Der Aufzug des Grauens

4,00 Stern(e) 1 Stimme
Der Aufzug des Grauens
Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Ist es doch nun schon eine Woche, ja sieben quälend lange Tage her. Als Gesetzloser scheint die Zeit still zu stehen. Ganz besonders, wenn sie dir das kostbarste Gut nehmen, das ein Mensch besitzen kann: die Freiheit. Wer weiß, wie lange sie mich hierbehalten. Doch eins weiß ich mit Gewissheit: Mich brechen sie nicht!
Du hast keine Ahnung, wovon ich rede, Pal, was? [Er nimmt einen peinlich gekünstelten Zug seiner Zigarette] Na, dann hör mir mal gut zu. [Und lässt den Rauch erst langsam mit abgebrühtem Blick, dann plötzlich unter großen Augen und einem Hustenanfall nach Luft japsend, heraus. Es war seine erste Zigarette seit Abbruch der Schauspielschule vor 9 Jahren.]

Es war ein stürmischer Tag, es goss wie aus Eimern, der Himmel grau und mein Anzug blau. Ich im Anzug, denkst du dir? Das konnte nur einen Grund haben: Vorstellungsgespräch. Und was für eins! Top Arbeitgeber, ein Global Player und sogar noch in meiner Stadt. Leider bedeutete Vorstellungsgespräch bei mir auch meistens eins: spät dran. Und so stellte auch diese Mal keine Ausnahme dar!
Ich also völlig hektisch die letzten Meter zu dem gigantischen Hochhaus mitten an der meist befahrenen Straßenkreuzung gehetzt, dem dunkelorangenen Männchen auf der Ampelanlage den Finger zeigend und selbige überquerend beinahe eine Massenkarambolage verursacht und die völlig perplexe Dame am Empfang überfallen: „Herr Lübke! Vorstellungsgespräch! Wo?“

Und dann … und dann nahm das Schicksal seinen Lauf.
„17. Stock“, entgegnete mir die Frau mit einem, ich schwöre es war ein schelmisches, Lächeln.
Das würde ich nicht mehr schaffen. Nicht zu Fuß. Es gab also nur einen Ausweg. Und mir läuft immer noch kalter Schweiß den Rücke runter, wenn ich daran denke: der Aufzug.
Oh Gott, wie ich diese Dinger verabscheute. Schon seit ich ein kleiner Junge war. Muss wohl eine Art posttraumatische Störung sein. Es war einfach so furchtbar unnatürlich! Für so etwas kann der Mensch einfach nicht ausgelegt sein! Und jetzt muss ich noch 17 verf***te Stockwerke mit dem Ding fahren?!
Geistesgegenwärtig, getrieben von dem auf der Kippe stehenden Job, drückte ich den Knopf, dessen diabolisch rotes Leuchten mir sofort nichts als Unheil versprach. Ich faltete meine Hände und sandte ein letztes Gebet gen Himmel: „Oh, du Allmächtiger! Ich flehe dich an, ich lege mich dir zu Füßen, dir mein Schicksal in die Hände! Bitte, oh Herr, lass … lass … lass keine peinliche Stille in diesem Aufzug entstehen. Amen.“

Das wars. Mein Schicksal befand sich nun in Gottes Händen. Doch schon beim Blick auf die Anzeigetafel über der Aufzugtür, fühlte ich mein Herz in die Hose rutschen. Er befand sich im Untergeschoss. Als käme er direkt aus der Hölle. Die Hoffnung auf eine Solofahrt? Zerschmettert. Das Loch in meiner Magengegend? Klaffend.
Ohnmächtig … anders kann ich das Gefühl nicht beschreiben, als sich die Zahl der Anzeigetafel, begleitet von einem surrealen Signalton wie aus einem King-Roman, in „EG“ verwandelte, die kalte, stählerner Aufzugtür sich schleppend langsam auftat, mein Blick auf die 5 Mannequin dahinter in Kostüm und Anzug freigelegt wurde und es sich erbarmungslos in meine Gehörgänge bohrte: Richtig. Nichts!
Ich schwöre es euch, noch bevor ich diesen gottverdammten Aufzug betrat, konnte ich eine Grille zirpen hören! Mein Unterbewusstsein musste verrücktspielen.
Es half nichts. Ich trat ein.

Bei dem Blick auf die Schalttafel, auf welcher ich gerade meine so dringend ersehnte Destination, Stockwerk Nummer 17, eingeben wollte, stellte ich erleichtert fest, dass diese bereits gedrückt war. Erleichtert? Warum denn erleichtert?! Das bedeutete, dass mindestens einer dieser Mutterficker da drinnen mit mir bis dahin fahren würde.
Es war schon fast kein Schock mehr. Irgendjemand, oder irgendetwas wollte mich tot sehen. Damit musste ich mich wohl abfinden. So gibt es doch Dinge, die schlichtweg zu groß für uns kleine Menschen sind. Dinge, die wir einfach nicht verstehen können, die wir einfach nicht beeinflussen können. Ich sammelte alle Reserven für einen finalen Befreiungsschlag. Mit letzter Kraft und aus purer Verzweiflung, wagte ich es, der brutalen Stille zu zeigen: „Nein, ich gebe nicht auf! Kampflos wirst du mich nicht bekommen!“, und stellte mit brachialer, alles übertönender Stimme fest: „Super, die 17. Da muss ich auch hin.“

Stille.

Ein kurzes Hoffen.

Keine Reaktion.

Stille.

