Der blinde Reisende und die Seherin

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Vitelli

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Ich hab länger gearbeitet - mal wieder -, schnell geduscht und mir was übergeworfen; Hoody, Jeans, Sneaker.
Mein Auto ist nicht die Schweiz, aber als neutraler Treffpunkt geeignet.
Leonard Cohan hörend, fahre ich zu ihr.
Ich denke viel nach. Über dies und das.
Beinah hätte ich ihre Straße verpasst.
Sie steht noch nicht draußen; früher hätte mich das aufgeregt. Ich wechsel' von Cohan auf einen Radiosender; Billie Eilish: Therefore I am.
Ich hupe.
Die Tür öffnet sich.
Sie trägt ihre Brille. Kontaktlinsen trägt sie nur zu besonderen Anlässen. Einmal hatte ich ihr gesagt, dass sie eine der wenigen Frauen sei, die mit Brille besser aussähen als ohne. Gefreut hatte sie das nicht.
Sie steigt ein.
Um ihren Duft nicht einatmen zu müssen, halte ich bei unserer Umarmung die Luft an.
Sie schnallt sich an.
Beim Zurücksetzen schiele ich auf ihre Hände; einen Ring trägt sie nicht.
„Gefällt mir gut dein neues Auto“, sagt sie. „Was’n das für’n Licht hier überall - das ´s ja heiß.“
Ich zucke ahnungslos mit Achseln. „Kein Plan. Gehört zur Serienausstattung.“ Von wegen: Für die Ambientebeleuchtung hab ich tief in die Tasche gegriffen. „Wo fahren wir hin?“
„Schlag was vor.“
„McDonalds?“
„Hier?“
„Nee, in Wisborg - dann können wir ’n bisschen quatschen.“
Und das tun wir.
Ich erzähle ihr von meinem neuen Job, meinem bevorstehenden Umzug. Sie erzählt mir, dass sie demnächst eine Lohngruppe höher eingestuft werde, da Inge in Rente ginge. Und dass der neue Bebauungsleiter zwar noch jung sei, aber genau wisse, was er wolle.
Unweigerlich frage ich mich, ob sie ihn bumst. Weit hergeholt ist der Gedanke nicht.
Während der ganzen Fahrt meide ich sie anzusehen.
In Wisborg angekommen, ist es bereits dunkel. Und die Schlange vorm McDrive geht bis zur Straße. Jetzt werde ich nicht drumrumkommen sie anzusehen.
„Und“, fragt sie süffisant, „wie sieht’s Frauen-mäßig so aus bei dir, hm?“
Um Zeit zu gewinnen, schaue ich aus dem Fenster. Schließlich, wieder sie anschauend, sage ich: „Zurzeit nichts Festes.“
Sie lächelt. Wissend. Sie weiß, dass ich nichts laufen hab. Nichts Festes, nichts Lockeres, gar nichts. Jeden Abend hole ich mir einen runter und denke an die Sachen, die sie mit mir gemacht hat und noch mehr and die Sachen, die sie mich hat machen lassen. Kann man eh nicht toppen. Nichtmal für Geld. Sie weiß das, ich weiß das.
Im Stopp-und-go-Verfahren nähern wir uns dem Lautsprecher. Eine monotone Stimme will wissen, was wir wollen.
Ich sage es ihr.
Am zweiten Schalter wartet ein beleibter Twen in einem viel zu engen McDonalds-Kostüm.
Ich zahle und stecke das Wechselgeld in ´ne Spardose für irgend’ne Kinderhilfsorganisation.
„Ich hätte auch selbst zahlen können“, sagt sie auf dem Weg zum dritten Schalter.

