Der Besucher

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Eine Kurzgeschichte von Stefan Seifert




„Sind Sie frei?“ fragte Mathilde den Taxifahrer. Die Frage war eigentlich überflüssig, denn es war nur zu offensichtlich, daß das Taxi auf Kundschaft wartete. Der Fahrer ging um den Wagen herum, öffnete den Kofferraum und nahm Mathilde die Einkaufstaschen ab, um sie zu verstauen. Mathilde stieg ein und der Fahrer nahm hinter dem Lenkrad Platz.

„Wo soll es denn hingehen?“ fragte er.

Mathilde nannte ihre Adresse. Es war eine gute Adresse, in jeder Hinsicht. Gut für den Taxifahrer, weil er ein paar Kilometer zu fahren hatte. Vom Stadtzentrum bis zum Stadtrand. Und auch sonst war es keine Adresse, für die man sich schämen mußte. Eine ruhige, ordentliche Gegend. Nicht direkt vornehm, dazu war sie etwas zu spießig. Keine Villen, aber nette, saubere Häuser mit gepflegten Vorgärten. Sehr ruhig. Und nur anständige Leute wohnten dort. Sehr anständige Leute. Kein Rasen, der nicht regelmäßig gemäht wurde, keine Hecke, die nicht akkurat geschnitten war. Die Mülltonnen blitzten vor Sauberkeit und waren meist mit einer Kette verschlossen. Die Nachbarn sprachen selten miteinander, aber sie beobachteten sich gegenseitig aufmerksam. Jede Abweichung von der Norm wurde sofort registriert.

Seit dem Tod ihres Mannes vor drei Jahren lebte Mathilde alleine in ihrem Haus. Sie kam ganz gut zurecht. Manchmal erhielt sie Besuch von ihrer Tochter Regina. Aber nicht zu oft. Sie stand auf Kriegsfuß mit dem Schwiegersohn. Sonst bekam sie von niemandem Besuch. Von wem auch? Sie hatte sich mit ihrem Alleinsein abgefunden.

„Hier ist es,“ sagte sie zu dem Taxifahrer. „Dort drüben, das kleine gelbe Haus mit dem Kirschbaum.“

Sie bezahlte und gab ihm ein Trinkgeld. Sie gab jetzt immer Trinkgeld. Das machte das Leben einfacher. Als Albert noch lebte, ihr verstorbener Mann, hatten sie selten Trinkgeld gegeben.

„Mir gibt auch keiner Trinkgeld,“ pflegte Albert immer zu sagen. Damit hatte er recht. Er arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Buchhalter bei der Stadtverwaltung. Er war ein zuverlässiger und fleißiger Arbeiter. Der Ruhestand bekam ihm nicht. Es verging kein halbes Jahr, da starb er an Herzversagen und ließ Mathilde angemessen versorgt zurück.

Der Taxifahrer stieg aus und holte Mathildes Einkaufstaschen aus dem Kofferraum. Er trug sie bis zur Gartentür und stellte sie dort ab. Er trug sie nicht bis zum Haus. Dabei war das Trinkgeld reichlich gewesen. Wahrscheinlich hatte Albert doch recht.

Mathilde brachte die Einkaufstaschen bis zur Haustür, holte umständlich ihre Schlüssel aus der Manteltasche, steckte den Haustürschlüssel ins Schloß und wollte aufschließen. Als sie den Schlüssel drehte, klickte es und die Tür sprang auf. Sie stutzte. Es war ihre Gewohnheit, immer zweimal abzuschließen, bevor sie das Haus verließ. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie es diesmal vergessen haben sollte. Kopfschüttelnd trat sie in die Diele und brachte ihre Einkäufe in die Küche. Sie hatte wieder zu viel eingekauft. Es war eigenartig, welche geringen Mengen man von allem brauchte, wenn man alleine lebte. Sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt.

Nachdem sie alles verstaut hatte, nahm sie die Plastikgießkanne und ging in die Stube, um den Pflanzen Wasser zu geben. Sie hatte keine Ruhe, bevor sie das nicht erledigt hatte. Sie redete dabei leise mit den Pflanzen. Sie hatte einmal gelesen, daß das gut wäre. Die Pflanzen gediehen dadurch besser. Sie spürten die Zuwendung und daß man es gut mit ihnen meinte. Das war wissenschaftlich erwiesen.

