Der Apotheker

Kyra

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Zögernd folgte Wawa ihrer Urgroßmutter in die Apotheke.
Sie blieb im Schatten der schwarz gekleideten alten Dame, die mit der angespannten Ruhe einer Generalin, die feindliches Gebiet betritt, in das Geschäft schritt.
Sie blieb so lange in der Mitte des Raumes stehen, bis die Apothekerin eine Kundin fertig bedient hatte und diese mit einem leisen Abschiedsklingeln aus der Tür getreten war. Dann trat Wawas Urgroßmutter entschlossen an die Theke. Die Frau des Apothekers eilte geflissentlich zu ihr, wurde aber mit einer Handbewegung entlassen. Wawa versuchte hinter einem Ständer mit Fußpflegeprodukten unsichtbar zu werden, als sie ihre Urgroßmutter sagen hörte,
„Ich habe mit ihrem Mann zu sprechen“
Der Apotheker zählte murmelnd Tropfen, die er von einer kleinen Flasche in ein braunes Glas füllte. Wawa beobachtet seinen Gesichtsausdruck. Er hatte schon längst gemerkt, welches Unheil sich zusammenbraute, versuchte aber den Eindruck zu machen, in seine Arbeit vertief zu sein. Einen Augenblick versuchte er noch weiterzuzählen, dann hob er den Blick mit einer Mischung aus falscher Freundlichkeit und ehrlicher Abwehr. Wawa genoss sein offensichtliches Unbehagen, bestimmt hat er jetzt feuchte Hände, dachte sie höhnisch. Er stellte die Flaschen langsam ab, Wawa grinste, als sie hörte, wie hart das Glas trotzdem auf die Arbeitsfläche schlug. Er wischte seine Hände an einem alten Küchenhandtuch ab, während er zur Urgroßmutter trat. Der Apotheker blieb leicht gebeugt einen Schritt vor der Theke stehen. Er sah aus, als hätte er eine Gesichtslähmung, nur die Lippen bewegten sich, als er fragte,
„Was kann ich für sie tun, Exzellenz?“
Alle sprachen Wawas Urgroßmutter so an, das war normal. Was nicht normal war und Wawa Angst machte, war sein Blick. Er sah während er sprach so hasserfüllt aus dem Fenster, dass Wawa sich unwillkürlich umdrehte. Dort war nichts Ungewöhnliches zu sehen, eine Straßenbahn bog mit metallischem Kreischen in die abschüssige Strasse, eine junge Frau rannte vorbei und zerrte einen kleinen Jungen hinter sich her. Sie versuchten wohl, es noch rechtzeitig zur Haltestelle zu schaffen.
Wawa sah wieder zum Apotheker. Ihre Urgroßmutter sprach mit tiefer, doch schneidender Stimme Worte, die Wawa nicht hören wollte. Weil sowieso keiner auf sie achtete, steckte sie schnell die Finger in die Ohren und begann zu summen. Ihr fiel grade kein anderes Lied ein als „Vom Himmel hoch, da komm ich her..“, aber das war völlig egal; Hauptsache die Ruhe eines Liedes.
Wawa wusste, was jetzt gesprochen wurde, sie wollte vorher schon nicht mit in die Apotheke gehen, aber ihre Urgroßmutter meinte, sie müsse mitkommen, damit sie lerne, keine Angst zu haben. Also stand sie hier mit versiegelten Ohren und beobachtete den schmalen, aber stolzen Rücken der Urgroßmutter, der unbeugsam der Körpermasse des Apothekers trotzte. Er war ein großer Mann, mit lockigem schwarzem Haar, das wie ein Adventskranz um seine glänzende Mitteglatze saß. Während er immer wieder den Kopf schüttelte, faltete und entfaltete er das Handtuch, das er noch immer in den Händen hielt. Vor diesen Händen hatte Wawa sich immer geekelt. Sie waren nicht nur auf den Handrücken dicht behaart, selbst jeder Finger trug zwei schwarze Haarbüschel. Wawa dachte immer, er sähe aus wie ein Affe, der sich als Apotheker verkleidet hatte. Sie mochte ihn nicht. Dabei war er immer sehr freundlich zu ihr, strich ihr mit den widerlichen Händen über die Wange und gab ihr Pfefferminzbonbons, während er mitleidig mit dem Kopf wackelte und „ts,ts,ts,…“ machte.
Jetzt war die Urgroßmutter hergekommen, um ihn zur Rede zu stellen.