Ich steuere „unseren“ Platz an, der sich in einem nahegelegenen Gewerbegebiet befindet. Wir haben hier immer geparkt wenn wir in’s Kino wollten und ihretwegen zu spät dran waren.
„Ich vermisse das Kino“, sagt sie.
Das Kino. Nicht unsere Kinoabende, sondern das Kino.
Nach dem Essen steigen wir aus, damit sie rauchen kann.
Bin gespannt wann sie endlich mit der Sprache rausrückt was sie von mir will.
Ihr Handy piept. Sie schaut drauf. „Sorry, aber da muss eben ich antworten.“
Angewidert betrachte ich sie, wie sie da im fahlen Licht der Laterne steht, das Gesicht hell erleuchtet vom Lichtauswurf des riesigen Display.
Dreiunddreißig und sieht aus wie fünfundzwanzig. Na gut, achtundzwanzig. Ihr neuer Freund ist wirklich achtundzwanzig. Ich komme ich mir mega alt dagegen vor, und das bin ich ja auch.
Sie schaut besorgt aus.
„Was `s los?“, will ich wissen.
„Ach, ihm, du weißt schon, Matti, geht’s nicht gut. Deshalb hab ich letztens auch abgesagt.“
Ich nicke unverbindlich.
Sie erzählt mir im Detail, was ihrem Freund in letzter Zeit alles widerfahren ist. Waschlappen, denke ich - wenn dir dein Scheiß-Job nicht gefällt, dann such dir halt ´n neuen. Und wenn man auf Speed ist, dann hat man nunmal Schlafstörungen, wen wundert’s.
Was mich hingegen wundert, ist, dass sie so besorgt ist - das passt nicht zu ihr. Hat das Baby etwa ihre Mutterinstinkte geweckt?
„Wie bist du davon runtergekommen?“, will sie wissen.
Aha. In die Richtung geht’s also. Nun gut.
Mitfühlend wie ich vorgebe zu sein, erzähle ich von meinen Erfahrungen, von denen ich meine, dass sei eine gewisse Allgemeingültigkeit besäßen. Den Part mit den Potenzproblemen während des Entzuges lasse ich weg.
Sie scheint sich nicht sonderlich für meine Ausführungen zu interessieren. Stattdessen schaut sie, wie einst Marlon Brando, hilfesuchend gen Himmel. Ich will dem nicht nachstehen und betrachte teilnahmslos meine Fingernägel, während ich an die üppige Maria Schneider aus Der LetzteTango in Paris denke.
„So hab ich mir mein neues Leben nicht vorgestellt“, sagt sie kopfschüttelnd. Und dann, nach einer dramatischen Pause: „Ich wollte, dass es mir besser geht … und jetzt … Ich mag ihn ja echt, aber das zieht mich total runter. Ich will nicht wieder soviel Zeit verschwenden, verstehst du?“ Sie versucht ihre erloschene Zigarette neu zu entzünden.
Ich nicke und sage irgendwas Verständnisvolles. Das freut sie. Sie streichelt meinen Arm.
„Es klingt vielleicht albern“, sagt sie, aber meine Mutter war wieder bei der Wahrsagerin, du weißt schon.“
Ich nicke. Diese verrückte alte Schachtel von Mutter. Hat schon zwei Ehemänner begraben und ist immer noch läufig.
„Du weißt ja, dass sie bisher immer recht hatte. Beängstigend, nicht?“
„Ja, beängstigend.“
„Und weißt du, was sie diesmal gesagt hat?“
Ich denke: Nein, woher, kann ich etwa hellsehen? Ich sage: „Was? Erzähl schon!“
„Dass ich mich neu verlieben werde. Und wir Kinder zusammen haben werden. Zwei oder drei. Genau konnte sie’s nicht sagen - der Teil war verschwommen.“
„Krass!“
„Ja, ne?“
Sie schaut mich an. Lange.
„Wollen wir dann wieder los?“, frage ich.
Sie nickt.
Die ganze Rückfahrt über schaut sie mich an.
Kaum zurück im Ort, sagt sie: „Ich hab dich vermisst.“ Und noch bevor ich antworten kann, ergänzt sie: „Manchmal muss erst etwas verloren haben, um zu wissen, was man daran hatte.“
Ha!, denke ich. Genau so schaut's aus.
„Willst du wissen, was die Wahrsagerin noch gesagt hat?“
„Schieß los …“
„Dass ich den Mann, der meine große Liebe wird, und mit dem ich Kinder haben werde, bereits kenne. Gut kenne.“ Sie lächelt mich an.
Ich lächle zurück.
Wir umarmen uns zum Abschied. Diesmal halte ich die Luft nicht an. Mir kann nichts passieren.

Auf dem Weg zu mir denke ich, dass die Wahrsagerin recht behalten wird - sie kennt hier so ziemlich jeden Mann bei uns in der Stadt. Und ich will nicht wissen wie viele davon gut. Ich wechsele von Radio zurück auf CD.

And you know that she's half-crazy but that's why you want to be there

Ich werfe dem Autoradio einen verächtlichen Blick zu, der Leonard Cohan gelten soll.

And just when you mean to tell her that you have no love to give her
Then she gets you on her wavelength
And she lets the river answer that you've always been her lover


Ich schalte von CD zurück auf Radio.

And you want to travel with her, and you want to travel blind
 



 
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