Dann setzte sie sich in die Stube und las die Werbeprospekte, die im Briefkasten gewesen waren. Das war ein angenehmer Ruhepunkt des Tages. Alles war still und wie es sein sollte. Bis auf ...

Mathilde hob den Kopf und holte tief durch die Nase Luft. Da war etwas, was sie kannte, aber was eigentlich nicht hierher gehörte. Ein ganz schwaches Aroma, kaum spürbar. Mathilde hatte eine sehr feine Nase. Es war kein Duft, sondern die Ahnung eines Duftes. Alter Tabakrauch und Schweiß. Es roch nach Mann. Kaum spürbar, aber es war da.

Mathilde fiel die unverschlossene Haustür ein. Und der Schlüssel, der auf dem Sims über dem Türrahmen lag. Sie hatte sich einmal selber ausgesperrt und Nachbarn um Hilfe bitten müssen. Die hatten den Schlüsseldienst gerufen. Das alles war sehr peinlich gewesen. Seitdem hatte sie einen Schlüssel für Notfälle versteckt. Für jemanden, der gezielt suchte, war es sicher nicht schwer, ihn zu finden.

Mathilde überlegte, ob sie die Polizei rufen sollte. Aber was sollte sie denen sagen? Daß die Haustür nicht zugeschlossen war, sie aber nicht genau wußte, ob sie beim Weggehen wirklich abgeschlossen hatte? Daß da ein merkwürdiger Geruch existierte, den sie selber kaum spüren konnte? Sie würden sie auslachen. Und wenn nicht, was würden die Nachbarn denken, wenn sie sahen, daß die Polizei zu ihr ins Haus kam?

Mathilde ging ins Nebenzimmer, das früher Alberts Zimmer gewesen war. Da stand noch sein Schreibtisch. Darauf lagen die Briefmarkenkataloge von Schaubek. Da war sein Bücherregal mit den Bildbänden über Eisenbahnen und Seeschlachten. Seine Kakteen standen auf einem Regal vor dem Fenster. Albert war kein starker Raucher gewesen, schon aus gesundheitlichen Gründen, aber nach dem Essen hatte er sich gerne eine Zigarette angezündet und bei besonderen Gelegenheiten auch einmal ein Zigarillo. Dazu hatte er sich meistens hierher zurückgezogen. Vielleicht hatte sich etwas von dem Geruch erhalten. Selbst nach drei Jahren noch.

Mathilde ging in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen. Es war schon Mittag und es lohnte sich nicht, noch etwas zu kochen. Sie öffnete die Speisekammer und holte eine Büchse Linseneintopf mit Würstchen heraus. Sie öffnete sie, gab den Inhalt in einen Topf und stellte ihn auf den Herd. Als das Essen heiß war, nahm sie es vom Kochfeld herunter und schüttete die Hälfte auf einen Teller. Das reichte für sie. Sie wußte nicht, was sie mit der anderen Hälfte machen würde. Es war immer das gleiche. Alle Portionen waren für zwei Personen bemessen. Es gab auch Büchsen mit nur einer Portion. Doch die kaufte sie nicht. Sie kamen ihr zu klein vor.

Nachdem sie gegessen hatte, spülte sie den Teller ab und stellte ihn in das Spülbecken. Dann machte sie es sich in der Stube auf der Couch bequem, sah noch ein wenig fern und schlief ein. Sie schlief etwa eine Stunde, wie es ihre Gewohnheit war. Dann ging sie wieder in die Küche, um Kaffee zu machen. Sie überlegte noch, was sie mit dem übriggebliebenen Linseneintopf machen sollte, als sie verblüfft innehielt. Der Topf war leer. Dabei wußte sie genau, daß sie nur einen Teller gegessen hatte, die Hälfte des Topfinhaltes. Entweder sie wurde senil und wußte nicht mehr, was sie getan hatte oder – sie war nicht allein im Haus.

