Der Codex - Teil 2

jon

Mitglied
Teammitglied
Teil 1

Intermezzo (2001)

Jannik war endlich eingeschlafen. Ines kam zu Erich herüber und legte sich neben ihn auf die Couch. Sie kuschelte sich an ihn, sie roch nach Baby. Gedankenverloren begann er, mit ihrem Haar zu spielen.
Manchmal sann er darüber nach, wer wohl ihre Mutter gewesen sein könnte. Vor ein paar Monaten hatte Ines gestanden, dass sie mit den Erinnerungen ihrer Mutter geboren worden war. Und dass sie Erich aus diesen Erinnerungen schon gekannt hatte, als sie ihn im Café ansprach. Er hatte gelächelt und gesagt: „Das erklärt einiges.“ Ines hatte ebenfalls gelächelt. Und dann hatten sie nie wieder darüber gesprochen. Er fragte nie, unter welchem Namen er sie gekannt hatte, es musste vor ihrem Leben als Johanna Johnson gewesen sein. Ines ihrerseits sprach nie über ihre Mutter. Nicht mit ihm jedenfalls.
„Woran denkst du?“, fragte sie.
Er wachte aus seinen Grübeleien auf.
„Was beschäftigt dich?“
Er richtete sich auf. Ob er wohl den Codex verletzte, wenn er sie nach etwas aus dem Leben von Johanna Johnson fragte? Gewissermaßen war ihr Leben ja Teil des Lebens ihrer Tochter.
„Was ist?“, hakte Ines nach.
„Erinnerst du dich an die Leute aus dem Umfeld deines Vaters?“
„Eric Newman? Sicher. Soweit Jo sie wahrgenommen hat.“
„Sagt dir in dem Zusammenhang der Name Queen etwas?“
„Queen?“
„Ja.“
Sie zögerte, über ihr Gesicht zog ein Schatten.
„Also sagt er dir was.“
„Ohne die Queen wäre Mutter noch am Leben.“
„Verstehe“, sagte er. „Ich wollte dich nicht erinnern. Nicht daran.“
„Schon gut. Es ist lange her.“


(Oktober 2004)

Als Tomann am Sonntagabend ohne Vorwarnung vor Inesʼ Tür stand, war Erich gerade im Begriff zu gehen. Er hatte wieder einmal versucht, ihr nahezulegen, für den Orden zu arbeiten, indem er ihr schilderte, wie der Ratskreis nach und nach zerfiel. Antonio, der glühendste Befürworter der Wiedererstarkung des Ordens unter christlicher Zielsetzung – so drückte Erich es tatsächlich aus – war charismatisch genug, die Unentschlossenen auf seine Seite zu ziehen. Er hatte immer wieder angedeutet, dass er von Jesus selbst den Auftrag erhalten habe, für eine friedliche Welt zu wirken. Caro könnte das Gegengewicht sein, behauptete Erich. Sie fragte nicht, was er glaubte, was sie gegen eine Begegnung mit Jesus hätte setzen können.
An Carolas Wohnungstür begegneten sich Tomann und Erich. Tomann musterte Erich missbilligend. Erich erwiderte den Blick mit Trotz. Als Tomann die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah er Caro fragend an.
Sie versuchte, ernst zu bleiben. „Was? Bist du etwa eifersüchtig? Keine Sorge, Erich ist harmlos.“
„Ist er nicht“, widersprach Tomann und ging ins Wohnzimmer. Stirnrunzelnd registrierte er das Kaffeegeschirr.
Caro räumte ab.
„Du solltest wirklich vorsichtig bei ihm sein“, rief Tomann ihr in die Küche nach. „Vor allem, wenn das Kind dann da ist.“
Sie kam zurück ins Wohnzimmer. „Vor allem, wenn das Kind dann da ist? Was soll das denn heißen?“ Sie grinste breit. „Ist er ein Kinderfresser?“
Er blieb toternst.
„Ach komm schon, Peter! Ich kenne E… Hans schon lange. Was immer du da andeuten willst, es ist sicher nicht so schlimm, wie du vermutest. Er ist einer der Guten, glaub mir.“
„Ich muss nichts vermuten“, erwiderte er beleidigt.
Caro dachte an Erichs „Dinge, die du am liebsten nicht mal selbst von dir wüsstest“. Sie begann zu ahnen, dass er dies tatsächlich so gemeint hatte. Sie wollte das Thema wechseln, aber Tomann ließ es nicht zu.
„Dein Guter ist ein …“, setzte er an, unterbrach sich aber.
Caro fragte nicht. Sie wollte es nicht wissen. Was immer es war, es war lange her. Ein früheres Leben. Ein anderes Leben, in dem man Dinge getan … Sie stutzte. Ein anderes Leben? Von dem Tomann wusste? War er doch eingeweiht?
„Lass uns nicht streiten“, lenkte er ein. „Sei einfach vorsichtig.“ Er nahm sie in den Arm.
Sie nickte. „Versprochen.“
Dann küsste er sie.


Draußen war es längst dunkel beziehungsweise wäre es dunkel gewesen, wenn sie Straßenlaternen den Abend nicht in schummriges Orange gefärbt hätten. Durch die Jalousien der Schlafzimmerfenster geisterte außerdem ab und an das Scheinwerferlicht vorbeifahrender Autos.
