klein lottchen
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Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass gleich die Acht-Uhr-Nachrichten beginnen würden, die ich in den letzten 20 Jahren so gut wie keinen Abend verpasst hatte.
Das war das erste, was ich ändern würde, ging es mir durch den Kopf. Kein Sklave der Zeit mehr sein, die das ganze Leben bestimmt und so ganz schleichend die Kontrolle über den Alltag übernimmt. Tag für Tag der gleiche Trott. So vergehen die Jahre und ehe man es merkt ist man 51!
Ja sicher, ich hatte beruflich einiges erreicht. Ich war ein angesehener Arzt und wir hatten ein gutes Auskommen mit dem Einkommen. Geld war nie das wirkliche Problem. Das war mir in den letzten Tagen mehr als klar geworden. Aber was genau war dann unser Problem? Petra und ich hatten im letzten Jahr silberne Hochzeit gefeiert. 25 Jahre verheiratet! Ich konnte kaum fassen, dass es wirklich schon 25 Jahre waren. Wo war ich gewesen, die Zeit war wie im Flug vergangen. Es drängte sich mir die Frage auf, ob wir uns jemals wirklich geliebt haben. Ehrlich gesagt, war ich mir nicht sicher. Anfängliche Verliebtheit ja, das war’s dann aber auch schon.
Ich sah mich noch einmal um. Alles war hier so, wie sie es wollte. Zum ersten Mal wurde mir wirklich bewusst, dass ich hier nie ernsthaft etwas zu sagen hatte. Vermutlich wusste ich es die ganzen Jahre, doch erst jetzt drang dieses Wissen auch tatsächlich in mein Bewusstsein.
Entschlossen nahm ich Handy und Brieftasche und ließ beides in meine Jackentasche gleiten. „Wenn nicht jetzt, wann dann.“ sagte ich zu mir selber und es war mehr eine Feststellung, als eine Frage. Dann angelte ich mir den Schlüssel vom Tisch und verließ ohne mich noch einmal umzusehen das Haus. Ich hatte schließlich keine Zeit mehr zu verschenken, mit Anfang 50!
Gut eine Viertelstunde später befand ich mich auf der Autobahn in Richtung Westen.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich hinwollte, doch das spielte im Moment auch keine Rolle. Ich brauchte Luft und Abstand. Einfach nur fahren, dann wird sich zeigen, wo man ankommt, dachte ich.
Es hatte zu regnen begonnen und die Scheibenwischer meines Audis kämpften ununterbrochen dagegen an. Obwohl die Autobahn recht leer war, fuhr ich mit gemächlichen 100 kmh auf der rechten Spur. In meinem Kopf war ein einziges Durcheinander und ich hatte Mühe, mich auf die Straße zu konzentrieren.
Die Jahre zogen vor meinem geistigen Auge vorbei, mein Leben ein Meer aus Langeweile und Lügen. Ich hatte schon lange den Verdacht, dass Petra mich betrog und nun wusste ich es. Nachdem ich einen Privatdetektiv beauftragt hatte, hatte ich die Gewissheit. Petra gab sich nicht mal die Mühe irgendetwas abzustreiten, als ich sie damit konfrontierte.
Ich schaltete das Radio ein und trommelte mit den Fingern im Rhythmus der Musik auf das Lenkrad. Mit meinem neuen Wissen sah ich einiges klarer, zum Beispiel auch die Tatsache dass wir nie Kinder bekommen haben.
Anfangs hatte es sich einfach nicht ergeben und bei Petra war der Kinderwunsch nicht so ausgeprägt wie bei anderen Frauen, die ich kannte. Auch Petra hatte in ihrer Firma Karriere gemacht und leitete heute eine Bank. Für mich war es okay, so wie es war. Finanziell ging es uns gut, wir besaßen ein wunderschönes Haus und zusätzlich hatte ich einiges an Ersparnissen an die Seite bringen können. Ich hatte nie wirklich Grund mich zu beklagen.
Vielleicht war es ja für mich noch nicht zu spät für eigene Kinder, schoss es mir durch den Kopf und im Geiste sah mich schon mit meinem Nachkömmling all die Dinge tun, die ich selber in den letzten Jahren vernachlässigt hatte. Im Sommer zum Baden an den See fahren, Radtouren durch den naheliegenden Teutoburger Wald und im Winter die Carrera-Bahn aufbauen. Eines stand fest, das alles würde nicht mit Petra passieren.
Nachdem ich schon gut eine Stunde unterwegs war, wurde es Zeit eine kurze Pause einzulegen und so fuhr ich bei der nächsten Gelegenheit an eine Tankstelle.
Ich tankte an einer der Zapfsäulen und ging in den Shop um zu zahlen. Als ich an der Kasse meine Brieftasche aufschlug um meine EC-Karte heraus zu holen, lachte mich plötzlich das Foto von Petra an, das in einem der Sichtfenster steckte.