Mathilde trat aus der Küche in den Flur. Sie blickte auf die Treppe, die nach oben führte. Oben befand sich Reginas Zimmer. Und der Dachboden. Außerdem war da noch das Zimmer mit Alberts elektrischer Eisenbahn. Das war Alberts zweites Hobby gewesen, neben den Briefmarken. Jeden Monat hatte er etwas dazu gekauft und seine Anlage erweitert. Mathilde hatte seit seinem Tod alles so gelassen, wie es war. Vielleicht gab es einmal einen Enkel, der daran Freude haben würde.

Wenn jemand in ihrem Haus war, dann mußte er dort oben sein. Mathilde ging wieder in die Küche und machte Kaffee mit der Kaffeemaschine. Dann holte sie einen Rührkuchen aus dem Schrank und schnitt ihn auf. Sie legte sich zwei Stücke auf einen Teller. Sie überlegte einen Augenblick, schnitt zwei weitere Stücke ab und legte sie auf einen zweiten Teller. Als der Kaffee fertig war, schenkte sie sich eine große Tasse ein und brachte sie mit ihrem Kuchenteller in die Stube. Es war noch genügend Kaffee übrig. Sie holte einen weiteren Topf aus dem Schrank und füllte ihn mit Kaffee. Dann stellte sie ihn und den zweiten Kuchenteller auf ein Tablett, fügte ein Sahnekännchen und eine Zuckerdose hinzu und ging damit zur Treppe. Sie stieg hinauf und stellte oben alles auf einen kleinen Tisch, auf dem früher einmal ein Gummibaum gestanden hatte. Dann ging sie wieder hinunter in die Stube und schaltete den Fernseher ein.

Später brachte sie das Kaffeegeschirr in die Küche und ließ warmes Wasser in die Spüle, um abzuwaschen. Sie wusch ihr Geschirr und den Topf ab, dann trat sie zögernd auf den Flur und ging zur Treppe. Leise stieg sie die Treppe hinauf. Oben blickte sie vorsichtig zu dem kleinen Tisch. Darauf stand das Tablett. Der Teller war leer und der Kaffee ausgetrunken. Jetzt war es offensichtlich. Kein Zweifel war mehr möglich. Sie war nicht allein im Haus.

Schnell nahm Mathilde das Tablett und eilte wieder die Treppe hinunter, bemüht, dabei keinen Lärm zu machen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Es war jemand da. Sie hatte sich das nicht eingebildet. Aber wer konnte das sein? Ein Obdachloser? Jemand auf der Flucht? Ein Verbrecher? Aber warum war er gerade zu ihr gekommen? Geld war hier nicht zu holen. Das Haus war klein und bedurfte der Renovierung, der Garten war winzig, sie hatte kein Auto. Vielleicht war es kein völlig Fremder, der sich dort oben versteckt hielt.

Nachdenklich spülte Mathilde die Tasse und den Teller ab, die der Eindringling benutzt hatte. Zucker und Sahne hatte er auch genommen. Wie Albert. Da fiel ihr ein, es gab ja noch einen Bruder von Albert. Er hieß Paul. Er war auf die schiefe Bahn gekommen und sie hatten nie Kontakt zu ihm gehabt. Albert sagte immer, er hätte keinen Bruder. Er konnte keinen Kriminellen in der Familie akzeptieren. Wenn das da oben nun Paul war? Vielleicht schämte er sich, ihr gegenüber zu treten und sie um Hilfe zu bitten? Es wäre verständlich.

Das Telefon klingelte. Ihre Tochter Regina war am Apparat. Der wöchentliche Pflichtanruf. Ja, sagte Mathilde, es ging ihr gut. Sie hatte alles, was sie brauchte. Sie würde sich heute abend einen Film im Fernsehen angucken. Mit Walter Matthau. Den sah sie so gerne. Und bei Regina war auch alles in Ordnung? Heinz hatte beruflich viel um die Ohren. Er war oft unterwegs. Also dann, mach dir noch einen schönen Abend. Mathilde legte auf.

