Der Apfelschuss

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Cornelius

Mitglied
Heut früh, als ich im Wipfel döste,
da hätte ich es nicht geglaubt,
dass man so bald vom Zweig mich löste,
mich legte auf ein Knabenhaupt.

Warum denn mich - und keine Birne?
Die hätte doch in ihrer Pracht
auf dieses Heldensprosses Stirne
weit bessere Figur gemacht.

Mir wurde gleich ein wenig bange,
als dieses Kind zum Vater rief:
"Ei, sieh den Hut dort auf der Stange!"
Da ahnte ich: Das Ding geht schief.

Der Tell wird nicht im Staube liegen
vor solch banalem Requisit.
Ein Schweizer lässt sich nicht verbiegen,
man weiß das schon aus manchem Lied.

Und solch ein Schuft von Kaisers Gnaden,
wie dieser Landvogt einer ist,
der sinnt in seines Geistes Schwaden
mit Freuden auf perfide List.

Ich werde zum Dessert heut dienen,
gleich trifft mich Tells Geschoss ins Mark.
Serviert mich bloß nicht mit Rosinen!
Es reicht ein Klecks von süßem Quark.

Und wird mein Saft sich nicht ergießen
hier auf dem Dorfplatz weit und breit,
des Knaben Blut statt dessen fließen,
so ist ein zweiter Pfeil bereit.

So will es wohl der Lauf der Dinge:
Von uns wird einer gleich zu Matsch.
Ich wünsche, dass der Schuss gelinge.
O Schicksal, mach jetzt keinen Quatsch!
 

petrasmiles

Mitglied
Gefällt mir ausgesprochen gut!
Ein sehr humorvoller Perspektivwechsel, der auch noch quasi auf Apfelniveau Geschichte erklärt ...

Liebe Grüße
Petra
 

Mimi

Mitglied
Eine sehr gelungene lyrische Darbietungen aus Schillers Wilhelm Tell – mit witziger Note.

Auch ich habe Deine fruchtig-humorvollen Zeilen sehr gerne gelesen! :)

Gruß
Mimi
 

anbas

Mitglied
Moin,

ich habe endlich mal wieder die Zeit, hier etwas über die grüne Wiese zu schlendern, ein paar Sterne zu verteilen und hier und da auch etwas Senf zu hinterlassen.

Inzwischen habe ich bereits einige von Deinen Gedichten gelesen, und bin froh, sie entdeckt zu haben. Auch dieses hier gefällt mir gut. Eine Kleinigkeit wäre aus meiner Sicht hier zu überlegen, um das doppelte "mich" zu verhindern (was mir nicht so gut gefällt):
Heut früh, als ich im Wipfel döste,
da hätte ich es nicht geglaubt,
dass man so bald vom Zweig mich löste,
mich und legte auf ein Knabenhaupt.
Liebe Grüße

Andreas
 



 
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