Der Bullerlux 11

Die Familie lief indes eine Runde die Hauptstraße entlang und Mama und Papa zeigten die vielen kleinen Läden, um Oma zu zeigen, dass sie hier keineswegs hungern mussten.
Pünktlich zum Kaffe waren sie alle zurück. Astrid hatte sogar schon den Kaffetisch eingedeckt. Oma blickte am Tisch entlang.
„Und der Nachtling? Bekommt der nichts ab?“
Mama seufzte und Astrid platzte ungeniert heraus: „Jetzt fang du nicht auch noch an.“ Bruno guckte verunsichert drein und Opa wusste gar nicht, was er dazu sagen sollte. Doch Gerda hatte sich schon einen Stuhl genommen und aus dem oberen Küchenschrank einen kleinen Kuchenteller herausgeholt.
„Natürlich kriegt der auch was“, sagte sie überzeugt, legte ein Stück Kuchen darauf und stellte den Teller oben an die Treppe, wie sie es auch mit den Keksen ein paar Abende zuvor getan hatte. „Er traut sich sowieso nicht, mit uns am Tisch zu sitzen.“ Oma strahlte stolz und strich ihr übers Haar.
„Astrid, was ist das eigentlich für ein Kleid?“, fragte Mama verwundert. „Ich kann mich nicht daran erinnern.“
„Hab' ich auf dem Dachboden gefunden. Schick, was?“
„Oh ja.“
„Das ist wirklich schön, Astrid“, sagte Gerda. „Aber ich dachte, du magst gar keine Kleider.“
„Dieses eben doch“, zwinkerte Astrid der kleinen zu und setzte sich mit den anderen an den Kaffeetisch.

Am Abend stand der Teller mit Kuchen immer noch oben an der Treppe. Als Gerda traurig dreinschaute, nahm Oma sie beiseite: „Nachtlinge kommen oft erst abends in unsere Häuser. Vielleicht hat er heute besonders viel um die Puschelohren.“
„Er ist schon seit Tagen nicht mehr da gewesen“, jammerte Gerda.
„Aber das ist doch nicht schlimm“, beteuerte Oma. „Er schafft es eben nicht immer.“
Zum Abendbrot gab es ein riesiges Tablett mit Mamas leckersten Schnittchen. Oma und Astrid hatten ihr schmieren geholfen und Papa und Opa hatten mit den Kindern im Wohnzimmer Piraten gespielt: Opa und Gerda auf dem Sofa, Papa und Bruno auf den beiden zusammengestellten Sesseln.
Es waren noch ein paar Schnittchen übrig, als Papa ein Kartenspiel aus einer Kommode holte und es auf den Tisch legte.
„Wer hat Lust auf eine Runde Rommé?“, fragte er herausfordernd. Alle hoben aufgeregt die Hände.
„Ui, so viele? Na das wird spannend.“
„Bruno, du darfst ab jetzt allein spielen und Gerda spielt mit Oma zusammen“, legte Mama fest. „Wer möchte noch etwas trinken?“
Es gab Kinderbowle, Bier für Opa und Papa und die Frauen öffneten sich einen Wein. Außerdem stellte Mama noch die übrig gebliebenen Schnittchen und etwas zum Knabbern auf den Tisch. Gerda saß auf Omas Schoß und Oma erklärte ihr die Zahlen und Bilder.
Es war ein sehr lustiger Abend und sie lachten viel. Es war ein sehr lustiger Abend und sie lachten viel. Wie verabredet, schliefen Oma und Opa im Schlafzimmer und Mama und Papa machten sich das Sofa zurecht. Als die Kinder ins Bett gingen, lag der Kuchen immer noch auf dem Teller oben an der Treppe. Gerda und Bruno tauschten einen besorgten Blick aus und gingen später noch einmal extra Zähneputzen, um nach dem Teller zu schmulen. Doch kaum lagen sie behütet in ihren Betten, fielen ihnen die Augen schon zu, denn es war spät geworden.

