Der babylonische Schacht
„Luft, ich brauche frische Luft!“ Viel zu spät und schweißgebadet sprang Harro Klein an diesem Morgen aus dem Bett. Er stolperte zum Fenster, riss die schweren Vorhänge zur Seite und versuchte sich zurechtzufinden. „Wo bin ich?“
Prag, das war klar. Aber wo genau? Alte, mit grauweißen Ornamenten geschmückte Fassaden umschlossen links und rechts einen kleinen Platz, einen Burghof. Die hohen Fenster ließen die Größe der dahinter liegenden Räume und Säle erahnen. Dann die riesige Kirche, groß wie ein Dom.. Das alles kam Harro bekannt vor: „Hier war ich doch schon einmal…“
Plötzlich drang Beifall an sein Ohr. Er entdeckte eine bunte japanische Gruppe, die von einer jungen blonden Stadtführerin deutlich überragt wurde. Mit ihrem langen Glitzerstab zeigte sie aufgeregt in Harros Richtung. Jetzt flogen ihm ein Handkuss und vergnügliches japanisches Gekreische entgegen. Was für eine aufgeweckte Tschechin, dachte er, winkte zurück und erschrak zugleich: „Ich bin ja nackt!“
Vorhang zu. An nichts konnte er sich erinnern. Wie war er hierher gekommen, wie nur in dieses Zimmer? Seine Sachen hingen geordnet über der Stuhllehne, der Hartschalenkoffer stand mit ausgezogenem Griff wie zum Abflug bereit. Alles schien normal. Und doch spürte Harro, wie ihn dieser Morgen geheimnisvoll umwob. Hatte er das nicht alles schon einmal erlebt? Egal, dafür war jetzt keine Zeit.
Bald darauf trat Harro Klein, den Koffer hinter sich her ziehend, in den dritten Hof der Prager Burg. Kopfschüttelnd. Die Statue des heiligen Wenzel wies ihm mitleidig den Weg. Er hastete nahe dem Matthiastor an der japanischen Gruppe vorbei. Errötend. Die Tschechin war wirklich hübsch. Doch er hatte es eilig. Auf ihn wartete Watzlaw Prtek, einer der großen Investoren dieser Stadt. Harro überlegte, wie er um diese Zeit am Schnellsten zum Maximilian-Hotel gelangen könnte. Es liegt auf der anderen Moldauseite, dort wollten sie sich treffen. Mit dem Taxi? Das bleibt doch im Stau stecken, dachte er.
Mit dem Bus? Oder der rot-weißen Straßenbahn?
Harro entschloss sich zu laufen. Durch die nördliche Kleinseite der Stadt ging es die Nerudova bergab. Auf der Malustranské Námesti wusste er, dass seine Entscheidung richtig war; schon in wenigen Minuten würde er an der Karlsbrücke sein. Sein Handy klingelte. Im Eilschritt nahm er das Gespräch an, blieb abrupt stehen und wollte nicht glauben, was er gerade gehört hatte:
„Was sagen Sie da? … Der Termin ist abgesagt? … Was soll das heißen? ... Prtek ist krank? ... Ja, habe verstanden. Rückflug 16:30 Uhr.“
Und jetzt? Zum Flughafen? Einige Sekunden stand er unschlüssig im Halbschatten der Straße. Es hätte sein größter Deal werden sollen, den er mit Prtek heute abschließen wollte. Einige deftige Flüche schossen aus ihm heraus. Doch dann - plötzlich entschlossen - ging Harro in das nächstgelegene Hotel. An der Rezeption gab er für ein angemessenes Trinkgeld seinen Koffer zur Aufbewahrung ab, setzte sich ins Restaurant, bestellte Frühstück und einen großen Cognac. Erst langsam begriff er, dass die nächsten Stunden ihm gehörten, nur ihm allein. Schnell das Handy abstellen! Er schmunzelte bei dem Gedanken, für alle anderen unerreichbar zu sein – was für ein Luxus!