Den Bruchteil einer Sekunde war ich ziemlich perplex. Was machte ich hier eigentlich? Mein ganzes Leben lang war ich immer in geordneten Bahnen unterwegs und nun stand ich hier an einer Tankstelle, rund 100 Kilometer von zu Hause.
Ich schüttelte mich, zahlte und verließ den Laden. So unauffällig wie ich gekommen war, so war ich auch wieder verschwunden. Ein Typ, der Durchschnitt ist, ein Typ den man schnell wieder vergisst. Eben ein Typ wie ich.
Ich setzte mich wieder in meinen Wagen, lehnte mich zurück und atmete erst mal tief durch. Dann nahm ich wieder meine Brieftasche zur Hand und als ich sie aufschlug blickte mir wieder Petra entgegen.
Ich zog das Foto aus der Hülle und betrachtete es. Es war eines dieser Automatenpassfotos und es zeigte eine 20 Jahre jüngere Version der Frau, vor der ich gerade die Flucht ergriff.
Wir hatten uns schon lange auseinander gelebt und wenn ich ganz ehrlich war, dann war es mir im Laufe der Zeit egal geworden.
„Ade.“ Ohne zu zögern zerriss ich es, kurbelte die Scheibe herunter und ließ die Fetzen vom Wind davontreiben.
In diesem Moment fühlte mich gut. Seit Jahren fühlte ich mich wieder gut.
Innerlich befreit startete ich den Motor und setzte meine Fahrt fort.
Im Radio verkündete der Moderator gerade den Beginn der 22:00 Uhr Nachrichten und riss mich damit aus meinen Gedanken. Normalerweise würde ich jetzt so langsam meinen Hintern in die Kissen bringen. Plötzlich überkam mich ein Gefühl von Heimweh. Ganz hinterrücks schlich es sich in meinen Kopf und hinterließ ein Gefühl von Sehnsucht nach meinem warmen Bett und dem kuscheligen Pyjama, den mir meine Angestellten letztes Jahr zu meinem 50. Geburtstag geschenkt hatten.
Wenn ich jetzt umkehren würde, dann konnte ich gegen 0:00 Uhr wieder zu Hause sein. Aber was machte das für einen Sinn, es gab keine Chance mehr für Petra und mich. Die Affäre, die sie hatte, war keine einfache Affäre. Die Sache ging bereits seit 25 Jahren und mein Gegenspieler war eine Frau, Petras angebliche beste Freundin. Wie sollte ich dagegen anstinken und wollte ich das überhaupt? Eigentlich war ich von Anfang an nur Alibi. Heute mag die Gesellschaft toleranter sein gleichgeschlechtlichen Beziehungen gegenüber, doch vor 25 Jahren sah das noch ganz anders aus. Petra hatte sich in den Kopf gesetzt, Karriere zu machen und dafür war ihr alles recht. Selbst eine Art „Scheinehe“ ist sie dafür eingegangen. Das war auch der Grund, warum sie mich möglichst immer auf Abstand gehalten hat. Mit der Zeit hatte ich mich daran gewöhnt, war ich doch viel zu beschäftigt damit, meine Praxis aufzubauen. Plötzlich fühlte ich mich ausgenutzt, meiner besten Jahre beraubt und Wut kochte in mir hoch. Nein, ich wollte nicht umdrehen und so fuhr ich weiter auf der Autobahn in westlicher Richtung.
Nach einigen weiteren Kilometern beschloss ich nochmal eine Pause einzulegen und fuhr bei nächster Gelegenheit auf einen kleinen Rastplatz.
Nachdem ich den Wagen geparkt hatte, stieg ich aus, um ein paar Schritte zu gehen und eine Zigarette zu rauchen. Es gab keine Laternen und nur die Lichter der vorbeifahrenden Autos huschten in unregelmäßigen Anständen über den Parkplatz.
Ich versuchte mir Petras Reaktion vorzustellen, wenn sie nach Hause kam und feststellte, dass ich nicht da war. Ob sie sich Sorgen machen würde? Schließlich war ich noch nie einfach weg geblieben, ohne sie vorher darüber zu informieren. Anders herum war das freilich nicht immer der Fall, Petra kam oft spät heim, sie verbrachte schon immer viel Zeit mit ihrer angeblich nur besten Freundin Anja. Nichts ungewöhnliches, wie ich damals immer fand.
Ich ging einige Schritte und setzte mich dann auf eine der Bänke, die nahe dem Waldrand standen. Dann nahm ich mein Handy aus der Tasche und sah auf das Display. Nichts. Wenn sie bereits bemerkt hatte, dass ich nicht zu Hause war, dann interessierte sie es offenbar nicht.
