Matteo stand vor dem Schild und las:
"Wegen dringender Reparaturarbeiten ist der Lift von 27. 8. bis 28. 8. außer Betrieb. Wir bitten um Ihr Verständnis."
Verdammte Scheiße! Er trat mit dem Fuß gegen die Tür, so als ob die Monteure ihn hören könnten und es mit der Angst bekommen würden.
Auf dem Weg in den ersten Stock fiel ihm ein, dass man in alten Zeiten "Verständnis" mit einem scharfen "s" geschrieben hatte, so wie "Vermächtniß" oder "Gedächtniß". Es schien ihm passender als das lauwarme "Verhängnis" oder "Gefängnis" und erst recht die "Bedrängnis". Diese Worte brauchten ein scharfen Ausklang. Das lag im Wesen ihrer Bedeutung, so wie das zum Umlaut gebogene "a" in ihrer Mitte das Zustandshafte zu Ausdruck brachte. Er würde noch heute und morgen Verständnis haben müssen. Und das war verflucht lange. Der Gedanke führte nicht weiter als bis in den zweiten Stock. Dort stand eine alte Frau vor der Tür und trocknete ihre Hände an der Schürze,
"Was machen Sie da!" herrschte sie ihn an. "Wenn Sie hausieren wollen, gehen Sie zu den reichen Leuten. Bei mir ist nichts zu holen!"
Matteo antwortete nicht, weil er sie nicht kannte, aber ahnte, dass sie die Verrückte war, die nachts ihre Nachbarn herausläutete und beschuldigte, bei ihr eingebrochen zu haben. Auch hier war offenbar Verständnis am Werk. Nicht im eigentlichen Sinn, sondern so, wie es die Liftmonteure meinten. Niemand wollte für ihre Einweisung in ein Pflegeheim verantwortlich sein. Man wollte sich ihr Geschrei und ihre Tränen ersparen und hielt still, auch weil man nicht wusste, ob man im Alter womöglich ähnlich aus dem Ruder laufen und auf die Geduld der Nachbarn angewiesen sein würde. Warum sie glaubte, dass Einbrecher zu ihr kamen, verstand natürlich niemand.
Im dritten Stock musste Matteo ein wenig verschnaufen. Peinlich, weil er einmal pro Woche ins Fitness-Studio ging und noch drei Stockwerke vor sich hatte. Hier war alles still, laut nur der Geruch, der von den vielen Schuhen aufstieg, die neben den Türmatten standen. Zwei Mieter hatten auch ihre Müllsäcke dazugestellt. In einer Ecke lehnte ein Fahrrad. Das alles wirkte grindig und herzlich. Auf einer Tür war in Kinderschrift "Willkommen" gemalt, an einer anderen hing ein Trockenblumenkranz und auf einer Türmatte stand "Endlich daheim". Eine große Mieterfamilie hauste hier. Man durfte sich Milch oder Eier, aber auch einmal einen Joint ausborgen. Verständnis war hier nicht nötig, denn wer hier wohnte, verstand das Unbehagen vor anonymen Türen, vor blankgeputzten Klinken und sauberen Türmatten, vor den Wohnungen der Geheimniskrämer und Ungemütlichen. Wahrscheinlich waren hier alle per-Du und besuchten einander in Socken. - Ein wenig angewidert setzte er seinen Aufstieg fort.
Das vierte Stockwerk hätte Matteo gern ausgelassen. Und natürlich nutzte sie die Gelegenheit, dass er durchs Stiegenhaus musste, stand in der halbgeöffneten Tür und lächelte verlegen. Er rief "Servus!" und "Das ist kein Sport für einen alten Mann!"
"Wie geht's dir denn?" fragte sie leise und er blieb stehen, blieb tatsächlich stehen, wie vor einem Jahr, als er den Lift für sie anhielt und half, eine Bananenstaude ein- und auszuladen, um sie anschließend in ihr Wohnzimmer zu schleppen. Dort führte eins zum anderen in einem erstaunlichen Tempo, das ihm eigentlich fremd war. Zwei Tage später kam sie zu Besuch und brachte eine rote Flamingoblume mit, deren Anwesenheit das Gespräch wie von selbst ins Schlüpfrige gleiten ließ. Und so kam wieder eins zum anderen. Nach zwei Wochen wollte er sie herausläuten, um ihr zu sagen, dass die Affäre ein Ende haben musste, weil ein koitales Nachbarschaftsverhältnis zum einen peinlich, zum anderen heikel war. Man würde über sie und ihn tratschen und einander im Falle einer Trennung nicht ausweichen können. Sie zeigte Verständnis, wollte die Angelegenheit aber lieber bei einem Glas Wein besprechen. Die leere Flasche lag dann auf dem Bettvorleger, aber sie war bereit, in eine andere Wohnung zu übersiedeln.
