Der Bazar von Kashan

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lietzensee

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Der Bazar von Kashan​

Der Herbstwind trieb mich ins Persische Büchercafé. Für meinen Bus war ich zu früh und mein Mantel zu dünn für diesen Morgen. Ich stapfte die Kantstraße entlang und ging ins erste Lokal, in dem Licht brannte.
"Einen Cappuccino" Die halbe Stunde bis zum Bus konnte ich mir besser im Warmen vertreiben.
"Guten Morgen und sehr gerne, der Herr."
Ich sah mich um. Die meisten Tische waren noch leer. Nur am Fenster las ein Mann Zeitung. Vor ihm dampfte ein Glas Tee und von der Titelseite sah mich ein Gesicht fragend an. Die Schlagzeile darunter konnte ich nicht verstehen. Sie war auf Persisch.
Um meine Ruhe zu haben, ging ich tiefer in den Raum. Die Buchrücken in den Regalen waren sauber sortiert und die einzelnen Fächer mit handgeschriebenen Kategorien versehen. Keine davon konnte ich lesen. Ich versuchte, einem der fremden Schnörkel mit den Augen zu folgen. Es war nicht zu erkennen, wo ein Buchstabe endete und der nächste begann. Jedes Wort ein Labyrinth und all die Schlaufen zogen das Auge hinein. Ich lachte über eine spontane Erkenntnis: Schrift kann bezaubern, wenn man vom Wissen um ihre Bedeutung frei ist. Der Herr am Fenster raschelte mit der Zeitung.
Ich hängte meinen Mantel über einen Stuhl. Die hohe Decke des Raumes trug Stuck und darüber kreuz und quer verlegte Kabel. In einer Ecke war die Toilette mit Gipskarton abgeteilt und auf einem Gemälde oben an der Wand streckte sich ein Mann auf einem Divan. Es dauerte eine Weile, bevor ich in dem runden Gesicht Goethe erkannte. Mein Cappuccino ließ auf sich warten. Unschlüssig ging ich die Regale ab.
Vor einer besonders bedeutsamen Bücherreihe blieb ich stehen. War es eine Weltgeschichte? Die Werkausgabe eines großen Poeten? Ich erkannte die Bedeutung der Bücher daran, dass sie in dunklem Leder gebunden waren und im Regal dieselbe Ausgabe gleich dreimal übereinander stand. Drei Reihen identischer, unverständlicher Goldschnitt-Titel, jede Reihe glich der Anderen, dachte ich. Aber nein, in der Dritten steckte zwischen den Lederrücken ein rotes Büchlein. Ich zog den schmalen Band heraus. Ein seltsam roter Umschlag. Den Titel konnte ich nicht lesen, aber das Foto darunter...
"Einen Cappuccino, bitte der Herr." Die Bedienung stellte die Tasse und ein Schälchen Gebäck auf meinen Tisch. Versteckte sich Spot hinter ihrem schönen Lächeln? Ich sah auf meine Uhr. Noch immer zwanzig Minuten.
Das Foto auf dem Umschlag zeigte einen Jungen mit noch schlanken Gliedern und Flaum auf der Oberlippe. Ich blätterte. Auf den ersten Seiten zeigten Schwarz-Weiß-Bilder, wie der Junge aus einem Fenster kletterte. Ein kurzer Text auf Persisch. Auf der nächsten Seite saß er dann in einem Bus und blickte auf Dattelpalmen am Straßenrand. Ein alter Mann mit Bart ermahnte den Jungen. Das verstand ich problemlos, weil ja alle alten Männer die Jungen ermahnen. Der Alte hob seine beringte Hand: "Bleibe hier! Gehe nicht nach Kashan."