Tomann legte seine Hand auf Caros Bauch. „Ist schon komisch. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du schwanger werden könntest.“
„Warum?“
„Kein Freund, das Alter.“
„Man braucht keinen Freund. Irgendein Kerl reicht.“
Er drehte sich verwundert zu ihr. „Du hast es darauf angelegt? Das hätte ich nicht vor dir gedacht.“
„Du denkst eine Menge nicht von mir. Aber nein“, sie sah ihn an, „ich hatte es nicht darauf angelegt. Aber als ich es merkte, war es okay. Ich meine … so viele Chancen habe ich meinem Alter nicht mehr.“
„Was sagt er dazu?“
Sie wich aus, indem sie wieder zur Decke hochschaute. „Was soll er schon sagen.“
„Wir Männer sind da echt schlecht dran. Am Ende entscheiden die Frauen.“
„Er hätte ja nicht mit mir schlafen müssen. Oder verhüten können.“
„Wie habt ihr euch kennengelernt?“
Sie drehte sich zu ihm. „Peter, ich werde mit dir nicht über ihn sprechen.“
„Was soll ich dem Kind sagen, später?“
„Du?“
„Ja. Wenn es ein Junge wird, wird er eher mit …“ Er unterbrach sich.
„Wird er eher was?“
„Ich wollte sagen ,mit seinem Vater reden’, was aber Quatsch ist.“
„Dann sag doch Ziehvater.“
Auch der Gedanke schien einen Haken zu haben.
„Was?“, fragte Carola nach.
„Habe ich eben angedeutet, dass ich das Kind mit dir zusammen großziehen will?“ Er schien darüber wirklich sehr erstaunt zu sein.
Caro versuchte, nicht zu lächeln. „Ja, ich glaube, das hast du.“
Er setzte sich auf. „Hu.“
Caro setzte sich neben ihn. „Keine Sorge, ich nagele dich nicht darauf fest.“ Sie versuchte zu lächeln, in Wirklichkeit erschreckte sie der Gedanke. Eine Familie mit ihm? Wann immer sie sich das ausgemalt hatte, endete das Szenario in einem Desaster.
Tomann stand auf und schlüpfte in seine Shorts. Dann drehte er sich zu Caro und sagte: „Weißt du, das war so nicht geplant.“
„Was war wie nicht geplant?“
„So weit hatte ich nicht gedacht. Ich …“
Caro wusste, dass sie sich jetzt eigentlich verletzt fühlen sollte. Stattdessen sagte sie: „Lass mich raten: Es ging gar nicht um mich, du wolltest nur einen Grund haben, dich von Olivia zu trennen. Ich war nur die erfolgversprechendste Kandidatin.“
Er setze offenbar zu einem Widerspruch an, schwieg dann aber.
„Und?“, hakte Caro nach. „Hat es geklappt? Hat sie sich von dir getrennt?“
Er schüttelte den Kopf.
„Wow! Sie ist echt leidensfähig, oder?“
„Ich werde mit ihr Schluss machen“, sagte er. „Du hast recht, darum ging es am Anfang.“
Caro dachte: ,Weil du mit dem Fälschergeschäft ihr Geld nicht mehr brauchst‘, und fragte: „Und worum geht es jetzt?“
„Aber es ging nicht nur darum.“ Er setzte sich auf das Bett. „Ich wollte wirklich mit dir zusammensein.“ Er lächelte noch immer nicht. „Ein Weilchen. Bis du merken würdest, dass ich zu sowas nicht gut tauge.“
„Das hat ja bei Olivia auch schon gut geklappt …“
Jetzt lächelte er doch ein wenig. „Sie … hängt eben an mir.“
„Das tue ich auch, Peter. Obwohl ich weiß, dass du – wie du es ausdrückst – zu sowas nicht gut taugst. Und seien wir ehrlich: Das mit uns wird nicht gutgehen.“
Jetzt lächelte er ganz deutlich sein unwiderstehliches Lausbubenlächeln, sagte „Wetten?“ und küsste sie.
Während sie den Kuss erwiderte, wusste sie, dass er sich irrte. Er verdrängte völlig, was er von ihr wusste beziehunsgweise dass er offenkundig Wichtiges nicht von ihr wusste. Oder fragte er absichtlich nicht nach? Hatte ihre Drohung gewirkt? Auch auf so einer Basis ließ sich nur schwer so etwas wie ein gemeinsames Leben aufbauen.
Er löste sich von ihr. „Wo warst du gerade?“
„Mit den Gedanken? Ich weiß nicht. Es ist nur alles ein wenig kompliziert. Deine illegalen Geschäfte, die Andeutungen über Hans …“
„… deine Morddrohung gegen mich“, ergänzte er.
„… die dich scheinbar gar nicht stört.“
Er stand auf. Während er sich anzog, erklärte er: „Seit Pater Christoffer mich das erste Mal um einen Gefallen bat, habe ich mehrfach Situationen erlebt, die auf etwas ähnliches hinausliefen. Nicht gerade offene Morddrohungen, aber auf die Andeutung ernster Konsequenzen, wenn ich zu weit gehen würde. Bis jetzt ist nichts davon passiert.“ Er sah sie an. „Ich weiß nicht, was du mit all dem zu tun hast und was dieses All-Das eigentlich ist. Und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, es interessiere mich auch nicht. Aber ich hänge an meinem Leben und ich habe gelernt, mit solchen Wissenslücken zu leben. Also …“, er ging zur Schlafzimmertür, „… entweder du gewöhnst dich auch daran oder du beginnst, mit offenen Karten mit mir zu spielen.“
Carola schluckte. So fühlte es sich also an, auf der anderen Seite zu stehen.