Etwas später stand Harro wieder auf der Straße – inklusive einem kleinen Rausch – und ließ sich im Menschenstrom treiben. Leicht und befreit fühlte er sich, schritt voller Neugier durch das Tor der Kleinseitener Türme zur Karlsbrücke hinauf. Ich bin ein König! Nur ein König kann über sich selbst bestimmen, dachte er und hielt sein Gesicht in die Vormittagssonne. Genießend schlenderte er über das alte Pflaster, ließ sich vom Spalier der Statuen zujubeln und nickte gelegentlich der einen oder anderen zu. Fliegende Händler säumten zu beiden Seiten den Weg, wie an die Mauer angenäht.
Genau im Kreuz der Brücke zur sanften Moldau blieb er stehen. Maler boten sich an, ein Porträt von ihm zu zeichnen. Doch Harro winkte ab. Stattdessen schwang er sich auf die Mauer und schaute den Wellen zu. Seine Gedanken fütterten saugende Strudel, schwebten über gekräuselter Flusshaut und ließen sich von einem aufsteigenden Schwan in die Lüfte entführen.
„Fliegt!“, rief er ihnen nach, „Fliegt so hoch ihr könnt! Und lasst euch nicht einfangen!“
Eine leichte Berührung ließ Harro zusammenzucken. Er drehte sich um und sah vor sich die junge Stadtführerin mit ihren bunten Japanern. Erklärend zeigte sie auf Harro. Fröhliches Gelächter. Wieder errötete Harro; diesmal jedoch legte er seinen Arm um die Frau und gemeinsam waren sie minutenlang das beliebteste Fotomotiv.
„Siehst du dort drüben den alten Mann? Er sieht dir irgendwie ähnlich."
„Warum sagst du das? Wer bist du?“
Statt einer Antwort küsste sie ihn auf die Wange, begleitet von begeisterten Rufen ihrer Gruppe. Ein Lächeln, ein Händedruck zum Abschied. Die Gruppe folgte dem Glitzerstab und verschwand alsbald durch das Altstädter Tor.
Der Alte stand noch immer da. In den Händen hielt er einen antiquierten Fotoapparat, zielte blind und schoss seine Bilder aus der Hüfte. Immer, wenn er auf den Auslöser drückte, blitzten in seinem faltigen Gesicht wache Augen auf.
Was für eine sonderbare, dünne Gestalt! Er trug zwei unterschiedliche Sandalen. Aus den löchriggrauen Socken wuchsen lederne Kaktuswaden empor. Ein langes, durchsichtiges Regencape überdeckte ausgewaschene Knickerbockers und das rotblau karierte Holzfällerhemd. Wie ein goldenes Messgewand funkelte es im Sonnenlicht. Seine schlohweißen, dünnen Haarstränen durchzog ein rotes Schleifenband.
Harro bemerkte, dass der seltsame Apparat beharrlich in seine Richtung klickte. Langsam ging er auf den Alten zu und fragte: „Sprechen Sie deutsch?“
„Auch deutsch.“
„Sie sprechen also mehrere Sprachen?“
„Ich spreche alle Sprachen. Ich sammle sie.“
„Ach, hören Sie doch auf! Es gibt tausende von Sprachen, niemand spricht alle.“
Der Alte schwieg über Harros Kopf hinweg.
„Warum fotografieren Sie mich?“
„Ich trenne dein Bild.“
„Mein Bild? Was soll der Quatsch! Wovon wollen Sie es trennen?“
„Ich trenne es von deiner Sprache.“
„Sie sind ein komischer Kauz! Warum tun Sie das?“
„Sind erst die Bilder von der Sprache getrennt, lassen sich die Worte aus ihren Hülsen locken. Erst dann nützen sie mir.“
„Nützen? So ein Unsinn. Was stellen Sie denn mit den Worten an, wenn man fragen darf?“
„Alles ist aus dem Wort geworden, und ohne das Wort wäre nichts, was geworden ist. Mit Worten aber grabe ich den babylonischen Schacht.“
„Meine Güte, jetzt drehen Sie aber auf. Wenn ich mich nicht irre, zitierten Sie gerade aus dem Johannesevangelium. Und das mit dem Schacht: den Spruch habe ich im Café Kafka gelesen. Steht da an der Wand. Oder so ähnlich…“
Wieder schwieg der Alte.