Ich musste nicht umblättern, um zu wissen, dass so ein Junge die Warnung in den Wind schlug. Er fuhr mit dem Bus weiter, bis ein Kontrolleur entdeckte, dass er keine Fahrkarte hatte. Von dem Ort, andem er hinaus geworfen wurde, hatte er noch nie etwas gehört. Doch ließ er sich davon nicht abschrecken. Von einem Marktstand stahl er Schokoriegel und dazu eine Hand voll Datteln. Mit diesem Proviant versteckte er sich auf der Ladefläche eines Lastwagens. Er fuhr einen staubigen Tag und eine holprige Nacht, bis ein Straßenschild ihm verriet, dass er in die falsche Richtung fuhr. Da sprang er ab. Im Schatten einer Lehmwand dachte der Junge dann nach. Er musste eine Landkarte kaufen. Dazu brauchte er Geld.
Er putzte im Busdepot Scheiben. Er füllte das Wasser der Trinkbrunnen auf und hörte jeden Abend, dass er den Lohn erst am nächsten Tag bekommen würde. So ging das eine Woche. "Werd nicht frech, Bursche! Morgen wirst du dein Geld schon bekommen."
An einem heißen Vormittag half er dem Busfahrer beim Tanken und klagte sein Leid. "Ach?", rief der Fahrer aus, "Du willst nach Kashan? Natürlich! Den Bazar dort muss man gesehen haben. Vom Dach aus ist der Blick überwältigend. Steig nur mit ein, ich fahre ja direkt dort hin."
So saß der Junge hinten im Bus auf einem Stapel Koffer. Ein kaputtes Fenster blies warmen Wind in sein Gesicht. Der Bus wurde aufgehalten von einer Herde Schafe, dann von einer Straßensperre und dann von einem Achsbruch. Die letzten zwanzig Kilometer musste er laufen. Doch das störte den Jungen nicht. Über ihm funkelte eine prächtige Sternennacht. Als die Sonne aufging, sah er Kashan. Golden glühte die Kuppel des Bazars im Morgenlicht. Er jubelte. Er rannte. Die Warnung einer alten Frau beachtete er nicht, als er im Rennen ihren Karren umstieß. Über Zäune hinweg, Treppen und Leitern hinauf, erklomm er die gewölbte Kuppel des Bazars. Wie frisch die Luft hier oben schmeckte und wie weit der Blick reichte. Antennen blitzten im Sonnenlicht. Die Dächer der anderen Häuser lagen unter ihm. Sie berührten einander und luden ein, auf ihnen von einem Ende der Stadt zum anderen zu spazieren. Er aber stieg weiter und weiter die Kuppel hinauf. Sand knirschte unter seinen Füßen. Ein Vogel schrie. Am höchsten Punkt fand er schließlich eine in Stein gefassten Öffnung. Der Junge kletterte auf die Fassung und beugte sich vor.
Was er dort unten sah! Das Innere des Gewölbes war mit fantastischen Mosaiken gekachelt, Rundbögen und Säulen spreizten sich in die Tiefe hinab. Weit, weit unten, wie am Grunde eines Brunnens, rauschte das Treiben des Bazars. Er sah Stapel von kostbaren Teppichen. Berge von Obst und Plastikgeschirr leuchteten in allen Regenbogenfarben und berauschend stieg der Duft von Rosenöl zu ihm herauf. Der Junge beugte sich weiter vor. Ein Wasserbecken funkelte türkis. An dessen Rand saß ein Mädchen. Sie trug einen roten Schal und blickte nach oben. Der Junge streckte sich, soweit er konnte. Galt ihr Blick etwa ihm? Sand knirschte unter seinen Füßen. Seltsam, wie rot ihr Schal schimmerte. Sie zwinkerte. War das Spott? Plötzlich geriet er ins Wanken...
"Möchten Sie zahlen?" Die Bedienung stand vor meinem Tisch.
"Warum?" Meine Tasse war erst halb leer.
Sie lächelte. "Wir schließen jetzt."
Ich sah mich um. Dann schaute ich lange auf meine Uhr. Ich konnte nicht glauben, dass das trübe Licht vor dem Fenster schon der Abenddämmerung gehörte.
"Morgen früh um sieben, mein Herr, machen wir wieder auf." Die Bedienung griff das Fotobändchen. Der Herr vor dem Fenster faltete seine Zeitung zusammen und draußen im Abenddunst pfiff der Novemberwind.
 