„Ich komme übrigens morgen nicht in die Firma“, sagte Tomann und lächelte dann. „Aber halte dir den Nachmittag frei, ich habe eine Überraschung für dich.“

Der Montag war grau und neblig. Carola empfand das als das reinste Klischee, so, als wollte ein mäßig guter Autor die Stimmung seines Protagonisten durch das Wetter ausdrücken. Aber sie musste zugeben, dass es eine äußerst passende Illustration war, denn sie fühlte sich zum Verkriechen schlecht. Die Schwangerschaftsbeschwerden stellten dabei nur einen Teil des Problems dar, viel gewichtiger waren die zunehmend undurchsichtigen Verhältnisse, in die Caro sich immer tiefer hineinmanövriert fand. Sie wünschte sich zurück nach LA, zurück zu Vic, mit dem sie solche Sachen wie die hier hätte besprechen können. 1988 hatte sie ihn zum letzten Mal getroffen, im April 1989 – drei Tage vor Johannas Tod – zum letzten Mal mit ihm telefoniert. Es gab wenige Jahreszahlen, die sie sich merken konnte, die vom Verlust Vics gehörten dazu.
Halb zwölf rief Tomann an und bat sie, in einer Stunde in der Stadt zu sein. Er nannte ihr ein Hotel, das eine vage Erinnerung in ihr weckte. Als sie dort ankam, wusste sie auch, woher sie es kannte: Hier hatte sie mit Tom geschlafen. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich einfach umzudrehen und zu gehen. Die Vorstellung davon, wie sie das Tomann erklären müsste, hielt sie davon ab. Wahrscheinlich hatte er ein tolles Essen hier im Restaurant bestellt oder einen Wellness-Nachmittag arrangiert. Er gab gerne ein wenig mit seiner Weltläufigkeit an.
Tomann erwartete sie schon in der Lobby. Das war ungewöhnlich, in der Regel kam er auf den letzten Drücker oder – häufiger – zu spät. Diesmal eilte er ihr entgegen, über das ganze Gesicht strahlend. Carola wurde etwas flau im Magen: Das sah nach weit mehr als nach einen stilvollen Essen oder einem Wellness-Nachmittag aus.
Er umarmte sie. „Schön, dass das klappt. Wie geht es dir?“
„Gut.“
Er strahlte sie an. „Bis du bereit?“
„Wofür?“, fragte sie und merkte, dass seine Vorfreude auf sie überschwappte.
„Deinem Star zu begegnen.“
„Meinem …“ Sie verstand nicht. „Was für ein Star?“
„Ich weiß, dass du ein Fan bist, also dachte ich, wenn er schon mal für eine Pressesache in der Stadt ist …“
,Tom?‘, dachte Caro. ,Nein, seine Werbetour hatte im Juli hier Station gemacht.‘
„Thomas Bern!“, sagte Tomann und strahlte sie erwartungsvoll an. „Ich habe uns ein Viertelstündchen seiner Zeit reservieren können und …“ Endlich fiel ihm auf, dass Caro sich mitnichten freute. „Was ist?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Was nein?“
„Peter, ich … Ich kann das nicht.“
„Was? Ihn treffen?“ Tomann lächelte ihr aufmunternd zu. „Ich glaube nicht, dass er beißt.“
Sie versuchte, ebenfalls zu lächeln. Vielleicht hatte Tomann recht, vielleicht würde es gar nicht so schlimm. Vielleicht erinnerte sich Tom nicht mal an sie. Noch während Caro das dachte, wurde ihr bewusst, dass Thomas Bern nicht in dem Ruf stand, bei all seinen Bettgeschichten den Überblick zu verlieren.
Tomann sah auf seine Uhr. „Er müsste gleich da sein. Ich habe ein Separee reservieren lassen, damit wir nicht so auf dem Präsentierteller sitzen.“
„Du bist dabei?“, entfuhr es ihr.
Er überhörte es offenbar, denn er begann, sie zum Restaurant zu lotsen. Während sie durch den Gastraum gingen, kämpfte Caro mit dem Verlangen, einfach wegzurennen. Auch das bemerkte Tomann nicht.
Dann traten sie in das Zimmerchen. Es wirkte gemütlich, aber nicht wie befürchtet anrüchig-kuschlig. Wie für Geschäftsessen, die man nicht in der Öffentlichkeit abhalten wollte. Und Tom war bereits da. Er stand auf, als Caro und Tomann eintraten, und kam einen Schritt auf sie zu, so als sei er der Gastgeber. Er war gut gelaunt, das war sofort zu erkennen. Er nickte Tomann grüßend zu und reichte Caro die Hand.
Und da erkannte er sie. Sein Lächeln vertiefte sich augenblicklich, Caros Herz setzen einen Schlag lang aus.
„Wir freuen uns sehr, dass Sie Zeit für uns haben“, sagte Tomann. „Carola ist wahrscheinlich Ihr größter Fan, ich musste ihr sogar mal Urlaub geben, damit sie auf eines Ihrer Konzerte konnte.“
Tom reagierte kaum auf diese Übertreibung. Er sah Caro an und sagte schmunzelnd: „Siehst du, ich brauche deine Telefonnummer gar nicht, um dich wiederzusehen.“
„Offenbar nicht.“ Sie fühlte, wie sein Lächeln sie wärmte. Davon wollte sie mehr. „Glückwunsch zu Platz eins übrigens. Ich habe es heute im Internet gelesen. Nicht, dass das nicht zu erwarten gewesen wäre.“ Sie drehte sich zu Tomann. „Toms Alben landen alle auf Platz eins, sobald sie rauskommen.“
Tomann nickte. Er wirkte ein wenig irritiert. „Ich wusste nicht, dass ihr euch schon kennt.“
„Ja, ganz gut sogar“, antwortete Tom und komplimentierte Caro in einen der Sessel. Er setzte sich neben sie.