„Wer sind Sie? Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie seien der Auferstandene persönlich. Kommen Sie, raus mit der Sprache! Wer sind Sie?“
„Ich bin Niemand. Du bist ich. All die Jahre habe ich auf dich gewartet.“
Etwas verunsichert trat Harro einen Schritt zurück, entdeckte im Gesicht des Alten dieselbe Narbe über dem Kinn, die er schon seit seiner Kindheit trug. Auch die Augen des Alten hatten diese zwei ungleichen Farben, und inmitten der rechten Braue fehlten an der gleichen Stelle, wie bei ihm, die sonst so buschigen Härchen.
„Sie sehen ja genauso aus wie ich, nur viel älter! Gute Maske, mein Lieber, alle Achtung! Ich verstehe zwar nicht, was das Ganze soll, aber ich bin beeindruckt. Ehrlich!“
„Das ist keine Maske. Nur wer zu sich selbst zurückkehrt, findet das Leben. Einst waren die Menschen mächtig. Alle verstanden einander und mit gemeinsamer Kraft bauten sie den riesigen Turm. Gott hat das nicht gefallen. Er hat sie mit Sprachen entzweit. Kafka wusste, dass die Verwirrung der Menschen nur durch die Negation des Turmes aufgehoben werden kann. Ich bin Niemand, du bist ich. Gemeinsam graben wir am babylonischen Schacht.“
Der Alte legte seinen Regenmantelarm um Harros Schultern und schob ihn zur Kleinseite der Stadt. Wieder überkam Harro das Gefühl, von etwas Geheimnisvollem umwoben zu sein - so, wie an diesem Morgen. Und er hatte plötzlich Hunger. Zusammen gingen sie über die Brücke, weiter durch das zinnenbewehrte Tor, durch die engen Straßen und alten Gassen, und gelangten schließlich in den Vojan-Park. Würdevoll schritt der Alte; Harro, noch immer vom fremden Arm umschlossen, schlich wie hypnotisiert nebenher.
Im Schatten einer Kastanie holte der Alte unter einer Bank einen Eisenhaken hervor. Er steckte diesen in die Öffnung eines Gullydeckels und zog. Ächzen. Schleifendes Geräusch. Eisernes Klirren. Der Schacht war geöffnet. Aus großer Tiefe hörte Harro Stimmengewirr aufsteigen. Wie eine seltsame Melodie klang es. Da waren die englischen Erklärungen der Stadtführerin, japanisches Gelächter, das deutsch-tschechische Gefeilsche von der Karlsbrücke, die kläglichen Schreie eines sterbenden Schwans. Er trat an den Rand, entdeckte an der Innenwand tausende Worte, sah, wie diese sich spiralförmig nach unten drehten und in einem endlosen blauen Nichts verschwanden. Und noch immer dieser Sirenengesang. Harro spürte die dürre Hand des Alten, spürte, wie sie ihn sanft weiter schob.
„Steig hinab, mein Freund! Die Zeit ist reif für große Taten; heute graben wir mit deinen Worten weiter am babylonischen Schacht. Nur noch eine Sprache wird es geben. Verschwinden werden Neid und Hass. Erhöht werden wir auf unser Werk blicken und zur wahren Größe auferstehen.“
Harro zögerte. Für einen Moment dachte er an den Koffer, der noch immer im Hotel auf ihn wartete. Er dachte an das größte Bauprojekt dieser Stadt, für das er schließlich extra hierher gekommen war. Doch was waren all diese Gedanken gegen die Möglichkeit bei diesem Projekt dabei zu sein? Er musste sich dieser heroischen Aufgabe stellen! Harro beugte sich über das Loch, ergriff die erste Halterung und stieg zunächst mit zitternden Knien, dann immer sicherer und schneller hinab. Auch der Alte stieg ein, zog den Deckel über das Loch und folgte Harro in die modrige Tiefe.