Diese Feststellung vertrieb jäh jeglichen Anflug eines schlechten Gewissens, sollte ich es tatsächlich in den letzten Stunden gehabt haben. Ich redete mir ein, dass ich ihr letzten Endes vermutlich sogar einen Gefallen damit tat, wenn ich einfach verschwinden würde.
Warum mit einer Scheidung noch mehr kostbare Zeit vertun und die einzigen, die sich daran gesund stoßen sind die Anwälte.
Wieder überkam mich eine ungeheure Wut. Wut auf Petra, aber auch Wut auf mich selbst. Ich musste mich ernsthaft fragen, warum ich nie den Mumm hatte, vorher schon die Reißleine zu ziehen. Verdammt, ich hatte das Gefühl mindestens die Hälfte meines Lebens einfach verpasst zu haben. Dass das Gleiche mit dem letzten Drittel passieren würde, musste ich auf jeden Fall verhindern.
Die frische Luft ordnete langsam das Chaos in meinem Kopf und jetzt hatte ich einen Plan.
Als ich wieder in meinem Wagen saß, schaltete ich die Dauerbeleuchtung an und kramte das Unfallset aus dem Handschuhfach. Dann nahm ich ein Blatt Papier und den Bleistift und begann, einige Nummern aus meinem Handy zu notieren. Ich würde noch einiges zu regeln haben. Dann steckte ich den Zettel in meine Brieftasche und verstaute den Rest sorgsam wieder im Handschuhfach.
Nachdem ich das Handy in die Mittelkonsole gelegt hatte, nahm ich meinen Schlüsselbund zur Hand. An dem Ring hingen vier Schlüssel, einer für die Haustür der ebenfalls die Gartenpforte und die Garage öffnen konnte, der Briefkastenschlüssel, mein Praxisschlüssel und der meines Audis. Mein heißgeliebtes Auto und so ziemlich das Einzige, was ich mir ganz allein nach meinem Geschmack ausgesucht habe. Petra war von je her ein Mercedesfan und wenn es nach ihr gegangen wäre... aber da habe ich mich durchgesetzt.
Der Schlüssel landete bei dem Handy in der Mittelkonsole. Ich dachte nicht, dass ich ihn noch brauchen würde. Entschlossen öffnete ich die Tür und stieg aus.
Schnellen Schrittes eilte ich den Weg hinauf in Richtung Fahrbahn, schließlich hatte ich keine Zeit zu verlieren.
Es war fast ein Gefühl, als wäre man wieder ein Teenie, wie ich dort an der Straße stand und meinen Daumen raushielt, in der Hoffnung, es würde jemand anhalten und mich mitnehmen. Mein neues Leben hatte begonnen und ein breites Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus.
Heute kann ich gar nicht mehr sagen, wie lange ich dort stand, doch irgendwann hielt ein Brummifahrer an und einen kurzen Moment lang überkamen mich dann doch noch mal Zweifel.
„Hallo, mein Freund.“, ich hatte noch gar nicht erfassen können, wo der Laster herkam, aber sofort bemerkte ich den starken Akzent und mein Herz machte einen Hüpfer. Sollte ich tatsächlich soviel Glück haben? „Wo willst du denn hin, vielleicht kann ich dich ein Stück mitnehmen?“ rief er freundlich zu mir herunter. Das konnte kein Zufall sein und in dem Moment war mir klar, dass meine Entscheidung genau die richtige war und diese Erkenntnis wischte alle Zweifel beiseite.
„Das wäre super. Mein Ziel ist Den Haag.“ „Du hast Glück, ich fahr zwar nicht ganz nach Den Haag nur bis nach Rotterdam, aber von da aus ist es nicht mehr weit. Ein gutes Stück kann ich dich also mitnehmen.“ Ich kletterte zu ihm ins Führerhaus und hielt ihm die Hand hin. „Torsten.“ stellte ich mich vor, „Claus.“ antwortete er mit einem Grinsen und ergänzte: „Claus van Deik.“
Er musste ungefähr mein Alter haben. Ein stolzer Bauch wölbte sich über seinen Hosenrand und unter seinem Baseballcap lugten einige braune Strähnen hervor, in denen das Grau bereits seinen Anspruch angemeldet hatte.
Claus entpuppte sich als wahrer Alleinunterhalter. Er stellte keine Fragen und erzählte stattdessen ohne Unterlass. Mir sollte es recht sein, um so weniger ich ihm von mir preisgeben musste, um so besser. Während ich erfuhr, dass er zwei Kinder, eine Frau und einen Hund zu Hause hatte, hing ich meinen eigenen Gedanken nach. Von Rotterdam würde ich den Zug nach Den Haag nehmen und mir dort dann ein Zimmer besorgen. Dann würde ich Björn aufsuchen, ein alter Bekannter. Wir hatten uns vor Jahren auf einem Ärztekongress kennen gelernt und waren seitdem immer wieder mal in Kontakt.
