Der Bullerlux 1

Abseits, weit fern von hier, liegt eine wundersame verborgene Welt … Nein, so fern ist sie in Wirklichkeit gar nicht, nur haben die meisten Menschen vergessen, dass es sie gibt und nur deshalb erscheint sie ihnen so unsagbar weit weg.
Dort gibt es Wiesen und Berge und Seen, genau wie hier. Und es gibt einen Wald, Tausend Tage tief und tausend Jahre schon alt. In ihm wachsen kleine und große Wunder dicht an dicht und erblühen in hellen Farben.
Seltsame, gespenstige Wesen sind dort zu Haus. Sanfte Waldgeister und neugierige Koboldnasen, denen zauberische Kräfte innewohnen. Leise wispernd huschen sie durch ihr fremdes Reich und die besonders neugierigen unter ihnen schlüpfen durch die geheimen Übergänge, die ihre mit unserer Welt verbinden. Zuweilen fällt es ihnen ein, uns kleine Streiche zu spielen, wenn sie zwischen den Welten wandeln, doch im Grunde sind sie freundliche Gemüter. Jeder hat eine andere Gestalt, keiner gleicht dem anderen. Und doch gelingt es uns Menschen kaum, sie auseinander zu halten. Ihre Erscheinungen sind für unsere Augen fremd geworden, genau wie ihre Namen. Und so verblasst die Erinnerung mehr und mehr…