Irgendwann war Harro so erschöpft, dass sie beschlossen in einem querenden Gang zu rasten. Nach wenigen Schritten kamen sie zu einer gedeckten Tafel. Fackeln tauchten diesen Ort in ein mildes Licht. Harro wunderte sich zwar, machte sich jedoch sogleich über die dampfenden Knödel her, trank dazu aus dem Kelch blutroten Wein. Was für ein Tag, dachte er. Krass. Das glaubt mir niemand. Und was für ein irrer Typ, hat sich hier echt gut eingerichtet.
Da war plötzlich diese Müdigkeit. Harro sah den Alten, der wie versteinert schien. Aufstehen, ich muss aufstehen, hämmerte es in seinem Kopf. Das ging, mühsam irgendwie. Jetzt einen Schritt, er wankte. „Hilf mir doch!“, rief er mit aufgerissenen Augen und sank schließlich wie ein nasser Sack zu Boden.
Geschafft! Der Alte hob Harro auf den Tisch, hielt seine Spinnenfinger über ihn und murmelte eine beschwörende Formel. Jetzt entnahm er behutsam Wort für Wort, solange, bis Harro leer war, ganz leer. Mit den Worten grub er den Schacht tiefer - so, wie er es immer getan hatte. Nur Harros Bild blieb übrig. Wie eine Hülle lag es da, wie ein Leben, das zu Ende gelebt werden wollte. Schließlich stieg der Alte selbst in diese Hülle, füllte dieses Bild aus, spürte freudig die junge Kraft. Genießend ließ er noch etwas Zeit verstreichen, nahm dann seinen Apparat und kletterte ins Leben zurück.
Den Koffer wollte er sich holen, vielleicht noch etwas über die Karlsbrücke ziehen. Er wird den Schacht vollenden, irgendwann. Und er wird Ausschau halten und warten. Warten auf die eigene Rückkehr, warten auf Harro Klein.
„Luft, ich brauche frische Luft!“ Viel zu spät und schweißgebadet sprang Harro Klein an diesem Morgen aus dem Bett. Er stolperte zum Fenster, riss die schweren Vorhänge zur Seite und versuchte sich zurechtzufinden. „Wo bin ich?“
Prag, das war klar. Aber wo genau? Alte, mit grauweißen Ornamenten geschmückte Fassaden umschlossen links und rechts einen kleinen Platz, einen Burghof. Die hohen Fenster ließen die Größe der dahinter liegenden Räume und Säle erahnen. Dann die riesige Kirche, groß wie ein Dom.. Das alles kam Harro bekannt vor: „Hier war ich doch schon einmal…“
Plötzlich drang Beifall an sein Ohr. Er entdeckte eine bunte japanische Gruppe, die von einer jungen blonden Stadtführerin deutlich überragt wurde. Mit ihrem langen Glitzerstab zeigte sie aufgeregt in Harros Richtung. Jetzt flogen ihm ein Handkuss und vergnügliches japanisches Gekreische entgegen. Was für eine aufgeweckte Tschechin, dachte er, winkte zurück und erschrak zugleich: „Ich bin ja nackt!“
Vorhang zu. An nichts konnte er sich erinnern. Wie war er hierher gekommen, wie nur in dieses Zimmer? Seine Sachen hingen geordnet über der Stuhllehne, der Hartschalenkoffer stand mit ausgezogenem Griff wie zum Abflug bereit. Alles schien normal. Und doch spürte Harro, wie ihn dieser Morgen geheimnisvoll umwob. Hatte er das nicht alles schon einmal erlebt? Egal, dafür war jetzt keine Zeit.