Claus plauderte immer noch und war in der Zwischenzeit bei seinem Job angekommen. Er fuhr für eine Spedition Blumen und war manchmal tagelang weg von zu Hause.“ Wollen wir noch mal anhalten und einen Kaffee trinken?“ er stieß mich leicht in die Seite und riss mich so aus meinen Gedanken. „Also meinetwegen nicht.“ antwortete ich. Ich war immer noch so aufgeputscht und verspürte nicht den Hauch von Müdigkeit. Lieber wollte ich so schnell wie möglich ankommen. „Wie weit ist es denn noch?“ fragte ich also stattdessen. „Na so gut 80 Kilometer.“ „Na die schaffen wir doch in einem Rutsch. Um so eher bist du bei deiner Familie.“ Er winkte ab und grinste breit: „Ja, hast Recht. Kaffee kann ich auch mit Martha daheim trinken. Mit frischen Brötchen und Käse.“ Lachend fuhr er sich mit seiner riesig wirkenden Hand über den noch größer wirkenden Bauch.
Alles verlief nach Plan und bereits am nächsten Morgen kam ich mit dem Zug in Den Haag an. Mein Glück hielt an und ich fand in der Nähe ein Zimmer in einem kleinen Hotel. Die Dame an der Rezeption fragte nach meinem Gepäck, aber ich konnte ihr glaubhaft versichern, dass es bei der Bahnfahrt nach Den Haag gestohlen wurde. Ich hatte ohnehin nicht vor, länger als nötig dort zu bleiben. Meine ganze Hoffnung ruhte auf meinem Freund Dr. Björn van Lieken. Nach einem üppigen Frühstück und einigen Stunden Ruhe, suchte ich ihn dann in seiner Praxis auf.
Von da an nahmen die Dinge ihren Lauf. Er regelte einiges für mich, ohne dass ich in Erscheinung treten musste. Offiziell galt ich in Deutschland als vermisst. Ob bis in die Niederlande nach mir gesucht wurde, habe ich nie erfahren. Petra hatte Björn nie kennengelernt, meine Bekanntschaften hatten sie nie interessiert und mit Sicherheit konnte niemand die Brücke hierher schlagen.
Durch Björns Kontakte bekam ich eine Stelle in einem spanischen Ärztehaus auf Ibiza. Dort konnte ich mich als deutschsprachiger Arzt schon nach kürzester Zeit etablieren und so baute ich mir eine neue Existenz auf. Dort, wo andere Urlaub machten. In diesem Paradies lernte ich dann auch Maria kennen. Eine Einheimische, die in dem selben Haus wie ich, als Arzthelferin arbeitete. Wir lernten uns kennen und lieben, auch wenn wir keine Kinder mehr bekamen waren wir sehr glücklich. Endlich zeigte sich mir das Leben von seiner Sonnenseite und ich fand, ich hatte es verdient. Es gab niemals Gründe, meine damalige Entscheidung in Frage zu stellen. Natürlich dachte ich oft an meine Angestellten und an meine Patienten. Rechtfertigte mein Egoismus es, die Menschen, die mir vertraut haben und sich auf mich verlassen haben, einfach im Stich zu lassen?
Gestern saß ich mit Maria in unserem Lieblingscafé in der Stadt und wie immer beobachteten wir amüsiert das bunte Treiben in den Straßen. Ein Reisebus hielt gerade auf dem großen Platz vor dem Café und eine Gruppe Touristen stieg aus. Ich erkannte sie sofort und mein Herz setzte für einen Moment aus. Auch nach 20 Jahre, die es nun schon her ist, habe ich sie sofort erkannt. Immer noch der selbe Gang und die selbe Haltung, auch wenn die Zeit zweifellos ihre äußerlichen Spuren hinterlassen hatten. Und im Schlepptau hatte sie ihre Freundin Anja. Wie man unschwer erkennen konnte, hatte Petra noch immer die Hosen an. Einen Moment überkam mich mit Schrecken der Gedanke entdeckt zu werden. Doch Petra schwenkte mit der Handtasche in Richtung einer der Gassen, die von uns aus gesehen links waren und lief schnurstracks darauf zu, ohne in unsere Richtung zu schauen. Anja hatte Mühe, ihr zu folgen und schon waren sie im Getümmel verschwunden.
Die Szene hatte nichts mit romantischen verliebten Urlaubsgefühlen zu tun, anders als bei Maria und mir.
In diesem Moment war ich mir sicher, dass ich alles richtig gemacht habe. „Ich liebe Dich. Bitte lass uns nach Hause gehen.“ Ich zwinkerte Maria zu, legte den Arm um ihre Schultern und küsste sie. Ja, ich finde, ich habe es verdient.