EINS

Brummend glitten sie über die Landstraße, entlang an Feldern und Wiesen, weit und weiter weg von zu Hause. Hinter ihnen rumpelte der Umzugswagen, vor den Scheiben tobte der Herbstwind.
Astrid, Bruno und Gerda saßen zusammengedrängt auf der Rückbank. Der Junge in der Mitte hielt den Kopf gesenkt und drückte wild, aber schweigend auf seinem Gameboy herum. Astrid, die älteste, hatte sich Kopfhörer aufgesetzt, von denen nur noch die linke Seite funktionierte, laut ihre Lieblingsband aufgedreht und starrte missmutig hinaus. Während die kleine Gerda in dem Versuch, ihre Nase an der Fensterscheibe platt zu drücken aufgeregt in ihrem Sitz herumrutschte und ihre Eltern unermüdlich über das neue Heim ausfragte. Sie ist noch zu klein, um zu verstehen, dass sie nie wieder zu Hause sein wird, nie wieder in den Kindergarten um die Ecke gehen und ihre alten Freunde sehen wird, dachte Astrid. In diesem Moment wäre sie auch gern wieder so klein gewesen wie ihre Schwester. Dann wäre alles viel leichter zu ertragen gewesen. Auch Bruno hatte sich schwer getan, seine Sachen zu packen und Freunde zu verabschieden, nur merkte man es ihm weniger an.
Astrid sah wieder hinaus. So weit außerhalb der Stadt lag ihr neues zu Hause eigentlich nicht. Es fuhr sogar eine Buslinie regelmäßig hin und her, aber dennoch … sie verließen ihre vertraute Welt und wurden in eine völlig fremde geschubst. Das hätte spannend sein können, wäre es nicht mit so vielen Verlusten verbunden gewesen.
Bäume zogen draußen vorbei, Felder und ein Buchenhain und dann, ganz unvermittelt, tauchten auch wieder Häuser auf. Kleine mit Fensterläden und Gärten.
Schließlich bogen sie in einem kleinen Ort in eine Auffahrt ein und kamen auf einem Hof zu stehen. An einer Seite stand ein Fachwerkhaus, geradezu zwei kleine Holzverschläge.
Als sie ausgestiegen waren, breitete Papa stolz die Arme aus: „Na, habe ich euch zu viel versprochen?“
„Oh, ist das schön geworden!“, rief Mama und gab ihm einen Schmatz.
„Warte, bis du es von innen siehst. Die Außenwand renoviere ich als letzte.“ Gerda rannte aufgeregt zu ihnen hinüber, während Bruno und Astrid stumm vor dem Auto stehen blieben. Beide waren ganz und gar nicht begeistert gewesen als die Eltern ihnen vor einiger Zeit mitteilten, dass sie aus der Stadt weg ziehen würden, und sie waren es auch jetzt nicht. Nun bog auch der Umzugswagen auf den Hof und parkte nahe der Haustür.
„So Kinder“, sagte Papa, „Mama und ich zeigen den Möbelpackern, wohin die großen Dinge müssen und ihr erkundet mal unseren neuen Zaubergarten, hm?“ Dabei zwinkerte er verschwörerisch. „Danach könnt ihr euch in Ruhe euer Zimmer angucken, wenn wir die Betten und Schränke aufgebaut haben.“
Auch jetzt war es Gerda, die prompt begeistert losstapfte und Hals über Kopf in ein paar alte Beete hinein stolperte. Es erschien ihr wie ein riesiges Abenteuer. Ein Urwald aus verdorrten Halmen und Unkraut ragte aus der Erde. Hier war schon lange nichts mehr gepflanzt worden. Und dort, hinter dem besonders üppigen Büschel, lag dort nicht etwas Buntes? Gerda ging näher heran und fegte mit der Hand etwas Herbstlaub beiseite. In Folie verpackt entdeckte sie eine kleine Wärmflasche und zwei flauschigweiche, warme Nachthemden; eines für sie und ein winziges für ihren Teddy Frieda.
Bruno war in den größeren der beiden Holzverschläge getrottet. Auch, wenn er ungern hierhergekommen war, war er dennoch neugierig. Es musste einmal ein Hühnerstall gewesen sein, denn es lagen noch Federn umher. Durch die staubigen Fenster kam nur wenig Licht, aber pfeifender Wind. Mit großen Augen besah Bruno sich den Raum. Viel gab es nicht darin, doch was war das dort hinten? In einer Ecke standen einige ausgeblichene Körbe und rostige Blecheimer. Doch dort war auch etwas Blitzendes zu sehen. Neugierig streckte Bruno die Hände aus und im Nu umschlossen sie einen glatten, glänzenden Fußball.
Astrid hatte keine Lust, sich näher umzusehen. Sie war sauer auf ihre Eltern. Sauer, weil sie alles über ihren Kopf hinweg entschieden hatten. Sauer, weil es niemanden zu kümmern schien, was in ihrem Leben vorging. Niemand hatte sie gefragt, ob sie alles zurücklassen und in dieses Kaff ziehen wollte. Mit finsterer Miene hatte sie sich unter einen der großen Bäume im Hof gesetzt. Seine mächtigen Wurzeln wandten sich sogar über der Erde, sodass Astrid bequem auf ihnen Platz nehmen konnte. Und was war das dort? Das dort, fast neben ihr. Unter einem besonders knorrigen Wurzelbogen lag ein paar großer Kopfhörer und eine Tüte ihrer liebsten Sahnebonbons. Sie musste trotz allem lächeln.
Ihre Schätze in den Armen gingen die drei Kinder gemeinsam am Zaun des Grundstücks entlang. Neben dem Hof gab es noch eine große Wiese mit Apfel- und Kirschbäumen.
„Hey, ihr Trottel!“, rief da plötzlich eine Stimme von der anderen Seite des Zaunes. Ein Junge stand im Nachbargarten und gaffte sie frech an. Als keiner antwortete, rief er wieder:
„Hey ihr Trottel, in eurem hübschen Häuschen spukt‘s! Das weiß jeder hier.“
„Trottel sagt man nicht!“, wies Gerda ihn zurecht.
„Und Gespenster gibt’s gar nicht“, sagte Bruno trotzig.
„Das haben die vor euch am Anfang auch gesagt und dann konnten sie gar nicht schnell genug von hier verschwinden.“ Der fremde Junge feixte hinterhältig. „Mal sehen, wie lange ihr durchhaltet.“ Gerda nannte ihn einen Stinkstiefel und Bruno wollte schon mit geballten Fäusten über den Zaun klettern und ihm eine gehörige Abreibung verpassen, doch Astrid hielt ihn zurück.
„Lass gut sein. Der will uns nur Angst machen.“
„Ihr werdet’s ja noch sehen! Buuhuuhuuu“, rief der Junge noch und dann begann es zu tröpfeln.
„Kommt, wir gehen lieber rein. Die Wolken versprechen nichts Gutes.“
 
Eine nette Geschichte, die Lust macht mehr zu lesen.

nur haben die meisten Menschen vergessen, dass es sie gibt und nur deshalb erscheint sie ihnen so unsagbar weit weg.
Wenn sie die Welt vergessen haben, dann kann sie ihnen aber nicht unsagbar weit weg erscheinen. Oder?

LG
 



 
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