Wie aufs Stichwort tauchte ein Kellner auf und platzierte Gläser und eine Auswahl an Getränken auf dem Tisch. Als er gegangen war, setzte sich auch Tomann.
„Wie geht es dir?“, fragte Tom und nahm Caros Hand.
Sie spürte die Berührung tief in ihrem Leib. „Gut.“ Sie betete, dass er nicht sehen konnte, dass sie mit den Tränen rang. Um davon abzulenken, sagte sie: „Ich wundere mich, dass du nach so einer PR-Tour noch Nerven für ein Fantreffen hast.“
„Dein Chef war recht hartnäckig.“
„War er das?“ Sie sah kurz zu ihm hinüber. Er wirkte verloren, fast ein wenig verstört. Aber darum konnte sie sich jetzt nicht kümmern. Tom war da. „Wie kommt es, dass du bei einer Runde zweimal in der gleichen Stadt bist?“
„Ein Termin hat sich verschoben, ich bin eher zufällig hier.“
„Zufällig?“
„Um ehrlich zu sein, ich hatte schon ein wenig gehofft, dich zu treffen.“ Er grinste breit. „Ganz zufällig natürlich.“
Caro schwieg. Das Ganze lief in die falsche Richtung. Sie entzog Tom ihre Hand und wich seinem Blick aus, indem sie zu Tomann schaute. „Dann solltest du dich wohl bei ihm bedanken.“
Toms Lächeln kühlte schlagartig ab. „Ja, das sollte ich wohl. Du musst eine Spitzenkraft sein, wenn dein Chef sich so für dich ins Zeug legt.“
„Auch“, erwiderte Tomann und stand auf. „Entschuldigen Sie, ich muss noch ein wichtiges Telefonat erledigen. Caro?“, sagte er, sich leicht zu ihr herab beugend, als wollte er ihr einen Kuss geben. „Wir sehen uns ja heute Abend. Wir haben was zu bereden, denke ich.“ Dabei warf er einen schnellen Blick auf ihren Bauch. Dann ging er.
Tom sah ihm einen Moment lang nach. „Heute Abend?“, fragte er dann.
Caro hob entschuldigend die Schultern.
„Seit wann seid ihr schon zusammen?“
„Ein paar Tage.“
Tom lehnte sich in seinem Sessel zurück. Sein Strahlen war erloschen. Er wirkte plötzlich alt. Enttäuscht.
„Echt jetzt?“, entfuhr es ihr.
„Was?“
„Du bist echt sauer, weil ich mit einem anderen zusammen bin?“ Sie hatte das Gefühl, lachen zu sollen, dabei hätte sie am liebsten geweint.
Er atmete tief durch und versuchte, zu lächeln. „Du hast recht. Das ist dumm von mir.“
„Oh ja! Du bist hier der mit Frau und Familie.“
„Ich sagte ja schon, es war dumm von mir.“
Eine Weile saßen sie einfach so da, jeder ein Glas Wasser in der Hand, an dem sie nippten. Dann sagte er: „Ich habe oft an dich gedacht.“
,Ich auch‘, war sie versucht zu antworten, tat es aber nicht.
„An unser Gespräch. Du weißt schon, über Johanna.“
Caro wusste nicht, ob sie erleichtert oder alarmiert sein sollte.
„Manchmal träume ich von Jo. Dann hat sie dein Gesicht.“
Das war definitiv ein Alarmzeichen. Sie musste das stoppen. Dringend! „Hör zu, Tom. Es ist … es ist schon ein bisschen schmeichelhaft, dass du mir so … persönliche Sachen anvertraust, aber … Ich bin nur ein Fan.“ Sie versuchte, es so ehrlich wie möglich klingen zu lassen.
Entweder gelang ihr das nicht oder er verstand nicht, was sie damit sagen wollte. Denn er lächelte und erwiderte: „Nach dieser Nacht wohl kaum.“
„Gut, ich bin ein verliebter Fan“, räumte sie ein, „und wenn du Sex von mir willst, bin ich kaum charakterstark genug, dir das abzuschlagen. Aber ich bin nicht deine Lösung in Sachen Jo.“
Er grinste. „Du meinst, wenn ich dich um diese Nacht bitten würde, würde dein Chef heute Abend vergeblich auf dich warten?“
„Was?“
„Du hast gesagt …“
„Verdammt, Thomas! Darum geht es doch gar nicht!“
„Mir schon.“
Sie antwortete nicht. Aufschießende Tränen raubten ihr die Stimme.
Toms Grinsen wurde weicher, sein Blick bat um Entschuldigung. Er beugte sich zu ihr, nahm erneut ihre Hand. „Ich wollte dich nicht verletzen. Du gehst mir nur einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ist das so schlimm?“
Sie nickte. Bis jetzt hatte sie noch gedacht, gehofft, sie könnte ihn einfach so über das Baby in Kenntnis setzen. Das war jetzt unmöglich geworden. Ein Kind würde eine Verbindung schaffen, die er nicht verkraften würde. Der Gedanke fühlte sich unendlich falsch und zugleich wie die einzig richtige Entscheidung an. Wiedermal. Nur dass die Lage jetzt eine andere war: Sie wusste nicht, was kommen würde. Sowas wie das hier konnte seine Karriere nicht mehr zunichtemachen. Seine Ehe schon. Andererseits hatte er die bereits aufs Spiel gesetzt, als er mit Caro geschlafen hatte.
