Der Bullerlux 5

Zwei

Wie sich Gerda fest vorgenommen hatte, hatte sie auch an diesem Abend wieder einen Teller Kekse und eine Tasse warme Milch mit Honig an die Treppe gestellt. Und auch an diesem Morgen war beides verschwunden. Am Frühstückstisch startete ein ähnliches Gespräch wie am Vortag. Papa erzählte von Märchengestalten, Mama lachte amüsiert und Astrid kaute stumm ihr Käsebrötchen, genervt von den kindischen Phantasien. Hin und wieder gab sie zwischen einem Bissen und einem schlürfenden Schluck Tee einen mürrischen Kommentar von sich. Bruno saß wie immer neben Gerda und obwohl er das Klingen neulich Nacht auch gehört hatte, wusste er nicht so recht, was er glauben wollte. Eigentlich war er doch schon viel zu alt für solche Kindergeschichten, genau wie Astrid. Immerhin war er schon neun Jahre alt. Astrid war sogar schon dreizehn. Gerda mit ihren vier Jahren glaubte einfach noch an all die Geschichten, die Erwachsene erzählten.
Über den Tag räumte die Familie die allerletzten Sachen in die Schränke, den Rest des Tages legten sie die Beine hoch, um sich weiter einzuleben. Für das Wohnzimmer wollten Mama und Papa bei Zeiten noch ein neues Regal kaufen. Schließlich hatten sie jetzt viel mehr Platz und es sah doch noch etwas leer aus in dem großen Raum, trotz des Kamins und der gemütlichen Sitzecke. Auch in dem großen Wannenbad fehlte noch ein Schrank für die Handtücher. Nächste Woche wollte Papa mit der Renovierung der oberen Räume beginnen, damit jedes Kind im nächsten Jahr sein eigenes Zimmer haben würde. Nach einem gemeinsamen Fernsehabend gingen sie alle zu Bett. Astrid las beim Licht einer Taschenlampe noch ein wenig in ihrem neuesten Gruselroman, Bruno hörte ein Hörbuch über Kopfhörer.
Gerda lag wach und dachte nach. Sie wusste selbst gar nicht genau, wer die Kekse in beiden Nächten gegessen hatte und ob es nicht doch Papa gewesen war. Und das ärgerte sei ungemein. Sie wollte nicht nur am nächsten Morgen einen blankgeputzten Teller und eine leere Tasse vorfinden. Sie wollte es selbst sehen!
Und so fasste sie einen Entschluss. Als Astrid und Bruno endlich schliefen, schnappte sie sich ihre Decke, warf sie über die Bettkante und kletterte hinunter. Sie nahm sich ihr Nachtlicht und legte sich, obwohl sie gleichzeitig schreckliche Angst hatte, eingewickelt in ihre Bettdecke vor die Treppe. Dort wollte sie auf der Lauer liegen bis die nächtliche Naschkatze kommen würde. Frieda fest an sich gedrückt lag sie da und blickte so lange auf die Kekse und die Tasse bis ihr vor Müdigkeit einfach die Augen zufielen und sie einschlummerte.
Tsching, tsching, tsching. Sofort war Gerda hellwach. Sie hatte wieder dieses Klingen gehört und sie hatte es nicht geträumt, da war sie ganz sicher. Sie schaltete ihr Nachtlicht ein. Die Kekse waren weg, die Tasse leer. Oh nein! Sie hatte es verpasst! Leise hastete sie zurück ins Kinderzimmer, ihren Teddy Frieda immer noch fest im Arm, das Nachtlicht unter dem anderen.
„Gerda?“ Das war Bruno. „Wo kommst du denn her?“
„Ich hab auf der Lauer gelegen, nach dem Bullerlux, aber ich bin eingeschlafen … “
„Hast du das Klingen gehört?“
„Ja, deshalb bin ich wieder rein gekommen.“
„Ich glaube, es kam von hier irgendwo“, sagte Bruno gedämpft und zeigte in die Dunkelheit zwischen ihrem Doppelstockbett und dem Kleiderschrank. Schnell tapste Gerda zu Bruno und er ließ sie mit unter seine Bettdecke. Das Nachtlicht stellte sie auf den Boden vor dem Bett. Beide starrten auf den Spalt zwischen den Möbeln.
„Ich guck jetzt da nach“, sagte Bruno mutig. Er kletterte vorsichtig hinaus. Dann nahm er das Licht vom Boden und schob es mit ausgestrecktem Arm auf dem Spalt zu.
„Siehst du was?“, fragte Gerda flüsternd aus dem Hintergrund.
„Nein, noch nicht.“
Als Bruno nach einer Weile immer noch nichts sah, kroch Gerda zu ihm, die Decke im Schlepptau. Mit ihr fühlte sie sich sicherer. Nun hockten beide dort vor dem Spalt und schoben das Nachtlicht abwechselnd ein Stückchen näher heran.
„Ihr kleinen Stöbernäschen“, erklang plötzliche eine raue, leise Stimme. Sie klang ein wenig wie trockenes Laub, durch das man ging. Die beiden Kinder schraken fürchterlich zusammen.
„Ein Heinzelmännchen!“, rief Bruno flüsternd.
„Ich bin doch kein Heinzelmännchen. Ihr Menschlein und eure Gedankenwelt …“, die Stimme lachte leise.
„Dann bist du der Bullerlux“, sagte Gerda.
„Der Bullerlux? Der schwarze Mann, der Buhmann, der Nachtbock?“ Ein sanftes Stimmchen kicherte ungehalten. „Nein, meine Kleine, das wäre zu viel der Ehre.“ Und mit der Stimme wurde ein Geschöpf sichtbar. Es sah aus wie ein kleiner Fuchs auf zwei Beinen, mit dem Schweif eines Löwen. Sein Fell war so schwarz wie die Schatten, nur die Ohrenspitzen und der Pinsel des Löwenschwanzes leuchteten Gelb, wie eine Sonnenblume.
„Der Bullerlux ist für Reisen viel zu … beschäftigt, seit … na egal. Bei den Keksen ist ihm allerding etwas entgangen. Vorzüglich! Ein Lob an den Bäcker.“
„Die hab ich mit Mama gemacht“, verkündete Gerda stolz. Auf einmal hatte sie gar keine Angst mehr.
„Wer bist du?“, fragte Bruno misstrauisch.
„Ich?“ fragte der Fuchs zurück. „Wer ich bin? Ja, sieht man das denn nicht? Ich bin ein Nachtling!“
„Ein Nachtling.“ Bruno guckte skeptisch.
„Allerdings“, sagte der Fuchs und reckte seine Gestalt noch ein wenig höher in die Luft.
„Was ist ein Nachtling?“, fragte Gerda ungeniert und der Fuchs zuckte unangenehm zusammen.
„Ihr kennt den Bullerlux, aber habt noch nie etwas von einem Nachtling gehört?“ Die Kinder schüttelten stumm die Köpfe. Der Nachtling seufzte und sank entmutigt zusammen.
„Na, immerhin könnt ihr mich sehen, das ist ja schon einmal ein Anfang.“ Dann lief er auf allen Vieren zum Doppelstockbett der Kinder hinüber und klopfte mit der flachen Pfote auf Brunos Bettdecke.
„Husch, husch ins Nest.“
Bruno und Gerda starrten ihn an und rührten sich nicht.
„Na kommt, ich erzähle euch ein wenig über Nachtlinge.“ Als die Kinder weiterhin auf dem Boden hocken blieben, fügte er hinzu: „Und über den Bullerlux, wenn ihr wollt.“
 



 
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