Das war das erste, was ich ändern würde, ging es mir durch den Kopf. Kein Sklave der Zeit mehr sein, die das ganze Leben bestimmt und so ganz schleichend die Kontrolle über den Alltag übernimmt. Tag für Tag der gleiche Trott. So vergehen die Jahre und ehe man es merkt ist man 51!
Ja sicher, ich hatte beruflich einiges erreicht. Ich war ein angesehener Arzt und wir hatten ein gutes Auskommen mit dem Einkommen. Geld war nie das wirkliche Problem. Das war mir in den letzten Tagen mehr als klar geworden. Aber was genau war dann unser Problem? Petra und ich hatten im letzten Jahr silberne Hochzeit gefeiert. 25 Jahre verheiratet! Ich konnte kaum fassen, dass es wirklich schon 25 Jahre waren. Wo war ich gewesen, die Zeit war wie im Flug vergangen. Es drängte sich mir die Frage auf, ob wir uns jemals wirklich geliebt haben. Ehrlich gesagt, war ich mir nicht sicher. Anfängliche Verliebtheit ja, das war’s dann aber auch schon.
Ich sah mich noch einmal um. Alles war hier so, wie sie es wollte. Zum ersten Mal wurde mir wirklich bewusst, dass ich hier nie ernsthaft etwas zu sagen hatte. Vermutlich wusste ich es die ganzen Jahre, doch erst jetzt drang dieses Wissen auch tatsächlich in mein Bewusstsein.
Entschlossen nahm ich Handy und Brieftasche und ließ beides in meine Jackentasche gleiten. „Wenn nicht jetzt, wann dann.“ sagte ich zu mir selber und es war mehr eine Feststellung, als eine Frage. Dann angelte ich mir den Schlüssel vom Tisch und verließ ohne mich noch einmal umzusehen das Haus. Ich hatte schließlich keine Zeit mehr zu verschenken, mit Anfang 50!
Gut eine Viertelstunde später befand ich mich auf der Autobahn in Richtung Westen.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich hinwollte, doch das spielte im Moment auch keine Rolle. Ich brauchte Luft und Abstand. Einfach nur fahren, dann wird sich zeigen, wo man ankommt, dachte ich.
Es hatte zu regnen begonnen und die Scheibenwischer meines Audis kämpften ununterbrochen dagegen an. Obwohl die Autobahn recht leer war, fuhr ich mit gemächlichen 100 kmh auf der rechten Spur. In meinem Kopf war ein einziges Durcheinander und ich hatte Mühe, mich auf die Straße zu konzentrieren.
Die Jahre zogen vor meinem geistigen Auge vorbei, mein Leben ein Meer aus Langeweile und Lügen. Ich hatte schon lange den Verdacht, dass Petra mich betrog und nun wusste ich es. Nachdem ich einen Privatdetektiv beauftragt hatte, hatte ich die Gewissheit. Petra gab sich nicht mal die Mühe irgendetwas abzustreiten, als ich sie damit konfrontierte.
Ich schaltete das Radio ein und trommelte mit den Fingern im Rhythmus der Musik auf das Lenkrad. Mit meinem neuen Wissen sah ich einiges klarer, zum Beispiel auch die Tatsache dass wir nie Kinder bekommen haben.
Anfangs hatte es sich einfach nicht ergeben und bei Petra war der Kinderwunsch nicht so ausgeprägt wie bei anderen Frauen, die ich kannte. Auch Petra hatte in ihrer Firma Karriere gemacht und leitete heute eine Bank. Für mich war es okay, so wie es war. Finanziell ging es uns gut, wir besaßen ein wunderschönes Haus und zusätzlich hatte ich einiges an Ersparnissen an die Seite bringen können. Ich hatte nie wirklich Grund mich zu beklagen.
Vielleicht war es ja für mich noch nicht zu spät für eigene Kinder, schoss es mir durch den Kopf und im Geiste sah mich schon mit meinem Nachkömmling all die Dinge tun, die ich selber in den letzten Jahren vernachlässigt hatte. Im Sommer zum Baden an den See fahren, Radtouren durch den naheliegenden Teutoburger Wald und im Winter die Carrera-Bahn aufbauen. Eines stand fest, das alles würde nicht mit Petra passieren.
Nachdem ich schon gut eine Stunde unterwegs war, wurde es Zeit eine kurze Pause einzulegen und so fuhr ich bei der nächsten Gelegenheit an eine Tankstelle.
Ich tankte an einer der Zapfsäulen und ging in den Shop um zu zahlen. Als ich an der Kasse meine Brieftasche aufschlug um meine EC-Karte heraus zu holen, lachte mich plötzlich das Foto von Petra an, das in einem der Sichtfenster steckte.