Das wars also. Jetzt blieb nichts mehr übrig, außer mit kritischem Blick, einen Punkt an der Wand zu fixieren, um nachdenklich zu wirken, um für die anderen so auszusehen, als hätte man einen Grund, nicht das Gespräch zu eröffnen, das sich jeder einzelne hier drinnen doch nicht inniger wünschen könnte. Zwischendurch ein Räuspern, ein überlautes Luft-aus-den-Backen-Pressen, während die Stille, wie ein Tod-Esser aus den Harry Potter Filmen, mir Stück für Stück die Seele aus dem Leib saugte.
Grade wollten mir die Augen zufallen und ich mich in die ewigen Jagdgründe begeben, als der Aufzug abrupt stehen blieb. Das wird’s doch noch nicht gewesen sein, dachte ich, als ich irritiert auf die Anzeigentafel schaute: 6. Stock. Was war geschehen? Ich befürchtete schlimmes: „Es wird doch nicht eine einsame, unwissende, verlorene Sau, den Aufz…“, da sprang die Tür auf, und HALLELUJAH!

Meine Gebete wurden erhört! Zwei bärtige Männer, stiegen ein. Und diese bärtigen Männer UNTERHIELTEN sich! LAUTSTARK und vertraut! Ich war den Tränen nahe. Noch nie hatte ich eine derartige Erleichterung gespürt … Und ich hatte bereits zwei Aids-Tests hinter mir. Der Tag sollte wohl doch nur Gutes für mich bereithalten und mit dem neu gewonnenen Selbstvertrauen konnte ich mich nun endlich auf das bevorstehende Vorstellungsgespräch konzentrieren.
Meine Gedanken der Euphorie und des Sieges wurden mit einem Schlag durchkreuzt, als es mir bewusst wurde. Wie konnte ich nur so töricht sein und daran nicht denken. Mit Widerwillen richtete ich meinen Blick auf den Zeigefinger des ersteren, eben zugestiegenen, bärtigen Mannes. 8 … Er drückte die 8. Das war 2 Stockwerke über uns. Etwa 15 Sekunden Aufzugfahrt. 15 VERSCHISSENE SEKUNDEN! Nichts da mit Erlösung und Happy End.

Ich brauchte einen Plan und zwar schleunigst. Mir lief die Zeit davon, doch immerhin hatte ich ein wenig. Diese Chance musste ich nutzen. Nicht wieder würde ich mein Handy zücken wollen und ein Gespräch mit meinen imaginären Geschäftspartner „Sergej“ aus Russland führen wollen. Konnte ich doch fließend Russisch wegen einer Stelle in St. Petersburg vor einigen Jahren, aber NEIN! Ich würde meinen Mann stehen, ich würde kämpfen und entweder siegen, oder fallen. Aber nicht aufgeben.

Ich spürte die Augen all jener auf mich gerichtet, die ihr Leben ließen in der peinlichen Stille. Ich hörte ihre Seelen meinen Namen rufen, mich anfeuern. Es war magisch. Nie zuvor hatte ich eine solche Erfahrung gemacht. Doch es sind wohl die extremsten Situationen, die zwischen Moment und Ewigkeit, zwischen allem und nichts, zwischen Leben und Tod, die uns besondere Kräfte zu verleihen scheinen. Und so schwöre ich, war es auch in diesem Augenblick. [Eine Träne entsprang seinem Auge und bahnte sich kullernd ihren Weg über seine Wange, bis ihr Dasein von einem theatralischen Fingerwisch beendet wurde.]

Ermutigt von diesem Erlebnis also, kehrte ich in mich und dachte nach. So scharf, wie ich es nie getan hatte. So scharf, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Ein Gesprächsthema musste her. Ich ließ den gesamten Tag Revue passieren, um einen Gedanken, ein Ereignis, und war es doch noch so unbedeutend, zu finden, an das ich anschließen konnte.

Plötzlich riss mich ein Geräusch aus meinem tranceähnlichen Zustand in den tiefen meines Kortex. Der Aufzug, er war stehengeblieben. In Stockwerk Nummer 8. Die beiden Männer quetschten sich durch die Tür. Und hinterließen den Rest in einer unbarmherzigen Hilflosigkeit zurück.
„Moment!“, dachte ich, „Das waren nicht nur zwei Männer, die da gerade ausgestiegen waren. Es waren BÄRTIGE Männer!“ In meinem Hirn, das nicht noch einen Rückschlag hätte verkraften können, machte es klick. Und zwar so laut, dass man es noch in Australien, auf der anderen Seite der Erde, gehört hatte. In meinem Kopf bildete sich im Bruchteil einer Sekunde folgender Gedankengang: Bärte-->männlich-->DMAX-->die Sendung über die Navy S.E.A.L.-Ausbildung vor 2 Tagen.
„EUREKA!“

Ich schloss meine Augen, ging ein letztes Mal in mich, atmete noch einmal tief durch und … [er zögerte kurz, während er aus dem kleinen Fenster in die Ferne starrte, die ihm in diesem Augenblick unendlich vorkam] und sprach:
„Wusstet ihr, dass man eine abgesägte Mossberg 500 Flinte im Kaliber 12/76 mit genug Munition für ein 2-stündiges Feuergefecht in seinem Hosenbein verstecken kann?“

Tja, jetzt halten sie mich bereits seit sieben Tagen hier fest. Selbst wenn ich den Prozess verlieren sollte und sie mich hierbehalten, für weiß Gott wie lange, habe ich doch gesiegt. Und zwar gegen die Stille.
Nun mach, dass du wegkommst! Der Wärter kommt gleich mit dem Abendessen.
 



 
Oben Unten