Heute, am frühen Morgen hatte Wawas Mutter sie und die Urgroßmutter lautstark geweckt. Betrunken, mit aufgequollenem, blau geschlagenem Gesicht hatte sie sich auf das Bett der Urgroßmutter gesetzt und unter wütendem Schluchzen eine wirre Geschichte erzählt. Dabei hielt sie immer wieder ein Taschentuch vor ihren Mund, um dann die Blutflecke darauf der erschreckten Urgroßmutter dicht vor das Gesicht zu halten. Im morgendlichen Dämmerlicht sah Wawa, dass ein Auge ihrer Mutter ganz zugeschwollen war. Ihre Hände waren schmutzig, unter den zerrissenen Strümpfen sah sie die wundgeschürften Knie. Wawa versuchte das Kauderwelsch aus Deutsch und Russisch zu verstehen. Ihre Mutter hatte wohl wieder mal den Apotheker in der Nacht herauszuklingeln, um Schlaftabletten zu bekommen. Was dann passierte, war leicht zu begreifen. Erst hatte der Apotheker strikt abgelehnt, ihr noch Tabletten zu geben. Als sie sich nicht abweisen ließ, streckte er statt der Tabletten die geballte Faust durch die Nachtklappe. Weil das noch nicht reichte, die Mutter ruhig zu stellen, öffnete er schließlich die Tür und verprügelte sie. Wawas Mutter wiederholte fassungslos immer wieder den Satz,
„Er hat es gewagt, mich zu schlagen…, zu schlagen, als wäre ich eine Nutte“
Das Wort Nutte kannte Wawa zwar, wusste aber nicht genau, was es hieß. Das einzige, was sie wusste, war, für eine Nutte gehalten zu werden, war entsetzlich. Manchmal wurden solchen Frauen die Haare abrasiert, früher wurden sie sogar auch auf Scheiterhaufen verbrannt. Als Wawa ihre Urgroßmutter einmal danach fragte, meinte sie nur,
„Das sind Frauen die man kaufen kann. Manche tun es aus Geldgier, manche aus Not - aber es ist immer widerlich.“
Wawa fragte nicht weiter, obwohl sie nicht verstehen konnte, warum es widerlich war, etwas zu kaufen oder zu verkaufen. Nur wenn man etwas nicht bezahlte, war man ein Dieb, das wusste sie schon lange. Aber dass Kaufen auch schlecht sein konnte, war ihr neu.
Jetzt kauerte Wawas Mutter wie ein verletztes Tier auf der Bettkante und erzählte, wie der Apotheker sie trotz ihrer Hilferufe auf der nächtlichen Strasse verprügelt hatte. Dann verschwand er wieder in seinem Geschäft, schloss die Tür und ließ sie einfach dort liegen. Auf allen Vieren ist sie erst ein Stück gekrochen, bis sie wieder die Kraft hatte, sich aufzurichten und Nachhause zu wanken.
Wawa standen die Tränen in den Augen, nicht aus Mitgefühl, sondern weil der Wall der Unantastbarkeit den ihre Urgroßmutter immer um sie alle aufbaut hatte, zertrümmert war. Die Vornehmheit der alten Exzellenz war für Wawa immer ein unbezwingbarer Schutz vor allen denkbaren Angriffen gewesen. Jetzt saß ihre Mutter hier, blutig, schmutzig und gedemütigt. Wawas Wut richtete sich gegen ihre Mutter, ihr Hass gegen den Apotheker. Wütend war sie, weil sie genau spürte, dass die Mutter den sorgsam gehegten Damm mutwillig überbeansprucht hatte. Den Apotheker hätte Wawa ohne zu zögern sofort getötet, einmal damit niemand etwas von ihrer plötzlichen Schutzlosigkeit erfuhr, zum anderen, weil niemand es wagen durfte, ihre Mutter zu schlagen.