Sie stand auf.
Tom, der noch immer ihre Hand hielt, erhob sich ebenfalls. „Er wartet sicher.“
„Ja. Wahrscheinlich.“ Sie begann, in ihrer Tasche nach Schreibzeug zu suchen. Ein kleiner Block ließ sich finden.
Als sie ihn rausnahm, reichte Tom ihr einen Stift. „Krieg ich deine Nummer also doch noch.“
Sie nickte, ohne ihn anzusehen. Und während sie schrieb, sagte sie: „Falls du mal wissen willst, wie es deinem Kind geht.“

Der Abend mit Tomann wurde sehr kurz. Genau genommen beschränkte er sich auf die Heimfahrt vom Hotel zu ihrer Wohnung, während der er fragte: „Es ist seins, oder?“ und sie nickte. Mehr Worte fielen nicht zwischen ihnen. Und seltsamerweise fühlte sich das für Caro genau richtig an.

Am nächsten Tag war Peter Tomann nichts anzumerken. Er war für seine Verhältnisse früh in der Firma erschienen, besprach mit Törmchen einen neuen Auftrag, telefonierte mit seinem Steuerbüro und verschwand dann, ohne jemandem zu sagen, wohin und für wie lange. Kurz vor Feierabend tauchte er wieder auf. Als Carola ging, werkelte er in seinem Büro am Drucker herum.
Eine Stunde später stand er vor Carolas Tür und streckte ihr eine Sektflasche entgegen. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd.
Caro ließ ihn eintreten. „Du weißt schon noch, dass ich schwanger bin.“
„Alkoholfrei“, erklärte er und stellte die Flasche auf den Couchtisch. Dann zog er die Jacke aus und warf sie über den Schreibtischstuhl. Caro nahm sie und trug sie in die Garderobe. „Was gibt es denn zu feiern?“ Drinnen hörte sie Gläser klingen.
Als sie zurückkam, öffnete Tormann gerade die Flasche. Er goss ein, nahm die Gläser, reichte eines an Caro und sagte: „Ich habe mich von Olivia getrennt.“
„Aha.“
Sein Gesichtsausdruck lag irgendwo zwischen Enttäuschung und Belustigung. „Aha? Ist das alles?“
„Es kommt etwas überraschend. Nach gestern zumal.“
Er kam näher. „Eben wegen gestern. Nach dem ersten Schock ist mir aufgefallen, dass es mir egal ist, wer der Vater ist. Maier, Schulze oder eben Bern – das sind nur Namen. Es sei denn, du hast vor, mit ihm dort anzuknüpfen, wo ihr aufgehört habt.“ Bei diesen Worten verlor er ein wenig an Glanz und Sorge schlich sich in seinen Blick.
Caro unterdrückte ein Lächeln. „Das habe nicht vor.“
„Gut!“ Er schien wirklich erleichtert zu sein. Er hob ihr sein Glas entgegen. „Nach dem, was da ablief, war ich nicht sicher.“
„Nachdem er das von dem Baby erfahren hatte, war ich sicher“, log sie.
„Wie das?“
„Er war so entsetzt, dass es plötzlich mehr als ein unverbindliches Abenteuer sein könnte, dass seine Ausstrahlung sofort verblasste.“ Das war zumindest nicht ganz gelogen.
„Ich weiß nicht, ob mich das tatsächlichen beruhigen sollte, aber ich bin ein unverbesserlicher Optimist.“ Er stieß mit ihr an. „Auf uns?“
Sie wiederholte das Anstoßen. „Auf uns!“
Sie tranken. Dann setzten sie sich: Er auf die Couch, sie auf den Schreibtischstuhl, den sie an den Tisch gerückt hatte. Sie sahen einander an und nippten am Sekt.
„Ich hätte nicht gedacht, dass … dass das hier jemals passieren könnte“, sagte Caro.
„Ich auch nicht. Nicht, dass das Leben mit Olivia unerträglich gewesen wäre, aber … Nunja. Wahrscheinlich hat mir Pater Christoffer einen größeren Dienst erwiesen, als er mich um den ersten Gefallen bat, als ich ihm von Nutzen war.“ Sein Lächeln vertiefte sich. „Es fühlt sich wie ein großes Abenteuer an. Der Orden, du …“
Sie setzte ebenfalls ein Lächeln auf. „Es könnte auch das größte Desaster werden, das du je erlebt hast.“
„Ist das nicht der Reiz an einem Abenteuer? Dass man den Ausgang nicht kennt?“
„Ich steh nicht auf Abenteuer“, bremste sie ihn. „Zu gefährlich.“
„Und da gibst du dich mit Hans Bernbauer ab?“
Caro stellte das Sektglas hart auf den Tisch. „Nicht das schon wieder. Wir sind Freunde, ob es dir gefällf oder nicht. Nichts wird das ändern.“ Dazu haben wir zu viel miteinander durchgemacht, hätte sie beinahe ergänzt, verkniff es sich aber.