Bald darauf trat Harro Klein, den Koffer hinter sich her ziehend, in den dritten Hof der Prager Burg. Kopfschüttelnd. Die Statue des heiligen Wenzel wies ihm mitleidig den Weg. Er hastete nahe dem Matthiastor an der japanischen Gruppe vorbei. Errötend. Die Tschechin war wirklich hübsch. Doch er hatte es eilig. Auf ihn wartete Watzlaw Prtek, einer der großen Investoren dieser Stadt. Harro überlegte, wie er um diese Zeit am Schnellsten zum Maximilian-Hotel gelangen könnte. Es liegt auf der anderen Moldauseite, dort wollten sie sich treffen. Mit dem Taxi? Das bleibt doch im Stau stecken, dachte er.
Mit dem Bus? Oder der rot-weißen Straßenbahn?
Harro entschloss sich zu laufen. Durch die nördliche Kleinseite der Stadt ging es die Nerudova bergab. Auf der Malustranské Námesti wusste er, dass seine Entscheidung richtig war; schon in wenigen Minuten würde er an der Karlsbrücke sein. Sein Handy klingelte. Im Eilschritt nahm er das Gespräch an, blieb abrupt stehen und wollte nicht glauben, was er gerade gehört hatte:
„Was sagen Sie da? … Der Termin ist abgesagt? … Was soll das heißen? ... Prtek ist krank? ... Ja, habe verstanden. Rückflug 16:30 Uhr.“
Und jetzt? Zum Flughafen? Einige Sekunden stand er unschlüssig im Halbschatten der Straße. Es hätte sein größter Deal werden sollen, den er mit Prtek heute abschließen wollte. Einige deftige Flüche schossen aus ihm heraus. Doch dann - plötzlich entschlossen - ging Harro in das nächstgelegene Hotel. An der Rezeption gab er für ein angemessenes Trinkgeld seinen Koffer zur Aufbewahrung ab, setzte sich ins Restaurant, bestellte Frühstück und einen großen Cognac. Erst langsam begriff er, dass die nächsten Stunden ihm gehörten, nur ihm allein. Schnell das Handy abstellen! Er schmunzelte bei dem Gedanken, für alle anderen unerreichbar zu sein – was für ein Luxus!
Etwas später stand Harro wieder auf der Straße – inklusive einem kleinen Rausch – und ließ sich im Menschenstrom treiben. Leicht und befreit fühlte er sich, schritt voller Neugier durch das Tor der Kleinseitener Türme zur Karlsbrücke hinauf. Ich bin ein König! Nur ein König kann über sich selbst bestimmen, dachte er und hielt sein Gesicht in die Vormittagssonne. Genießend schlenderte er über das alte Pflaster, ließ sich vom Spalier der Statuen zujubeln und nickte gelegentlich der einen oder anderen zu. Fliegende Händler säumten zu beiden Seiten den Weg, wie an die Mauer angenäht.
Genau im Kreuz der Brücke zur sanften Moldau blieb er stehen. Maler boten sich an, ein Porträt von ihm zu zeichnen. Doch Harro winkte ab. Stattdessen schwang er sich auf die Mauer und schaute den Wellen zu. Seine Gedanken fütterten saugende Strudel, schwebten über gekräuselter Flusshaut und ließen sich von einem aufsteigenden Schwan in die Lüfte entführen.
„Fliegt!“, rief er ihnen nach, „Fliegt so hoch ihr könnt! Und lasst euch nicht einfangen!“
Eine leichte Berührung ließ Harro zusammenzucken. Er drehte sich um und sah vor sich die junge Stadtführerin mit ihren bunten Japanern. Erklärend zeigte sie auf Harro. Fröhliches Gelächter. Wieder errötete Harro; diesmal jedoch legte er seinen Arm um die Frau und gemeinsam waren sie minutenlang das beliebteste Fotomotiv.
„Siehst du dort drüben den alten Mann? Er sieht dir irgendwie ähnlich."
„Warum sagst du das? Wer bist du?“
Statt einer Antwort küsste sie ihn auf die Wange, begleitet von begeisterten Rufen ihrer Gruppe. Ein Lächeln, ein Händedruck zum Abschied. Die Gruppe folgte dem Glitzerstab und verschwand alsbald durch das Altstädter Tor.
