicherlich besser äußern. Soweit ich weiß gibt es 7 Arten von Konflikten. Auch hier werden Dinge gegenüber gestellt. Zum Beispiel Mensch gegen Gott (z.B. griechische Sagen), Mensch gegen Natur (Titanic, Day after tomorrow), Mensch gegen Mensch oder Mensch gegen sich selbst (innerer Konflikt). Aber hier werden nicht unbedingt Gegenpole verwendet. Sie können, müssen aber nicht.
Interessant finde ich hier lediglich das Phänomen, dass Konflikte in Geschichten so gut funktionieren, weil der Mensch ein vom Konflikt getriebenes Lebewesen ist. Das ist war jetzt weit her geholt und taucht ein wenig in die Philosophie ein, aber ich glaube, dass unser Gehirn einerseits wie das eines Tieres funktioniert. Wir haben niedere Instinkte, die unsere Handlungen und unser Denken beeinflussen. Gleichzeitig haben wir als Mensch aber auch die Fähigkeit entwickelt uns unserer selbst bewusst zu werden. Damit können wir unseren niederen Instinkten trotzen, sie aber nicht auslöschen. Und ich denke, dass daraus ein innerer Konflikt in jedem Menschen entsteht, der uns alle in irgendeiner Form antreibt.

Trotzdem hat so ein Konflikt per se nichts mit einem Antrieb zu tun. Aus solch einem Konflikt kann ein Antrieb entstehen, muss aber nicht. Was ich mit einem Antrieb meine, ist fernab jeder Gegenüberstellung, jedes Konfliktes und jedes Spannungsbogens dieser innere Trieb in uns, der und ein Buch weiterlesen, was uns eine Serie weitersehen lässt, das was uns im Kopf bleibt. Eine Geschichte kann spannend sein und Interesse wecken. Vllt. liest man das Buch auch bis zu Ende, aber dann legt man das Buch weg und 1 Monat später hat man alles daraus vergessen. Aber jeder kennt mindestens 1 Geschichte, die einem besonders in Erinnerung bleibt. Ein Buch, das man immer wieder lesen oder ein Film, den man immer wieder sehen kann.
Titanic ist so erfolgreich geworden, weil der Film sich Gegensätzen bedient, daraus Konflikte baut und dadurch einen Antrieb bekommt. Wir haben Mann vs. Frau, Geld vs. Liebe, Mensch vs. Natur. Da sind so viele Gegenüberstellungen dabei, die alle unter einem Thema stehen und damit verbunden werden. Dadurch wurde der Film zu dem Epos, an den man sich selbst nach 25 Jahren noch erinnert.

Oder um es kurz zu fassen: Ein Konflikt kann sich Gegensätzen bedienen. Und ein Antrieb kann aus Konflikten entstehen. Trotzdem sind das 3 völlig verschiedene Dinge, die aber gerne zusammen verwendet werden.
 

Patrick M.

Mitglied
Es gibt ja durchaus Schreibübungen, die eigens darauf abzielen, Kontraste herauszuarbeiten und zuzuspitzen, z.B. zwei Charaktere bewusst so entwerfen, dass es eigentlich sofort krachen muss. Dann lässt man sie handeln oder legt ihnen einen belanglosen Dialog in den Mund und die Sache eskaliert dann fast von selbst. Und das macht uns ja neugierig: Bringen sie einander um, trennen sie sich so dumm wie zuvor oder lernen sie was draus?
 



 
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