„Ach so? Na gut!“ Er schob sein Glas ein Stück beseite. „Meine Möglichkeiten sind zwar etwas begrenzt, aber ich habe mich mal umgesehen. Der Name Bernbauer ist häufiger, als ich dachte, aber es gibt ein paar interessante Fälle, in denen Bernbauers sich einfach in Luft aufgelöst zu haben scheinen.“ Er kramte einen Zettel hervor und legte ihn vor Caro auf den Tisch. „Hier: 1805 wird angeblich ein Friedrich Ernst Bernbauer in Köln geboren, der dort aber weder zur Schule gegangen zu sein scheint noch dort gewohnt hat. Erst 1837 taucht er in Hameln auf, als er dort einen Droschkendienst – wohl sowas wie ein Taxiunternehmen – gründet. Um 1860 geht die Firma pleite und F. E. Löst sich in Luft auf. Dann 1918 Anna Bernbauer. Angeblich eine Enkelin des besagten Friedrich Ernst: In einem Nest in Schlesien geboren, taucht ihr Name erst 1938 in einer Mieterliste in Hamburg wieder auf. In den 1940ern lebt sie in Dresden, bekommt dort 1943 eine Tochter. Elisabeth …“
Caro unterbrach ihn. „Was um Himmels willen machst du da?“
Er sah sie überrascht an.
„Ich meine es ernst: Was machst du da? Weiß Pater Christoffer, dass du Hans nachspionierst?“
„Um ihn geht es nicht“, antwortete er. „Ich weiß ja, dass du große Stücke auf deinen Hans hältst, aber er hat Dreck am Stecken. Jede Menge Dreck, wie es aussieht.“
„Peter! Das da“, sie deutete auf den Zettel, „hast du nicht erst rausgefunden, seit du weißt, dass Hans und ich uns kennen.“
Er atmete durch. „Stimmt. Ich habe mit der Recherche schon vor drei Jahren angefangen. Ich dachte, ein Kerl, der eine Elfjährigen schwängert, hat sich schon …“
„Eine was?“
„Elfjährige.“ Tormann lehnte sich zurück. „Hat dir der feine Herr das nicht gesagt? Natürlich hat er das nicht. Was hat er denn erzählt, wie alt Ines ist?“
Er hatte nichts gesagt, aber Caro hätte es wissen müssen. Ihr hätte es auffallen müssen. Sie hätte nachrechnen müssen.
„Ist er immer noch einer der Guten?“
„Sie ist hochbegabt“, versuchte Caro zu erklären.
Tomann sah sie fragend an. „Wofür ist das relevant?“
„Ich weiß nicht“, gab sie zu. „Vielleicht war sie auch frühreif.“
„So frühreif?“
„Oder er wusste es nicht.“
„Oder …? Caro!“ Er rückte an die Kante der Couch und beugte sich beschwörend zu Caro. „Er ist schlicht ein Dreckskerl, egal, wie sauber seine Fassade ist. Und ich wette, dass Hans Bernbauer nichtmal sein richtiger Name ist, denn interessanterweise gibt es zwar eine Geburtsurkunde für ihn, aber ebenfalls kein Schulunterlagen oder dergleichen. Wenn du mich fragst, ist diese ganze Bernbauer-Dynastie nur eine Kette von falschen Identitäten. Das fängt spätestens bei Friedrich Ernst an, reicht über diese Anna …“
„Peter!“
„Was?“
„Du spielst mit deinem Leben, ist dir das bewusst?“
„Ja, dem traue ich zu, dass er alles macht, um seine dreckige Vergangenheit zu schützen. Aber darum geht es längst nicht mehr. Das hier“, er tippte auf den Zettel, „hat System. Das tauchen regelmäßig Leute auf und wieder unter!“
Sie versuchte abzuwiegeln. „Und wenn schon. Das ist es nicht wert, sein Leben zu riskieren.“
„Nimm diese Elisabeth: Es gibt von ihr nur eine Geburtsurkunde und sonst nichts, dafür lässt 1966 eine gewisse Danuta Król Anna Bernbauer für tot erklären. Und jetzt kommts: Danuta Król ist die Halbschwester von Miroslaw Król väterlicherseits und dieser wiederum sah in jungen Jahren aus wie der Zwillingsbruder des heutigen Hans Bernbauer.“
Caro rang um Fassung. „Halbschwester?“ Das erklärte natürlich einiges.
Tomann sah sie fragend an. „Das ist es, was dich daran interessiert? Tatsächlich?“
„Ich bin Król-Fan“, erwiderte sie so lapidar wie möglich. „Er war der erste Schauspieler, für den ich als Kind geschwärmt habe.“
„Was ist mit all den falschen Identitäten?“
Sie tat erstaunt. „Du, ausgerechnet du wunderst dich über falsche Identitäten? Du verkaufst gefälschte Papiere, Peter!“
„Ich vermittle nur.“
„Und das ist warum ein wesentlicher Unterschied? Was denkst du denn, warum diese Leute Papiere brauchen? Weil sie die Abwechslung lieben? Oder das Risiko?“ Jetzt rückte auch sie an den Rand der Sitzfläche und beugte sich vor. „Peter! Bevor du dich in Teufels Küche bringst, solltest du mit Pater Christoffer reden. Er hat dich in diesen Kreis reingebracht, er soll dir erklären, was Fakt ist. Oder welche Grenze du nicht überschreiten solltest.“
Tormann lehnte sich wieder zurück und starrte Caro an.
„Was?“
„Du wusstest das alles schon“, stellte er fest.
Sie hielt es nicht für nötig, das Offensichtliche zu bestätigen.