Der Alte stand noch immer da. In den Händen hielt er einen antiquierten Fotoapparat, zielte blind und schoss seine Bilder aus der Hüfte. Immer, wenn er auf den Auslöser drückte, blitzten in seinem faltigen Gesicht wache Augen auf.
Was für eine sonderbare, dünne Gestalt! Er trug zwei unterschiedliche Sandalen. Aus den löchriggrauen Socken wuchsen lederne Kaktuswaden empor. Ein langes, durchsichtiges Regencape überdeckte ausgewaschene Knickerbockers und das rotblau karierte Holzfällerhemd. Wie ein goldenes Messgewand funkelte es im Sonnenlicht. Seine schlohweißen, dünnen Haarstränen durchzog ein rotes Schleifenband.
Harro bemerkte, dass der seltsame Apparat beharrlich in seine Richtung klickte. Langsam ging er auf den Alten zu und fragte: „Sprechen Sie deutsch?“
„Auch deutsch.“
„Sie sprechen also mehrere Sprachen?“
„Ich spreche alle Sprachen. Ich sammle sie.“
„Ach, hören Sie doch auf! Es gibt tausende von Sprachen, niemand spricht alle.“
Der Alte schwieg über Harros Kopf hinweg.
„Warum fotografieren Sie mich?“
„Ich trenne dein Bild.“
„Mein Bild? Was soll der Quatsch! Wovon wollen Sie es trennen?“
„Ich trenne es von deiner Sprache.“
„Sie sind ein komischer Kauz! Warum tun Sie das?“
„Sind erst die Bilder von der Sprache getrennt, lassen sich die Worte aus ihren Hülsen locken. Erst dann nützen sie mir.“
„Nützen? So ein Unsinn. Was stellen Sie denn mit den Worten an, wenn man fragen darf?“
„Alles ist aus dem Wort geworden, und ohne das Wort wäre nichts, was geworden ist. Mit Worten aber grabe ich den babylonischen Schacht.“
„Meine Güte, jetzt drehen Sie aber auf. Wenn ich mich nicht irre, zitierten Sie gerade aus dem Johannesevangelium. Und das mit dem Schacht: den Spruch habe ich im Café Kafka gelesen. Steht da an der Wand. Oder so ähnlich…“
Wieder schwieg der Alte.
„Wer sind Sie? Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie seien der Auferstandene persönlich. Kommen Sie, raus mit der Sprache! Wer sind Sie?“
„Ich bin Niemand. Du bist ich. All die Jahre habe ich auf dich gewartet.“
Etwas verunsichert trat Harro einen Schritt zurück, entdeckte im Gesicht des Alten dieselbe Narbe über dem Kinn, die er schon seit seiner Kindheit trug. Auch die Augen des Alten hatten diese zwei ungleichen Farben, und inmitten der rechten Braue fehlten an der gleichen Stelle, wie bei ihm, die sonst so buschigen Härchen.
„Sie sehen ja genauso aus wie ich, nur viel älter! Gute Maske, mein Lieber, alle Achtung! Ich verstehe zwar nicht, was das Ganze soll, aber ich bin beeindruckt. Ehrlich!“
„Das ist keine Maske. Nur wer zu sich selbst zurückkehrt, findet das Leben. Einst waren die Menschen mächtig. Alle verstanden einander und mit gemeinsamer Kraft bauten sie den riesigen Turm. Gott hat das nicht gefallen. Er hat sie mit Sprachen entzweit. Kafka wusste, dass die Verwirrung der Menschen nur durch die Negation des Turmes aufgehoben werden kann. Ich bin Niemand, du bist ich. Gemeinsam graben wir am babylonischen Schacht.“
Der Alte legte seinen Regenmantelarm um Harros Schultern und schob ihn zur Kleinseite der Stadt. Wieder überkam Harro das Gefühl, von etwas Geheimnisvollem umwoben zu sein - so, wie an diesem Morgen. Und er hatte plötzlich Hunger. Zusammen gingen sie über die Brücke, weiter durch das zinnenbewehrte Tor, durch die engen Straßen und alten Gassen, und gelangten schließlich in den Vojan-Park. Würdevoll schritt der Alte; Harro, noch immer vom fremden Arm umschlossen, schlich wie hypnotisiert nebenher.
