rubber sole
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Ein Leben als Normalbürger. Mainstream. Aber auch sonst. So eines führte ich. Unauffällig. Das gefiel mir. Brachte mir Vorteile. In der Familie. Auch am Arbeitsplatz. Ich eckte nirgendwo an. Dann der Kipppunkt. Ich wurde auserwählt. Vom Bundesamt für Statistik. Als Mustermann des Landes. Mister Average. Ich erfüllte alle Auswahlkriterien. Für den Durchschnittsbürger. Hatte die wenigsten Abweichungen. Ein Titel ohne Bewandtnis. Dachte ich. Anfänglich. Dann kam's: Ein Jahr lang repräsentieren. Bundesweit. Vergleichbar mit Deutsche Weinkönigin. Tingeln über Messen. Und ähnliche Veranstaltungen. Bei vollem Lohnausgleich. Plus Spesen. Dieses Leben gefiel mir. Viel Aufmerksamkeit. In der Öffentlichkeit. Interviews. Talk Shows. Selbst politische Kommentare waren von mir gefragt. Das volle Programm eines Promis.
Nach zwölf Monaten war Schluss. Auf den Tag genau. Unwiderruflich. Zurück ins Normalleben. Übergangslos. Dachte ich. Fälschlicherweise. Es funktionierte nicht. Ich vermisste die Aufmerksamkeit. In der Öffentlichkeit. Mein innerer Kompass neu genordet. Nun gähnende Leere in mir. Ich schmiss meinen Job. Hing durch. Nur noch Fernsehen. Und Internet. Das belastete mein Familienleben. Isolierte mich. Ich fing an zu lesen. Täglich mehr. Exzessiv. Zeitschriften. Tageszeitungen. Kurzgeschichten. Keine langen Texte. Gerne Leserbriefe. Ich hielt siebenundzwanzig Abonnements. Dann Fokussierung. Gezielte Selektion. Nur bestimmte Tageszeitungen. Ausschließlich mit umfangreichem Bereich für Leserzuschriften. Danach Übergang vom Leser zum Verfasser. Ich schrieb Kommentare. Überbordend. Zu allen Themen. Relevanz egal. In ungezählten Periodika. Aufmerksamkeit zu gering. In der Öffentlichkeit. Immer noch. Ich brauchte mehr davon. Provozierte Repliken. Durch Scharfzüngigkeit. Und Sarkasmus. Ich wurde zynisch. Das wurde mein Markenzeichen. Ich verbarg meine Identität. Hinter wechselnden Pseudonymen. Arbeitete mit fiktionalen Lebensläufen. In Zeitschriften. Wurde Vielschreiber. In verschiedenen Internetforen. Häufig veröffentlicht. Dann wurde ich ausgebremst. Mein Pseudonym wurde entlarvt. Meine Identität wurde öffentlich gemacht. Nun hatte ich sie. Die Öffentlichkeit. Leider zu viel davon. Säckeweise Briefpost. E-Mails ohne Ende. Meist drohend. Kaum ein Tag ohne Shitstorm. Das Medium schlug zurück. Ich zerbarst. Mental. Als Autor.
Meine Frau brachte die Rettung. Steckerziehen. Keine Leserbriefe mehr. Von mir. Keine Einstellungen im Netz. Null Kommentare. Zu Tagesaktuellem. Kaum zu ertragen. Für mich. Ich litt. Unter Entzug. Dann der Kompromiss. Information auf Zuteilung. Ausschließlich ein Blatt: Allgemeine Zeitung. Einzige deutschsprachige Tageszeitung. In Namibia. Langwierige Zustellung. Stark zeitversetzter Erhalt. Aktuelles verpufft. Verfassen von Leserbriefen sinnfrei. Für mich. Aus der Distanz. Zeitlich und räumlich. Aber gut geeignet zum Ausschleichen. Aus öffentlichen Beiträgen.
Heute lebe ich entspannt mit meiner Ehefrau und zwei fast erwachsenen Kindern sowie einem Rauhaardackel fern jeder öffentlichen Fokussierung in einem kleinen Ort am Niederrhein. Der Kontakt zu meinem Umfeld wird individuell und wohl dosiert 'abgearbeitet'. Mein Zugang zu Informationen über das Leben da draußen, der wird von meiner Frau gesteuert; alles andere spielt sich im häuslichen Bereich ab: Tiefsinnige Gespräche, ein wenig Fernsehen ohne Nachrichten zum politischen Tagesgeschen, viel Musik und keine Zeitungen - das ist es dann auch schon. Ich fühle mich inzwischen wieder wohl im Leben eines Normalbürgers.