Das hatte sie natürlich nicht getan, sondern stand jetzt in der Tür und wartete auf eine Antwort. Als er nur lautstark schnaufte und mitleidheischend zu lächeln versuchte, zog sie die Tür wieder zu und sagte: "Dann schönen Abend noch."
Im Weitergehen dachte er, dass sie eigentlich recht hübsch und auch irgendwie witzig war, obwohl sie in ihrem Beruf als Altenpflegerin wenig zu lachen hatte. Vielleicht war ihr sexueller Appetit mit diesem Beruf zu erklären, als Antidot zu Alter, Krankheit und Sterben.
Im fünften Stock saß ein junger Mann auf einer Fensterbank und rauchte eine Zigarette. Matteo kannte ihn flüchtig von gemeinsamen Liftfahrten.
"Haben Sie sich ausgesperrt?" fragte er.
"Es ist mir neuerdings nicht erlaubt, in meiner Wohnung zu rauchen!" pfauchte er junge Mann. "Ich kann sie an die Bettpfosten binden, ihr den Arsch versohlen oder sie an den Haaren durch die Zimmer schleifen, aber wenn ich mir eine Zigarette anzünde, flippt sie aus! Verstehen Sie das ?! - Sie verstehen es nicht, weil ein vernünftiger Mensch das nicht verstehen kann. Es ist nämlich nicht so, dass sie sich um meine Gesundheit sorgen macht. Oh nein! Sie glaubt, dass MEIN Rauchen SIE krank macht! Ist sie Asthmatikerin? Keineswegs! Ich kann sie würgen bis sie blau wird! Aber wenn ich einen Zug nehme, fängt das dumme Stück zu hüsteln an. Verstehen Sie?! Noch ehe ich den Rauch ausgeatmet habe! - Und jetzt steht sie hinter der Tür und belauscht uns!"
Matteo ließ ihn weiterkeifen und beeilte sich, in den sechsten Stock zu kommen. Daheim auf der Couch rief er im Büro an. Er brauchte für den 28. August dringend einen Homeoffice-Tag. Den Abend im Sportstudio ließ er ausfallen.
"Wegen dringender Reparaturarbeiten ist der Lift von 27. 8. bis 28. 8. außer Betrieb. Wir bitten um Ihr Verständnis."
Verdammte Scheiße! Er trat mit dem Fuß gegen die Tür, so als ob die Monteure ihn hören könnten und es mit der Angst bekommen würden.
Auf dem Weg in den ersten Stock fiel ihm ein, dass man in alten Zeiten "Verständnis" mit einem scharfen "s" geschrieben hatte, so wie "Vermächtniß" oder "Gedächtniß". Es schien ihm passender als das lauwarme "Verhängnis" oder "Gefängnis" und erst recht die "Bedrängnis". Diese Worte brauchten ein scharfen Ausklang. Das lag im Wesen ihrer Bedeutung, so wie das zum Umlaut gebogene "a" in ihrer Mitte das Zustandshafte zu Ausdruck brachte. Er würde noch heute und morgen Verständnis haben müssen. Und das war verflucht lange. Der Gedanke führte nicht weiter als bis in den zweiten Stock. Dort stand eine alte Frau vor der Tür und trocknete ihre Hände an der Schürze,
"Was machen Sie da!" herrschte sie ihn an. "Wenn Sie hausieren wollen, gehen Sie zu den reichen Leuten. Bei mir ist nichts zu holen!"
Matteo antwortete nicht, weil er sie nicht kannte, aber ahnte, dass sie die Verrückte war, die nachts ihre Nachbarn herausläutete und beschuldigte, bei ihr eingebrochen zu haben. Auch hier war offenbar Verständnis am Werk. Nicht im eigentlichen Sinn, sondern so, wie es die Liftmonteure meinten. Niemand wollte für ihre Einweisung in ein Pflegeheim verantwortlich sein. Man wollte sich ihr Geschrei und ihre Tränen ersparen und hielt still, auch weil man nicht wusste, ob man im Alter womöglich ähnlich aus dem Ruder laufen und auf die Geduld der Nachbarn angewiesen sein würde. Warum sie glaubte, dass Einbrecher zu ihr kamen, verstand natürlich niemand.