Im Schatten einer Kastanie holte der Alte unter einer Bank einen Eisenhaken hervor. Er steckte diesen in die Öffnung eines Gullydeckels und zog. Ächzen. Schleifendes Geräusch. Eisernes Klirren. Der Schacht war geöffnet. Aus großer Tiefe hörte Harro Stimmengewirr aufsteigen. Wie eine seltsame Melodie klang es. Da waren die englischen Erklärungen der Stadtführerin, japanisches Gelächter, das deutsch-tschechische Gefeilsche von der Karlsbrücke, die kläglichen Schreie eines sterbenden Schwans. Er trat an den Rand, entdeckte an der Innenwand tausende Worte, sah, wie diese sich spiralförmig nach unten drehten und in einem endlosen blauen Nichts verschwanden. Und noch immer dieser Sirenengesang. Harro spürte die dürre Hand des Alten, spürte, wie sie ihn sanft weiter schob.
„Steig hinab, mein Freund! Die Zeit ist reif für große Taten; heute graben wir mit deinen Worten weiter am babylonischen Schacht. Nur noch eine Sprache wird es geben. Verschwinden werden Neid und Hass. Erhöht werden wir auf unser Werk blicken und zur wahren Größe auferstehen.“
Harro zögerte. Für einen Moment dachte er an den Koffer, der noch immer im Hotel auf ihn wartete. Er dachte an das größte Bauprojekt dieser Stadt, für das er schließlich extra hierher gekommen war. Doch was waren all diese Gedanken gegen die Möglichkeit bei diesem Projekt dabei zu sein? Er musste sich dieser heroischen Aufgabe stellen! Harro beugte sich über das Loch, ergriff die erste Halterung und stieg zunächst mit zitternden Knien, dann immer sicherer und schneller hinab. Auch der Alte stieg ein, zog den Deckel über das Loch und folgte Harro in die modrige Tiefe.
Irgendwann war Harro so erschöpft, dass sie beschlossen in einem querenden Gang zu rasten. Nach wenigen Schritten kamen sie zu einer gedeckten Tafel. Fackeln tauchten diesen Ort in ein mildes Licht. Harro wunderte sich zwar, machte sich jedoch sogleich über die dampfenden Knödel her, trank dazu aus dem Kelch blutroten Wein. Was für ein Tag, dachte er. Krass. Das glaubt mir niemand. Und was für ein irrer Typ, hat sich hier echt gut eingerichtet.
Da war plötzlich diese Müdigkeit. Harro sah den Alten, der wie versteinert schien. Aufstehen, ich muss aufstehen, hämmerte es in seinem Kopf. Das ging, mühsam irgendwie. Jetzt einen Schritt, er wankte. „Hilf mir doch!“, rief er mit aufgerissenen Augen und sank schließlich wie ein nasser Sack zu Boden.
Geschafft! Der Alte hob Harro auf den Tisch, hielt seine Spinnenfinger über ihn und murmelte eine beschwörende Formel. Jetzt entnahm er behutsam Wort für Wort, solange, bis Harro leer war, ganz leer. Mit den Worten grub er den Schacht tiefer - so, wie er es immer getan hatte. Nur Harros Bild blieb übrig. Wie eine Hülle lag es da, wie ein Leben, das zu Ende gelebt werden wollte. Schließlich stieg der Alte selbst in diese Hülle, füllte dieses Bild aus, spürte freudig die junge Kraft. Genießend ließ er noch etwas Zeit verstreichen, nahm dann seinen Apparat und kletterte ins Leben zurück.
Den Koffer wollte er sich holen, vielleicht noch etwas über die Karlsbrücke ziehen. Er wird den Schacht vollenden, irgendwann. Und er wird Ausschau halten und warten. Warten auf die eigene Rückkehr, warten auf Harro Klein.