„Seit wann kennst du ihn eigentlich?“
„Jetzt spielst du definitiv mit einem Leben. Sprich mit Christoffer! Ich meine das ernst.“
„Was kann er mir erzählen, was du mir nicht erzählen kannst?“
„Wie weit der Ratskreis bereit ist, dich einzuweihen, zum Beispiel.“
„Sag du es mir.“
„Ich gehöre nicht dazu, ich weiß es nicht. Sprich mit Christoffer! Oder traust du auch ihm nicht?“
Er zögerte.
„Was? Ich dachte, ihm zu liebe bis du überhaupt erst in die Sache eingestiegen. Er ist dein Beichtvater, oder?“
„War er, ehe ich nach Dresden gezogen bin. Ich vertraue ihm schon, nur … Ich vertraue vor allem seinen Ambitionen und Absichten. Das heißt nicht, dass ich nicht neugierig hinsichtlich seiner Methoden sein könnte. Und seit ich mit Bernbauer zu tun bekommen habe, bin ich mir nicht mehr sicher, ob Pater Christoffer nicht gelegentlich etwas zu … gutmütig, um nicht zu sagen blauäugig ist.“
„Hast du dem Pater mal nachgeforscht?“
„Natürlich nicht!“
„Weil du zwar seinen Ambitionen aber nicht seinen Methoden traust?“
„Weil …“ Er stutzte. „Was willst du mir sagen? Was weißt du über ihn?“
„Wissen? Extrem wenig. Hans erwähnte, dass Christoffer wohl mal …“, sie suchte nach einer passenden Formulierung, „… eine spezielle Begegnung gehabt hat. Und ich wette, dass du auch für seine Person auf eine falsche Identität stoßen dürftest.“
Er starrte sie an.
„Vielleicht ist sie auch so gut gemacht, dass du es nicht merkst, das kann natürlich sein.“ Noch während sie das aussprach, fragte sie sich, was in Teufels Namen sie da tat. Wollte sie ihn wirklich mit der Nase auf die Gabe stoßen? Vielleicht würde man ihm dann auch das mit dem Codex vermitteln und er würde in ihrem Fall nicht weiterforschen. Andererseits …
„Christoffer spricht nie über diese Begegnung“, sagte Tormann wie tief aus den Gedanken heraus.
„Trotzdem wissen offenbar alle davon“, antwortete Caro, vom plötzlichen Themenwechsel überrascht.
„Er hat mich mal korrigiert. Als ihn fragte, was ihn so sicher gemacht hat, dass ihm die Jungfrau Maria erschienen ist, sagte er, so sei das nicht gewesen. Er sei der Mutter Jesu begegnet. Ich hab nicht weiter gefragt, weil ich den Unterschied nicht verstanden habe.“
Caro atmete tief durch.
„Er meinte das wörtlich. Er hat die Frau getroffen, die Jesus geboren hat.“ Er sah Caro an. „Sie könnte unsterblich sein.“
Sie verkniff sich eine Antwort.
„Dich berührt das gar nicht“, stellte er fest.
„Warum sollte es? Ich bin Atheist.“ Ehe er den Faden weiterspinnen konnte, stand sie auf. „Ich habe Hunger. Willst du auch was essen?“
„Was? Nein. – Der Orden könnte sich zum Schutz Mariens gegründet haben.“
„Ich habe Hackbraten im Kühlschrank, ich würde mir Kartoffelbrei dazu machen. Das würde für zwei reichen.“
„Was, wenn …“
„Also soll ich dir auch eine Portion mit warmmachen? Ich habe auch Gemüse im Frost.“
Endlich schien sie ihn erreicht zu haben. Sein Blick kehrte aus den sprichwörtlichen fernen Sphären zurück zu ihr. „Gemüse? Klingt gut. Brauchst du Hilfe?“

Es war ein kurzer Abend geworden: Tomann hatte sich unmittelbar nach dem Essen verabschiedet und Caro mit ihren Grübeleien allein gelassen. Sie machte sich Gedanken darüber, was er sich nach ihren zugegeben unbedachten Worten zusammenreimen würde. Konnte er auf die Idee kommen, nicht die Mutter Jesu müsste zwangsläufig unsterblich sein, es würde genügen, dass Christoffer es ist? Und wenn: Würde er dann auf die restlichen Ratsmitglieder schließen? Auf Erich? Und schließlich auf sie? All das lag durchaus nah, wenn man sich einmal mit der Idee der Unsterblichkeit angefreundet hatte. Peter Tomann war alles anders als dumm oder gedanklich unflexibel. Was würde sie tun, wenn er ihr auf die Spur kam? In seinen Geist eindringen? Sie war als Mensch nicht sehr begabt für soetwas und hatte es zudem lange nicht getan …
Als Caro am Morgen aufwachte, schwangen all diese Sorgen noch in ihr nach. Ihr fiel auf, dass keinen Gedanken an die Information verschwendet hatte, dass Ines erst elf gewesen war, als sie schwanger wurde. Sie wusste, dass das nicht entschuldbar war, dennoch weigerte sich alles in ihr, nicht an die Exiszenz einer akzeptierbaren Entschuldigung zu glauben. Es gab sicher eine. Es musste eine geben.
Tagsüber traten auch diese Gedanken in den Hintergrund, die Büroarbeit forderte sie mehr als sonst. Tomann tauchte nicht auf, was sie zu ignorieren beschloss.
Kurz nach Feierabend – Caro war gerade beim Einkaufen – rief Erich an und fragte, ob sie Zeit hätte. Sie dachte einen Moment lang an Ines und sagte dann zu, ihn in der Stadt zu treffen.