Im dritten Stock musste Matteo ein wenig verschnaufen. Peinlich, weil er einmal pro Woche ins Fitness-Studio ging und noch drei Stockwerke vor sich hatte. Hier war alles still, laut nur der Geruch, der von den vielen Schuhen aufstieg, die neben den Türmatten standen. Zwei Mieter hatten auch ihre Müllsäcke dazugestellt. In einer Ecke lehnte ein Fahrrad. Das alles wirkte grindig und herzlich. Auf einer Tür war in Kinderschrift "Willkommen" gemalt, an einer anderen hing ein Trockenblumenkranz und auf einer Türmatte stand "Endlich daheim". Eine große Mieterfamilie hauste hier. Man durfte sich Milch oder Eier, aber auch einmal einen Joint ausborgen. Verständnis war hier nicht nötig, denn wer hier wohnte, verstand das Unbehagen vor anonymen Türen, vor blankgeputzten Klinken und sauberen Türmatten, vor den Wohnungen der Geheimniskrämer und Ungemütlichen. Wahrscheinlich waren hier alle per-Du und besuchten einander in Socken. - Ein wenig angewidert setzte er seinen Aufstieg fort.
Das vierte Stockwerk hätte Matteo gern ausgelassen. Und natürlich nutzte sie die Gelegenheit, dass er durchs Stiegenhaus musste, stand in der halbgeöffneten Tür und lächelte verlegen. Er rief "Servus!" und "Das ist kein Sport für einen alten Mann!"
"Wie geht's dir denn?" fragte sie leise und er blieb stehen, blieb tatsächlich stehen, wie vor einem Jahr, als er den Lift für sie anhielt und half, eine Bananenstaude ein- und auszuladen, um sie anschließend in ihr Wohnzimmer zu schleppen. Dort führte eins zum anderen in einem erstaunlichen Tempo, das ihm eigentlich fremd war. Zwei Tage später kam sie zu Besuch und brachte eine rote Flamingoblume mit, deren Anwesenheit das Gespräch wie von selbst ins Schlüpfrige gleiten ließ. Und so kam wieder eins zum anderen. Nach zwei Wochen wollte er sie herausläuten, um ihr zu sagen, dass die Affäre ein Ende haben musste, weil ein koitales Nachbarschaftsverhältnis zum einen peinlich, zum anderen heikel war. Man würde über sie und ihn tratschen und einander im Falle einer Trennung nicht ausweichen können. Sie zeigte Verständnis, wollte die Angelegenheit aber lieber bei einem Glas Wein besprechen. Die leere Flasche lag dann auf dem Bettvorleger, aber sie war bereit, in eine andere Wohnung zu übersiedeln.
Das hatte sie natürlich nicht getan, sondern stand jetzt in der Tür und wartete auf eine Antwort. Als er nur lautstark schnaufte und mitleidheischend zu lächeln versuchte, zog sie die Tür wieder zu und sagte: "Dann schönen Abend noch."
Im Weitergehen dachte er, dass sie eigentlich recht hübsch und auch irgendwie witzig war, obwohl sie in ihrem Beruf als Altenpflegerin wenig zu lachen hatte. Vielleicht war ihr sexueller Appetit mit diesem Beruf zu erklären, als Antidot zu Alter, Krankheit und Sterben.
Im fünften Stock saß ein junger Mann auf einer Fensterbank und rauchte eine Zigarette. Matteo kannte ihn flüchtig von gemeinsamen Liftfahrten.
"Haben Sie sich ausgesperrt?" fragte er.
"Es ist mir neuerdings nicht erlaubt, in meiner Wohnung zu rauchen!" pfauchte er junge Mann. "Ich kann sie an die Bettpfosten binden, ihr den Arsch versohlen oder sie an den Haaren durch die Zimmer schleifen, aber wenn ich mir eine Zigarette anzünde, flippt sie aus! Verstehen Sie das ?! - Sie verstehen es nicht, weil ein vernünftiger Mensch das nicht verstehen kann. Es ist nämlich nicht so, dass sie sich um meine Gesundheit sorgen macht. Oh nein! Sie glaubt, dass MEIN Rauchen SIE krank macht! Ist sie Asthmatikerin? Keineswegs! Ich kann sie würgen bis sie blau wird! Aber wenn ich einen Zug nehme, fängt das dumme Stück zu hüsteln an. Verstehen Sie?! Noch ehe ich den Rauch ausgeatmet habe! - Und jetzt steht sie hinter der Tür und belauscht uns!"
Matteo ließ ihn weiterkeifen und beeilte sich, in den sechsten Stock zu kommen. Daheim auf der Couch rief er im Büro an. Er brauchte für den 28. August dringend einen Homeoffice-Tag. Den Abend im Sportstudio ließ er ausfallen.
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