Den Bruchteil einer Sekunde war ich ziemlich perplex. Was machte ich hier eigentlich? Mein ganzes Leben lang war ich immer in geordneten Bahnen unterwegs und nun stand ich hier an einer Tankstelle, rund 100 Kilometer von zu Hause.
Ich schüttelte mich, zahlte und verließ den Laden. So unauffällig wie ich gekommen war, so war ich auch wieder verschwunden. Ein Typ, der Durchschnitt ist, ein Typ den man schnell wieder vergisst. Eben ein Typ wie ich.
Ich setzte mich wieder in meinen Wagen, lehnte mich zurück und atmete erst mal tief durch. Dann nahm ich wieder meine Brieftasche zur Hand und als ich sie aufschlug blickte mir wieder Petra entgegen.
Ich zog das Foto aus der Hülle und betrachtete es. Es war eines dieser Automatenpassfotos und es zeigte eine 20 Jahre jüngere Version der Frau, vor der ich gerade die Flucht ergriff.
Wir hatten uns schon lange auseinander gelebt und wenn ich ganz ehrlich war, dann war es mir im Laufe der Zeit egal geworden.
„Ade.“ Ohne zu zögern zerriss ich es, kurbelte die Scheibe herunter und ließ die Fetzen vom Wind davontreiben.
In diesem Moment fühlte mich gut. Seit Jahren fühlte ich mich wieder gut.
Innerlich befreit startete ich den Motor und setzte meine Fahrt fort.
Im Radio verkündete der Moderator gerade den Beginn der 22:00 Uhr Nachrichten und riss mich damit aus meinen Gedanken. Normalerweise würde ich jetzt so langsam meinen Hintern in die Kissen bringen. Plötzlich überkam mich ein Gefühl von Heimweh. Ganz hinterrücks schlich es sich in meinen Kopf und hinterließ ein Gefühl von Sehnsucht nach meinem warmen Bett und dem kuscheligen Pyjama, den mir meine Angestellten letztes Jahr zu meinem 50. Geburtstag geschenkt hatten.
Wenn ich jetzt umkehren würde, dann konnte ich gegen 0:00 Uhr wieder zu Hause sein. Aber was machte das für einen Sinn, es gab keine Chance mehr für Petra und mich. Die Affäre, die sie hatte, war keine einfache Affäre. Die Sache ging bereits seit 25 Jahren und mein Gegenspieler war eine Frau, Petras angebliche beste Freundin. Wie sollte ich dagegen anstinken und wollte ich das überhaupt? Eigentlich war ich von Anfang an nur Alibi. Heute mag die Gesellschaft toleranter sein gleichgeschlechtlichen Beziehungen gegenüber, doch vor 25 Jahren sah das noch ganz anders aus. Petra hatte sich in den Kopf gesetzt, Karriere zu machen und dafür war ihr alles recht. Selbst eine Art „Scheinehe“ ist sie dafür eingegangen. Das war auch der Grund, warum sie mich möglichst immer auf Abstand gehalten hat. Mit der Zeit hatte ich mich daran gewöhnt, war ich doch viel zu beschäftigt damit, meine Praxis aufzubauen. Plötzlich fühlte ich mich ausgenutzt, meiner besten Jahre beraubt und Wut kochte in mir hoch. Nein, ich wollte nicht umdrehen und so fuhr ich weiter auf der Autobahn in westlicher Richtung.
Nach einigen weiteren Kilometern beschloss ich nochmal eine Pause einzulegen und fuhr bei nächster Gelegenheit auf einen kleinen Rastplatz.
Nachdem ich den Wagen geparkt hatte, stieg ich aus, um ein paar Schritte zu gehen und eine Zigarette zu rauchen. Es gab keine Laternen und nur die Lichter der vorbeifahrenden Autos huschten in unregelmäßigen Anständen über den Parkplatz.
Ich versuchte mir Petras Reaktion vorzustellen, wenn sie nach Hause kam und feststellte, dass ich nicht da war. Ob sie sich Sorgen machen würde? Schließlich war ich noch nie einfach weg geblieben, ohne sie vorher darüber zu informieren. Anders herum war das freilich nicht immer der Fall, Petra kam oft spät heim, sie verbrachte schon immer viel Zeit mit ihrer angeblich nur besten Freundin Anja. Nichts ungewöhnliches, wie ich damals immer fand.
Ich ging einige Schritte und setzte mich dann auf eine der Bänke, die nahe dem Waldrand standen. Dann nahm ich mein Handy aus der Tasche und sah auf das Display. Nichts. Wenn sie bereits bemerkt hatte, dass ich nicht zu Hause war, dann interessierte sie es offenbar nicht.
