Franka schrieb eine hübsche Geschichte, die erscheint einem Leser zunächst rätselhaft und unverständlich, aber sobald man das Wort „Sonne“ einsetzt, lösen sich alle Unklarheiten auf einen Schlag auf wie Nescafé im heißen Wasser und der Leser ist hochzufrieden wie ein Geheimdiensttüftler, der den Code des Gegners geknackt hat. Die Lust des Lesers dieser Geschichte liegt meiner Meinung nach darin, dass da zuerst ein Riesenproblem ist, das wird aber gelöst und nicht nur einigermaßen entwirrt, sondern komplett aufgelöst, zum Verschwinden gebracht. Man giert nach solchen schönen, ja geradezu zauberhaften Erfahrungen, weil es für die Probleme des wirklichen Lebens meist keinen einfachen Schlüssel gibt. Oft sind Seelen- und Lebenslagen sogar so, dass sie sich umso mehr verwirren, je mehr man sich mit ihrer Lösung beschäftigt. Es sind aber gerade solche komplexen Situationen, die mich anziehen, und deswegen kann ich es dem Leser nicht leicht machen, sondern muss hoffen, dass er einen persönlichen Hintergrund mit einbringt, der sich zum Teil in meinem Text spiegelt, auf eine Art, dass selbiger Leser die Dinge und sich selber zwar wiedererkennt, aber doch in einem neuen Licht betrachtet.
Vielleicht sieht er/sie ja sich selber, wie er oder sie an seinem/ihrem eigenen Leben herumbaut, vielleicht erkennt er eigenes Getriebensein zu irgendetwas, das ihn so ausfüllt, dass er Essen und Schlafen darüber vernachlässigt, vielleicht nimmt er den je nach Sichtweise im Vorder- oder Hintergrund dargestellten Turm von Babel als traditionelle Metapher für Sprachverwirrung, das Bild von Leuten, die zwar scheinbar die gleiche Sprache sprechen, aber aneinander vorbeireden. Verbindet womöglich dieses Bild (sehnsüchtig oder auch nicht) mit Pfingsten, einem Tag, an dem das genaue Gegenteil passierte: Leute völlig verschiedener Sprachen verstanden sich plötzlich mühelos. Vielleicht denkt einer ja an das Babylon am Hudson und zum Beispiel, dass ausgerechnet einer der Türme dieses Babylon Ziel eines Anschlags wurde und welche Bedeutung Türme überhaupt haben, entdeckt nebenbei, dass sie viel zu groß sind, als dass man sie, wie von Bluefin vorgeschlagen, unter Priesterröcken verstecken könnte. Vielleicht sieht er sich ja auch in einem Literaturforum wie der Leselupe, wo alles turmhoch wächst und wuchert, wo jeden Tag viel Neues dazukommt, jeder selber seine Steine vermauert, wo die Administratoren zum Teil etwas hilflos reagieren, wo man sich aber auch was einfangen kann, wenn man sich nicht an die Nettiquette hält. Möglichkeiten gibt es genug. Nur einen Wunsch hätte ich: Wie immer ihr an meine Geschichte herangeht, bleibt dabei nicht allzu eindimensional.
Franka hat erwähnt, dass ihr Text bei einem Schreibwettbewerb entstanden ist. Der Leser liest´s und sagt sich, aha, jetzt habe ich alles verstanden. Hat er aber nicht. Ist zwar nett, wenn man liest, dass Schiller den Geruch fauler Äpfel brauchte, um Schreiben zu können, und dergleichen mehr, aber für die Rezeption eines Textes sind solche Entstehungsumstände eher unerheblich. Franka hätte auch sagen können, dass die Oma ihre Kreuzworträtsel alle gelöst hatte und wegen der unchristlichen Uhrzeit oder weil Feiertag war kein neues Rätselheft kaufen konnte und deswegen sagte: Franka, mein Kind, erzähl mir doch nochmal so eine Geschichte wie neulich, weißt du noch? Für die Erschließung des Textes hätte das alles aber nicht wirklich geholfen.
Mich interessiert noch nicht einmal, welche kinderschänderischen Phantasien Lewis Carroll hatte, bevor oder während er Alice in Wonderland schrieb oder welches Streitgespräch Kafkas mit seinem Vater oder einer Frau zum Auslöser für seinen „Landarzt“ wurde. Die Texte erschließen sich mir, dem Leser, erst dann, wenn ich bereit bin, mich im Märzhasen zu entdecken oder im eklen Pferdeknecht oder dem Knaben mit der Wunde in der Seite. Und ich bin, ehrlich gesagt, froh, dass heute keiner mehr weiß, was der Autor des Nibelungenlieds vor der Abfassung des Textes gefrühstückt hat oder ob Chrétien de Troyes die Idee zu Parzival und dem Gral kam, nachdem ihm sein Onkel eine Tasse an den Kopf geworfen hatte oder was auch immer.
Natürlich könnte auch ich sagen, was mich auf die Idee brachte, diese Geschichte zu schreiben, welche Situation(en) des wirklichen Lebens das alles auslöste(n), welche Assoziationen hinzukamen und aus welchen Quellen sie stammen und überhaupt über welche tiefgründige und weit ausgreifende Bildung der großartige Verfasser mit spielerischer Leichtigkeit verfügen kann. Schon möglich, dass dann der eine oder andere das liest und sagt, aha, jetzt habe ich alles verstanden. Aber auch hier gilt das bereits Gesagte: Wirklich helfen würde es dem Leser nicht, weil er den Text letztlich nur aus sich selber erschaffen kann oder gar nicht.