Der befleckte Spiegel

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Der befleckte Spiegel


© Rolf-Peter Wille


(Diese Geschichte spielt in Taiwan.)

Ganz aus Versehen warf Dr. X., Präsident der Miëntze* Universität, beim Händewaschen einen Blick in den Spiegel im Klo der Musikabteilung. Die Reflektion des Präsidenten, die der Spiegel durch die Augen desselben in das Präsidentengehirn warf, stimmte nicht überein mit dem Bild eines Präsidenten der Miëntze Universität in eben diesem Präsidentengehirn. Der Spiegel war besudelt, und X.’s unbefleckter Anzug, made in Hongkong, erschien in diesem Spiegel als besudelter Anzug — ganz zu schweigen von den verfeinerten Gesichtszügen des Herrn Präsidenten, die in diesem Spiegel einen ganz ordinären Ausdruck erhielten.

Diese Erscheinung erregte die Empörung des Präsidenten. Die Miëntze Universität verdiente einen unbefleckten Präsidenten, selbst wenn es sich nur um eine Reflektion handelte. X. beauftragte ohne weitere Umstände seinen Sekretär, den Dean zu benachrichtigen. Der Dean benachrichigte den Jiao Wu Tzeng, dieser den Direktor der Musikabteilung, welcher seinem Sekretär befahl, die Angelegenheit bei der nächsten Abteilungskonferenz zur Sprache zu bringen. Der Sekretär der Musikabteilung tippte das Wort ‘Spiegel’ in die Abteilungskonferenz-Akte des Computers der Musikabteilung. Der Computer der Musikabteilung zögerte nicht lange und druckte das Wort Spiegel als dritten Programmpunkt der Abteilungskonferenz aus, welche für Montag vorgesehen war.

Das Spiegelproblem sollte um 9AM diskutiert werden.

Am Montag, pünktlich um 9AM, beauftragte der Direktor der Musikabteilung, ein Herr in unbeflecktem Anzug, made in Taipei, seinen Sekretär, in unbeflecktem Oberhemd, die Angelegenheit mit dem besudelten Spiegel zur Sprache zu bringen.

Der Sekretär erhob sich und zupfte mehrmals an seinem Gürtel, der die Grenze zwischen der Hose und dem unbefleckten Hemd bildete. Er machte ein sehr ernstes Gesicht, was man allerdings nicht bemerken konnte, da er bereits von Natur aus ein etwas ernstes Gesicht hatte. "Ein Spiegel im Klo unserer Abteilung ist besudelt worden." sprach der Sekretär. "Der Präsident X. selbst hat sich an diesem Spiegel gestört und ihn kritisiert. Es ist wohl überflüssig zu bemerken, daß dies sehr negative Folgen für unsere Abteilung hat."

Nach dieser sehr ernsten Rede des Sekretärs erschienen die Gesichter des Lehrkörpers ebenfalls sehr ernst. Der Direktor erhob sich und zupfte mit der rechten Hand am linken Ärmel seines unbefleckten Anzugs, made in Taipei. "Ich bitte Sie um Vorschläge, wie wir dieser Situation Herr werden können." sprach der Herr Direktor.

Es folgte ein ratloses Schweigen. Das Problem des besudelten Spiegels war dem Lehrkörper der Musikabteilung bisher nicht bewußt geworden. Die Besudelung jenes Spiegels war nämlich eine chronische. Er war wahrscheinlich bereits besudelt hergestellt, da sich niemand erinnern konnte, ihn jemals unbefleckt gesehen zu haben. Im übrigen beschränkte sich die Besudelung keineswegs auf diesen Spiegel allein: Alle Spiegel der Miëntze Universität waren besudelt. Alle Klos waren besudelt, und die gesamte Universität war besudelt, mit Ausnahme der Anzüge des Präsidenten und der Direktoren. Das Problem war also keineswegs die Besudelung des Spiegels sondern vielmehr die Begegnung zwischen besudeltem Spiegel und unbesudeltem Präsidenten.

Als erste sprach Frau Professor Y. Sie hatte bereits mehrfach bei Konferenzen auf den Gestank im Klo der Musikabteilung hingewiesen, und dies gab ihr ein Gefühl der moralischen Überlegenheit. Frau Y. hatte beim Sitzen oder Stehen ungefähr die gleiche Höhe. Das Aufstehen geschah bei ihr also schneller und mit größerer Natürlichkeit als bei den Herren, die sich erst am Gürtel oder Ärmel zupfen müssen. Sie redete deshalb mit großer Festigkeit. Man könne dem Präsidenten nicht zumuten, die Klos der verschiedenen Abteilungen zu benutzen. Der Präsident solle sein eigenes privates und unbeflecktes Klo nebst Spiegel erhalten, und die Musikabteilung könne ja notfalls bei der Einrichtung eines solchen Präsidentenklos behilflich sein.

Trotz der Festigkeit des Vortrags der Professorin schien der Direktor nicht überzeugt. Er zupfte sich mehrfach am Ärmel und benutzte diese scheinbar schüchterne Geste geschickt zur Distanzgewinnung. Er lobte die innere Logik der Y.’schen Gedankengänge mußte aber darauf hinweisen, daß eine derart gewichtige Entscheidung, wie die Einrichtung eines Präsidentenklos, die Befugnisse der Musikabteilung überstiegen und nur vom Zentralkomitee vorgenommen werden könne. Im übrigen sei das Problem nicht beim Herrn Präsidenten sondern bei der Musikabteilung, deren Ansehen sozusagen durch den befleckten Spiegel besudelt worden sei.