Sie blätterte in der Programmzeitschrift. Im Fernsehen brachten sie nichts Vernünftiges. Den Film mit Walter Matthau kannte sie schon. Wie wäre es denn, wenn sie sich heute abend ein schönes Schnitzel briete? Das hatte sie schon lange nicht mehr gemacht. Seit sie alleine war, fehlte ihr für so etwas die Lust. Sie holte zwei Schnitzel aus dem Gefrierfach und taute sie in der Mikrowelle auf. Dann würzte und panierte sie sie, schnitt Zwiebeln und schälte Gurken für den Gurkensalat. Plötzlich war sie sehr beschäftigt. Sie hatte das Radio in der Küche eingeschaltet und summte die Melodien der Schlager mit. Zu den Schnitzeln machte sie Bratkartoffeln. Bald erfüllte ein anheimelnder Geruch das Haus. Als sie alles fertig hatte, nahm sie das Tablett. Sie stellte darauf einen Teller mit dem größeren der beiden Schnitzel und mit reichlich Bratkartoffeln, eine Schale mit Gurkensalat, Besteck und eine Serviette. Sie war froh, daß sie noch Bier im Kühlschrank hatte. Sie öffnete ein Flasche und stellte sie mit einem leeren Glas auf das Tablett. Dann ging sie leise die Treppe hinauf und stellte das Tablett auf den kleinen Tisch. Schnell huschte sie die Treppe wieder hinunter und setzte sich an den Küchentisch um zu essen. Sie aß mit ungewöhnlich gutem Appetit. Dann sah sie sich noch den Film mit Walter Matthau an.

In dieser Nacht träumte sie, sie wäre wieder mit Albert zusammen. Er war nicht so verschlossen und mürrisch, wie in den letzten Jahren ihrer Ehe, sondern jungenhaft ausgelassen und sehr zärtlich zu ihr. Als Mathilde am nächsten Morgen aufwachte, lächelte sie.

Sie ging in die Küche und bereitete das Frühstück. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein, kochte Eier, machte Toast und schnitt hauchdünne Schinkenscheiben ab. Dann ging sie die Treppe hinauf, um das Tablett zu holen. Als sie oben angelangt war, erschrak sie. Das Tablett stand so da, wie sie es hingestellt hatte. Das Essen war nicht angerührt worden. Mathilde stand unschlüssig im Flur. Sie wußte nicht, was das zu bedeuten hatte. Warum hatte er nichts gegessen? Sie begann, sich vorsichtig umzusehen. Sie sah zuerst in Reginas Zimmer nach, dann in dem Zimmer mit der Eisenbahn. Schließlich öffnete sie zaghaft die Tür zum Dachboden. Sie bemerkte den schwachen Geruch von kaltem Zigarettenrauch. Eine ausgetretene Zigarettenkippe lag auf den Bodenbrettern. Sonst konnte sie nichts Außergewöhnliches feststellen.

Sie nahm das Tablett und trug es hinunter in die Küche. Plötzlich fühlte sie sich sehr einsam.

Als Regina kam, fand sie ihre Mutter immer noch am Küchentisch sitzend. Von dem reichlichen Frühstück hatte sie kaum etwas angerührt. Regina setzte sich dazu und leistete ihr Gesellschaft.

„Ich würde an deiner Stelle nicht mehr den Schlüssel draußen über der Tür hinlegen,“ sagte sie. „Es passiert jetzt so viel. Gestern abend haben sie hier in der Nähe einen flüchtigen Verbrecher erwischt. Es kam heute morgen in den Nachrichten. Ich habe mir Sorgen deinetwegen gemacht und dachte, ich schau mal vorbei. Aber bei dir ist ja alles in Ordnung.“

Als ihre Tochter bald darauf wieder ging, sah Mathilde ihr hinter der Gardine des Wohnzimmerfensters nach. Ihr Gesicht hatte einen grüblerischen und traurigen Ausdruck.

Es war Paul, dachte sie. Ganz sicher war es Paul. Warum ist er nur nicht geblieben? Er hätte es doch so gut bei mir haben können.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo, stefan!

sehr einfühlsam geschrieben. beinahe zum heulen schön. kommt in meine sammlung. ganz lieb grüßt
 



 
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