Aniella

Mitglied
Hallo @lietzensee,

ich habe mich einfangen lassen von der faszinierenden Vorführung. Es ist nicht selten, dass ich an kleinen Dingen am Wegesrand stehen beibe, an denen die meisten Menschen vorübergehen, damit meine ich jetzt gar nicht den Text, sondern die Geschichte des Jungen, der sich so vorbehaltlos begeistern lässt und alle Warnungen in den Wind schlägt, um schöne Dinge zu sehen und zu erleben. Dieser Weg mag zwar nicht der beste sein, aber er verspricht (und hält) meistens sehr viel Schönes, was man sonst nie entdeckt hätte.
Sehr gern gelesen und die Botschaft versuche ich selbst immer noch liebend gern weiterzugeben.

LG Aniella
 

seefeldmaren

Mitglied
Hallo @lietzensee,

ich habe mich einfangen lassen von der faszinierenden Vorführung. Es ist nicht selten, dass ich an kleinen Dingen am Wegesrand stehen beibe, an denen die meisten Menschen vorübergehen, damit meine ich jetzt gar nicht den Text, sondern die Geschichte des Jungen, der sich so vorbehaltlos begeistern lässt und alle Warnungen in den Wind schlägt, um schöne Dinge zu sehen und zu erleben. Dieser Weg mag zwar nicht der beste sein, aber er verspricht (und hält) meistens sehr viel Schönes, was man sonst nie entdeckt hätte.
Sehr gern gelesen und die Botschaft versuche ich selbst immer noch liebend gern weiterzugeben.

LG Aniella
Dem schließe ich mich liebendgern an, @lietzensee !
 

Frodomir

Mitglied
Hallo lietzensee,

auch ich habe deine Geschichte gern gelesen. Man vergisst im Laufe des Textes, dass die Szene eigentlich in einem Café begonnen hat, so nimmt sie dann in Kashan Fahrt auf. Es war dann fast schade, dass man wieder in die Realität zurückgerissen wird, aber das spricht auch sehr für die literarische Qualität deines Textes. Schön ist auch die Anspielung auf Goethes West-östlichen-Divan, das passt natürlich sehr gut zum Inhalt deines Textes.

Allerdings hatte ich mich gefragt, warum der persische Jüngling so schnurstracks auf die Kuppel zusteuert? Das fand ich irgendwie nicht so logisch, weil ich doch annahm, er würde sich direkt in den Trubel des Basars stürzen wollen. Aber der Spannung wegen konnte ich darüber hinwegsehen.

Empfehlen würde ich aber unbedingt, den Text in Absätze zu unterteilen. Mindestens in drei, also einmal die Eröffnungsszene, dann der Hauptteil und dann wieder der Teil im Café. Vielleicht wären sogar ein oder zwei weitere Absätze angebracht.

Ein paar kleine Fehler bzw. Problemchen gibt es auch noch:

Die hohe Decke des Raumes trug Stuck und darüber kreuz und quer verlegte Kabel. (Hier würde ich über ein zweites Verb nachdenken, da die Kabel ja nicht getragen werden.)

jede Reihe glich der Anderen (ich bin mir nicht sicher, aber müsste anderen hier nicht klein geschrieben werden, weil es sich auf die Reihe bezieht? Und im nächsten Satz das Gleiche auch mit dritten?)

Versteckte sich Spott hinter ihrem schönen Lächeln?

weil ja alle alten Männer die Jungen ermahnen
(Meinst du Jungen als Substantiv oder junge Männer? Dann müsste es auch klein geschrieben werden.)

Insgesamt habe ich deine Erzählung gern gelesen und mich auch gern mit deinem Text beschäftigt.

Viele Grüße
Frodomir
 



 
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