Tsching, tsching, tsching. Sofort war Bruno hellwach und blickte zur Fußleiste zwischen seinem Bett und dem Schrank. Eine kleine Gestalt kam aus den Schatten auf leisen Pfoten herangeeilt.
„Nachtling! Da bist du ja.“ Und nun sah Bruno auch den Kopf von Gerda über die Bettkante lugen.
„Hallo, ihr beiden. Tut mir Leid, bei uns ist die Hölle los … kam nicht mehr durch …“
„Was ist denn passiert?“
„Erinnert ihr euch noch an die Traumblasen, von denen ich euch erzählt habe?“ Die Kinder nickten. „Immer mehr werden schwächer und erlöschen … Somit wird es auch dunkler in unserem Wald. Immer mehr Übergänge verschließen sich oder lassen sich nicht mehr auffinden.“
„Übergänge?“, fragte Gerda.
„Wohin“, setzte Bruno nach. Der Nachtling sah sie für einen Moment stumm an.
„Na hierhin, in eure Welt natürlich.“
„Hä?“
„Es ist so: Weniger Glauben, weniger Blasen, weniger Energie und weniger Licht und eben auch weniger Übergänge. Aber heute wuchs eine Kugel wieder an und der Durchgang zu euch öffnete sich wieder. Jemand hier muss seinen Glauben an uns wiederentdeckt haben.“
„Oma ist zu Besuch“, erklärte Gerda. „Und sie hat gesagt, wir sollen uns mit den Nachtlingen gut setzen.“
„Gut stellen, Gerda“, betonte Bruno. „Sie hat gut stellen gesagt.“
„Von mir aus auch legen.“
„Eure Oma ist eine kluge Frau“, sagte der Nachtling.
„Ja, aber außer ihr glaubt keiner an den Bullerlux oder Nachtlinge“, klagte Gerda.
„Papa vielleicht ein wenig“, meinte Bruno
„Und eure große Schwester“, behauptete der Nachtling und deutete mit seinem Schwanz zur anderen Seite des Zimmers.
„Astrid? Niemals! Die hält das alles für Aberglauben und Kindermärchen.“
„Hm …“, machte der Nachtling. „Aber da ist diese eine Kugel. Winzig klein, aber sehr hell.“
Wieder erklang ein Klingen.
„Nanu?“, wunderte sich Gerda und sah zur Fußleiste hinüber. Dort zwängte sich ein weiteres kleines Wesen in ihr Zimmer hinein. Auf den ersten Blick sah es genauso aus wie der Nachtling, doch dann sah sie, dass dieser viel kleinere Ohren hatte und sein Schwanz viel buschiger war. Statt sonnengelb in der Spitze, war er ganz und gar purpurrot. Der neue Kobold blickte sich kurz um und lief dann direkt auf sie zu.
Belbo, hier steckst du! Ich habe dich bei deinem Mooshügel nicht gefunden und dann – oh!“ Er erschrak wohl ein bisschen, als er Bruno und Gerda sah. Seine Augen wurden groß
„Kinder“, rief er aus. „Menschenkinder!“
„Allerdings“, sagte der Nachtling, fast ein wenig stolz.
„Sind sie … können sie …?“
„Durchaus, sonst würden sie dich nicht so anglupschen.“
„Ein anderer Nachtling!“, rief Gerda begeistert. „Wie hübsch.“
„Aber das ist ja großartig!“, rief das Wesen seinerseits begeistert. „Hallo, ihr zwei, ich heiße Pulpin. Ach, aber weshalb ich eigentlich hier bin …“, unterbrach er sich und wandte sich wieder an den gelben Nachtling. „Dem Bullerlux geht es wieder schlechter. Er möchte gar nicht mehr raus aus seinem Baum und nun welken die ersten Blätter.“
„Oh, oh … “, seufzte der Nachtling besorgt.
„Aber im Herbst welkt doch immer alles“, sagte Bruno.
„Nicht so, Bruno“, widersprach der Nachtling.
„Was hat der Bullerlux denn?“, fragte Gerda ungestüm. „Ist er etwa krank?“
„Das wissen wir nicht so genau. Weißt du, eigentlich streift er immer durch den Wald, behält alles im Auge und geht nur zum Schlafen in seinen Baum. Manchmal ist er sogar mehrere Tage weg, wenn er den Waldrand besucht“, erklärte der gelbe Nachtling.
„Doch in letzter Zeit verkriecht er sich immer häufiger und wir sehen ihn kaum noch“, erzählte der pupur Nachtling weiter. „Erst war es nicht so schlimm, aber nun … Wir machen uns alle Sorgen um ihn - und um unseren Wald.“
Die Kinder schauten erschrocken und waren ehrlich besorgt.
„Tja“, begann der gelbe Nachtling wieder, „Das war heute ein kurzer Besuch. Wir sollten nach ihm sehen.“ Er winkte und folgte Pulpin zur Fußleiste.
„Wartet!“, rief Bruno plötzlich und huschte aus dem Zimmer hinaus. Die Nachtlinge waren stehen geblieben und lauschten, genau wie Gerda. Da kam Bruno schon wieder und in der Hand hielt er den Teller mit Kuchen!
„Hier“, er hielt den Nachtlingen das Stück hin. „Nehmt das mit - für den Bullerlux.“
„Oh, das ist lieb von euch“, sagte der Gelbe und nahm das Stück. Dann drehte er sich noch einmal um und flüsterte mit einem Zwinkern:
„Bis bald und seid artig.“
 



 
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