Diese Feststellung vertrieb jäh jeglichen Anflug eines schlechten Gewissens, sollte ich es tatsächlich in den letzten Stunden gehabt haben. Ich redete mir ein, dass ich ihr letzten Endes vermutlich sogar einen Gefallen damit tat, wenn ich einfach verschwinden würde.
Warum mit einer Scheidung noch mehr kostbare Zeit vertun und die einzigen, die sich daran gesund stoßen sind die Anwälte.
Wieder überkam mich eine ungeheure Wut. Wut auf Petra, aber auch Wut auf mich selbst. Ich musste mich ernsthaft fragen, warum ich nie den Mumm hatte, vorher schon die Reißleine zu ziehen. Verdammt, ich hatte das Gefühl mindestens die Hälfte meines Lebens einfach verpasst zu haben. Dass das Gleiche mit dem letzten Drittel passieren würde, musste ich auf jeden Fall verhindern.
Die frische Luft ordnete langsam das Chaos in meinem Kopf und jetzt hatte ich einen Plan.
Als ich wieder in meinem Wagen saß, schaltete ich die Dauerbeleuchtung an und kramte das Unfallset aus dem Handschuhfach. Dann nahm ich ein Blatt Papier und den Bleistift und begann, einige Nummern aus meinem Handy zu notieren. Ich würde noch einiges zu regeln haben. Dann steckte ich den Zettel in meine Brieftasche und verstaute den Rest sorgsam wieder im Handschuhfach.
Nachdem ich das Handy in die Mittelkonsole gelegt hatte, nahm ich meinen Schlüsselbund zur Hand. An dem Ring hingen vier Schlüssel, einer für die Haustür der ebenfalls die Gartenpforte und die Garage öffnen konnte, der Briefkastenschlüssel, mein Praxisschlüssel und der meines Audis. Mein heißgeliebtes Auto und so ziemlich das Einzige, was ich mir ganz allein nach meinem Geschmack ausgesucht habe. Petra war von je her ein Mercedesfan und wenn es nach ihr gegangen wäre... aber da habe ich mich durchgesetzt.
Der Schlüssel landete bei dem Handy in der Mittelkonsole. Ich dachte nicht, dass ich ihn noch brauchen würde. Entschlossen öffnete ich die Tür und stieg aus.
Schnellen Schrittes eilte ich den Weg hinauf in Richtung Fahrbahn, schließlich hatte ich keine Zeit zu verlieren.
Es war fast ein Gefühl, als wäre man wieder ein Teenie, wie ich dort an der Straße stand und meinen Daumen raushielt, in der Hoffnung, es würde jemand anhalten und mich mitnehmen. Mein neues Leben hatte begonnen und ein breites Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus.
Heute kann ich gar nicht mehr sagen, wie lange ich dort stand, doch irgendwann hielt ein Brummifahrer an und einen kurzen Moment lang überkamen mich dann doch noch mal Zweifel.
„Hallo, mein Freund.“, ich hatte noch gar nicht erfassen können, wo der Laster herkam, aber sofort bemerkte ich den starken Akzent und mein Herz machte einen Hüpfer. Sollte ich tatsächlich soviel Glück haben? „Wo willst du denn hin, vielleicht kann ich dich ein Stück mitnehmen?“ rief er freundlich zu mir herunter. Das konnte kein Zufall sein und in dem Moment war mir klar, dass meine Entscheidung genau die richtige war und diese Erkenntnis wischte alle Zweifel beiseite.
„Das wäre super. Mein Ziel ist Den Haag.“ „Du hast Glück, ich fahr zwar nicht ganz nach Den Haag nur bis nach Rotterdam, aber von da aus ist es nicht mehr weit. Ein gutes Stück kann ich dich also mitnehmen.“ Ich kletterte zu ihm ins Führerhaus und hielt ihm die Hand hin. „Torsten.“ stellte ich mich vor, „Claus.“ antwortete er mit einem Grinsen und ergänzte: „Claus van Deik.“
Er musste ungefähr mein Alter haben. Ein stolzer Bauch wölbte sich über seinen Hosenrand und unter seinem Baseballcap lugten einige braune Strähnen hervor, in denen das Grau bereits seinen Anspruch angemeldet hatte.
Claus entpuppte sich als wahrer Alleinunterhalter. Er stellte keine Fragen und erzählte stattdessen ohne Unterlass. Mir sollte es recht sein, um so weniger ich ihm von mir preisgeben musste, um so besser. Während ich erfuhr, dass er zwei Kinder, eine Frau und einen Hund zu Hause hatte, hing ich meinen eigenen Gedanken nach. Von Rotterdam würde ich den Zug nach Den Haag nehmen und mir dort dann ein Zimmer besorgen. Dann würde ich Björn aufsuchen, ein alter Bekannter. Wir hatten uns vor Jahren auf einem Ärztekongress kennen gelernt und waren seitdem immer wieder mal in Kontakt.