Ein jüngerer Dozent erhob sich hierauf und schlug vor, den Spiegel zu putzen. Dieser Dozent hatte bereits bei früheren Konferenzen leichtsinnige Bemerkungen gemacht. Auch dieser Vorschlag wurde sofort vom gesamten Lehrkörper als naiv abgelehnt: Der Präsident würde mit Sicherheit niemals wieder das Klo der Musikabteilung betreten. Eine so unbedeutende Geste wie das Putzen des Spiegels könne also auf keinen Fall das Ansehen der Musikabteilung wiederherstellen. Es gelte vielmehr, einen symbolischen Schritt von Bedeutung zu wagen.

Der Direktor persönlich schlug vor, unbefleckbare Spiegel aus Japan zu importieren, bemerkte aber selbst, daß die Musikabteilung kein Budget für eine derartige Investition habe.

Ein älterer Professor wies schließlich darauf hin, daß der Spiegel sicher beim Händewaschen durch Seifenspritzer besudelt worden sei, und der Lehrkörper befand, daß dies eine vernünftige Erklärung sei. Ein spitzfindiger Zyniker hätte vielleicht bemerken können, daß es in den Klos der Miëntze Universität grundsätzlich keine Seife gab und sich auch niemals jemand die Hände wusch — vielleicht mit Ausnahme des Präsidenten an jenem verhängnisvollen Tage. Aber der Lehrkörper der Musikabteilung schien keinen Anstoß an dieser Tatsache zu nehmen.

Man kam also überein, das Händewaschen zu verbieten, und befahl, diese Maßnahme sofort über Lautsprecher und Plakate bekanntzugeben und auch den Herrn Präsidenten zu benachrichtigen. Ferner sollte die realistische Attrappe einer Videokamera über dem besudelten Spiegel angebracht werden, um eventuelle Händewascher abzuschrecken. Der Geburtstag des Präsidenten wurde zum ‘Clean Mirror Day’ ausgerufen. Ein Feuerwerk und ein Sportfest sollten an diesem Tag stattfinden und spezielle T-shirts mit der englischen Aufschrift ‘Clean Mirror, Music Department, MTU’ verkauft werden.

Das Ansehen der Musikabteilung war auf diese Weise wiederhergestellt. Jedoch der linke Ärmel des Direktoranzugs sowie der Gürtel des Sekretärs schauen jetzt leicht besudelt aus, während Präsident X. nur noch nach unten schaut, wenn er ein Klo der Miëntze Universität betritt.


*Miëntze = Gesicht
 
N

niclas van schuir

Gast
Hallo Rolf-Peter,
ich hoffe, dass du nicht in diesem Komödienstadl arbeiten musstest. Ich kann mit dir Szene richtig gut vorstellen. Hab mich schmunzelnd amüsiert wie immer bei deinen Geschichten.
Gruß, Nic
 
Hallo Nic,

vielen Dank fuer's Lesen und Feedback. Im Moment sind sowohl unsere Konferenzen als auch unsere Klos leider sehr viel langweiliger geworden. Inzwischen gibt es sogar Klopapier und Seife, etc. etc. (Wahrscheinlich werde ich auswandern muessen...).

Viele Gruesse,
RP
 

herb

Mitglied
ich schau in mein Gesicht

Hallo Rolf-Peter,

nach dem Lesen deiner Geschichte schüttelte ich etwas ratlos den Kopf, stand auf und ging auf die Toilette meiner wunderbaren Wohnung und schaute in den Spiegel. Dieser warf eine Reflektion in mein Gehirn, ein breit grinsendes Gesicht mit leicht irritierten Augenflimmern, Äh, zum Auswandern würde ich dir einen Slum der Kikuyu empfehlen,
nicht der Ugander, die sind zwar ärmer, aber sehr sauber

Herzlich
 

majissa

Mitglied
Besudelter Kommentar

Lieber Rolf-Peter,

zu gerne würde ich dich mal in der Luft zerreissen, finde aber nichts zum Besudeln. Einzig die Namen "X" und "Y" haben mich etwas gestört. Doch ohne "Y" kein "Y.'scher Gedankengang". Ein Ausdruck, der mir wiederum sehr gefallen hat.

Wirklich zum Kringeln ist der besudelte 7. Absatz. Und die Vorstellung einer Dame namens "Y", die sich von einem Stuhl erhebt, ohne an Größe zu gewinnen, läßt meine Mundwinkel in ungeahnte Höhen schnellen.

Wäre noch anzumerken, daß ich diese Geschichte bereits vor einigen Wochen in unmittelbarer Nähe arg besudelter Toiletten las. Kann man sich für ein besudeltes Werk ein prächtigeres urinöses Ambiente wünschen?

Liebe Grüße
Majissa
 
Hallo Herb,

vielen Dank fuer die Reflektionen! Ich habe bereits Nachforschungen ueber Kikuyu und Masai Klos angestellt und ein Visum beantragt.

Thii na wega,
RP
 
Liebe Majissa,

ich bin froh, dass Du meine Geschichte weder in der urinoesen Luft zerrissen, noch in gewisse patrasische Toiletten hineingeworfen hast, die ja ohnehin sicher bereits voellig verstopft sein werden. Da wir ueber Klos reden: Ich sollte eine andere meiner urinoesen Erzaehlungen, "Klos sammeln", einmal in die Lupe hinabspuelen. Leider kennst Du die ja auch schon. Aber jetzt muss ich erst eine kammermusikalische Tour nach Suedtaiwan mitmachen. Mal sehen, vielleicht finde ich da ja noch die originale Klo-ambiente.

Viele Gruesse,
Rolf-Peter
 



 
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