Später, nachdem die Urgroßmutter sich erst aufgeregt, dann gefrühstückt und sich mit viel schwarzem Tee in die richtige Stimmung versetzt hatte, war sie schließlich mit Wawa an der Hand zur Apotheke aufgebrochen.
Jetzt stand die alte Dame furchtlos dem Mann gegenüber, der das hübsche Antlitz von Wawas Mutter zu etwas Rotblaugrauem verwandelt hatte, etwas das Wawa an einen Kopf aus Plastilin erinnerte, nachdem sie einen Finger hineingedrückt hatte.
Wawa Finger steckten fest in den Ohren, sie wollte auch nicht mehr zusehen, wie das Gesicht des Apothekers langsam zornesrot wurde. Inzwischen faltete er das Handtuch nicht mehr, sondern wischte damit heftig die Glasplatte der Theke ab. Er sprach aber offenbar trotz seiner Wut mit leiser Stimme, Wawa konnte nur ein Murmeln vernehmen, als sie sich abwandte und zum Fenster ging, um hinauszusehen. Jetzt, am Vormittag, belebte sich die Strasse, Frauen mit Einkaufstaschen oder Kinderwagen waren jetzt eilig unterwegs und versuchten ungeduldig, die müßigen Rentner auf dem schmalen Bürgersteig zu überholen.
Wawa beobachtete eine elegante alte Dame in einem hellgrauen Schneiderkostüm mit passendem Sommerhut, sie blieb vor der Apotheke stehen, um die Strasse zu überqueren. Sie betrat die Fahrbahn vorsichtig, sie ging sehr langsam und stützte sich schwer auf eine Krücke. Als die alte Frau sich den Straßenbahnschienen näherte, ertönte ein gellendes Gebimmel, was nicht mehr aufhören wollte. Wawa sah die Straßenbahn kommen, der Fahrer schien sein Tempo nicht zu verlangsamen, sondern nur zu klingeln, damit die Frau stehen blieb. Die alte Dame sah kurz zur Bahn hin, setzte aber ihren Weg unbeirrt fort. Jetzt kam zu dem Gebimmel das Kreischen der Bremsen hinzu. Wawa sah atemlos wie die Straßenbahn mit Funken sprühenden Rädern immer näher kam. Als wolle sie den Bahnfahrer provozieren, blieb die Frau mitten auf den Gleisen stehen. Die Bahn kam kaum einen Meter vor ihr zum Stillstand. Während der Fahrer sich aus dem Fenster beugte und mit drohend geballter Faust zu ihr hinab schrie, ging sie ohne ihn zu beachten auf die andere Straßenseite. Wawa war so aufgeregt, dass sie sogar die Finger aus den Ohren genommen hatte, ohne es zu merken. Als sie sich aufgeregt umdrehte, um alles ihrer Urgroßmutter zu erzählen, sah sie erstaunt, wie diese vom Apotheker und seiner Frau höflich begleitet auf die Tür zusteuerte. Wawa sah an ihrem Gesicht, dass sie gewonnen hatte. Glücklich lief sie zu ihr, drängte den Apotheker beiseite und zog sie aus der Tür, um ihr alles zu berichten. Als sie das Geschäft verließen, machte der Apotheker eine tiefe Verbeugung.
 

Renee Hawk

Mitglied
Hallo Kyra,

ich lese es heute Abend noch ...

Wawa und der Hund, fand ich nicht so schlimm ... normale Entwicklung eines Kindes, oder?! Wollt ich nur noch schnell gesagt haben.

liebe Grüße
Reneè
 



 
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