Claus plauderte immer noch und war in der Zwischenzeit bei seinem Job angekommen. Er fuhr für eine Spedition Blumen und war manchmal tagelang weg von zu Hause.“ Wollen wir noch mal anhalten und einen Kaffee trinken?“ er stieß mich leicht in die Seite und riss mich so aus meinen Gedanken. „Also meinetwegen nicht.“ antwortete ich. Ich war immer noch so aufgeputscht und verspürte nicht den Hauch von Müdigkeit. Lieber wollte ich so schnell wie möglich ankommen. „Wie weit ist es denn noch?“ fragte ich also stattdessen. „Na so gut 80 Kilometer.“ „Na die schaffen wir doch in einem Rutsch. Um so eher bist du bei deiner Familie.“ Er winkte ab und grinste breit: „Ja, hast Recht. Kaffee kann ich auch mit Martha daheim trinken. Mit frischen Brötchen und Käse.“ Lachend fuhr er sich mit seiner riesig wirkenden Hand über den noch größer wirkenden Bauch.
Alles verlief nach Plan und bereits am nächsten Morgen kam ich mit dem Zug in Den Haag an. Mein Glück hielt an und ich fand in der Nähe ein Zimmer in einem kleinen Hotel. Die Dame an der Rezeption fragte nach meinem Gepäck, aber ich konnte ihr glaubhaft versichern, dass es bei der Bahnfahrt nach Den Haag gestohlen wurde. Ich hatte ohnehin nicht vor, länger als nötig dort zu bleiben. Meine ganze Hoffnung ruhte auf meinem Freund Dr. Björn van Lieken. Nach einem üppigen Frühstück und einigen Stunden Ruhe, suchte ich ihn dann in seiner Praxis auf.
Von da an nahmen die Dinge ihren Lauf. Er regelte einiges für mich, ohne dass ich in Erscheinung treten musste. Offiziell galt ich in Deutschland als vermisst. Ob bis in die Niederlande nach mir gesucht wurde, habe ich nie erfahren. Petra hatte Björn nie kennengelernt, meine Bekanntschaften hatten sie nie interessiert und mit Sicherheit konnte niemand die Brücke hierher schlagen.
Durch Björns Kontakte bekam ich eine Stelle in einem spanischen Ärztehaus auf Ibiza. Dort konnte ich mich als deutschsprachiger Arzt schon nach kürzester Zeit etablieren und so baute ich mir eine neue Existenz auf. Dort, wo andere Urlaub machten. In diesem Paradies lernte ich dann auch Maria kennen. Eine Einheimische, die in dem selben Haus wie ich, als Arzthelferin arbeitete. Wir lernten uns kennen und lieben, auch wenn wir keine Kinder mehr bekamen waren wir sehr glücklich. Endlich zeigte sich mir das Leben von seiner Sonnenseite und ich fand, ich hatte es verdient. Es gab niemals Gründe, meine damalige Entscheidung in Frage zu stellen. Natürlich dachte ich oft an meine Angestellten und an meine Patienten. Rechtfertigte mein Egoismus es, die Menschen, die mir vertraut haben und sich auf mich verlassen haben, einfach im Stich zu lassen?
Gestern saß ich mit Maria in unserem Lieblingscafé in der Stadt und wie immer beobachteten wir amüsiert das bunte Treiben in den Straßen. Ein Reisebus hielt gerade auf dem großen Platz vor dem Café und eine Gruppe Touristen stieg aus. Ich erkannte sie sofort und mein Herz setzte für einen Moment aus. Auch nach 20 Jahre, die es nun schon her ist, habe ich sie sofort erkannt. Immer noch der selbe Gang und die selbe Haltung, auch wenn die Zeit zweifellos ihre äußerlichen Spuren hinterlassen hatten. Und im Schlepptau hatte sie ihre Freundin Anja. Wie man unschwer erkennen konnte, hatte Petra noch immer die Hosen an. Einen Moment überkam mich mit Schrecken der Gedanke entdeckt zu werden. Doch Petra schwenkte mit der Handtasche in Richtung einer der Gassen, die von uns aus gesehen links waren und lief schnurstracks darauf zu, ohne in unsere Richtung zu schauen. Anja hatte Mühe, ihr zu folgen und schon waren sie im Getümmel verschwunden.
Die Szene hatte nichts mit romantischen verliebten Urlaubsgefühlen zu tun, anders als bei Maria und mir.
In diesem Moment war ich mir sicher, dass ich alles richtig gemacht habe. „Ich liebe Dich. Bitte lass uns nach Hause gehen.“ Ich zwinkerte Maria zu, legte den Arm um ihre Schultern und küsste sie. Ja, ich finde, ich habe es verdient.