Als sie ihm anderthalb Stunden später gegenüberstand, war sie sicher, dass sie ihn nicht auf Ines ansprechen würde. Offenbar lebte er mit ihr zusammen, liebte sie. Was immer da passiert war – es war eine Sache zwischen den beiden.
Erich wirkte angespannt, auch wenn er es zu überspielen versuchte.
„Alles in Ordnung?“, fragte Caro deshalb.
„Nichts, was ich nicht unter Kontrolle hätte“, behauptete er, ihrem Blick ausweichend.
„Peter“, vermutete sie.
„Wie gesagt: Nichts, was ich nicht unter Kontrolle hätte. – Komm, ich lade dich ein.“ Er führte sie in eine Seitenstraße, die zwar sauber aber trist wirkte, und bog mit ihr durch ein offen stehendes Tor in einen Hinterhof ein. Überrascht stellte sie fest, dass es dort ein Restaurant gab. Am Eingang stand ein Schild mit der Aufschrift „Geschlossene Gesellschaft“, die sie alarmierte.
Erich öffnete zuvorkommend die Tür, ließ Caro eintreten und folgte ihr. „Ich glaube, Christoffer hat ihn über die Gabe informiert“, sagte er, während er ihr aus dem Mantel half.
Sie sah ihn fragend an.
„Er hat es erstaunlich gefasst aufgenommen. Zumindest schien es mir so, als ich ihn heute Mittag traf.“ Dabei hängte er den Mantel an die Garderobe in einer kleinen Nische.
„Vielleicht hatte er schon eine Vermutung. Es ist nicht dumm, weißt du.“
„Ja, ich weiß.“ Er zog seine Jacke aus.
„Warum sagst du mir das eigentlich? Ich meine jetzt.“
Umständlich platzierte er seine Jacke neben Caros Mantel. „Ich weiß es erst seit heute. Ich dachte, es könnte dir einiges erleichtern.“ Er reichte ihr seinen Arm. „Kommst du?“
Dann betraten sie den Gastraum und Caro erstarrte.
Der Ratskreis, zumindest ein Teil davon. Es mussten Ratsmitglieder sein, denn jeden einzelnen hier kannte sie. Und zwar aus früheren Leben.
Sie warf Erich einen vorwurfsvollen Blick zu, der bat mimisch um Verzeihung.
Caro kapitulierte, zumindest teilweise, denn hier zu sein hieß ja noch lange nicht, dass sie für den Orden arbeiten musste. Sie atmete tief durch und wandte sich den Anwesenden zu, um sie zu begrüßen.
Hinter ihr öffnete sich die Tür. Sie wandte sich um. Tomann. Und neben ihm Sergej, der Sohn des Schmiedes; er war dreizehn gewesen, als sie Moskau verlassen musste.
Tomann war offenbar überrascht, sie zu sehen. Allerdings nur mäßig, denn er fing sich sofort wieder und nahm weitgehend ungerührt zur Kenntnis, dass Sergej einen Schritt auf Caro zu machte, ihre Hand nahm und sie anstrahlte.
„Wie wunderbar, dich zu sehen, Katjuschenka“, sagte er auf Russisch. „Wir hatten so sehr gehofft, dass es dir gut geht.“
Sie erwiderte sein Lächeln, nicht ohne sich zu fragen, inwieweit er den Codex allein schon durch die Nennung ihres damaligen Namens verletzte. Nun, was er konnte, sollte auch für sie gelten dürfen. „Sergej“, erwiderte sie deshalb. „Schön, dich wohlauf zu sehen.“
Erich räusperte sich. Sergej ließ Caros Hand los, so dass sie sich den anderen zuwenden konnte.
Als erstes nickte die Charlie zu. „Charles.“
Dann dem Rothaarigen neben ihm. „Ian.“ Er war damals Wagenbauer gewesen, irgendwann um 700 nach Christie in Schottland.
„Marcus.“ Er hatte auf dem Hof gearbeitet, auf dem sie nach dem später als Schlacht von Lukanien genannten Gemetzel Zuflucht gefunden hatte.
„Peren.“ Sie hatten eine Zeitlang zusammen ein Heim für gefallene Mädchen geführt.
„Gerardo.“ Er handelte um 1200 mit Tuchen.
„Dischnajach.“ Sie gehörte definitiv zu den Ältesten hier im Raum.
„Utto.“ Er hatte sie für einen Jüngling gehalten und zum Knappen ausbilden wollen.
Und dann war da noch er, dessen Namen sie nicht kannte, und mit dem sie nicht mehr als eine Nacht verbracht hatte. Aber er hatte sich stärker als andere in ihr Gedächtnis geprägt. Seines Sohnes wegen vor allem. Er hatte noch immer etwas Hypnotisches an sich. Sie nickte ihm zu.
Er erwiderte das Nicken. „Antonio Rossi“, stellte er sich vor.
„Ah, der Beauftragte Jesu“, konnte sie sich nicht verkneifen zu sagen.
Sein Lächeln zeigte, dass er eine Verbündete in ihr gefunden zu haben glaubte.
Sie hatte das Bedürfnis, ihn wütend als Idioten zu bezeichnen. Was immer Jesus damals gesagt haben mochte, er hatte mit Sicherheit nicht gemeint, dass dieser Typ die Weltherrschaft übernehmen sollte – weder offen noch im Geheimen.
Erich berührte ihren Arm und unterbrach so das sich anbahnende verbale Kräftemessen. Sie nickte ihm beruhigend zu. Dabei fiel ihr Blick auf Tomann. In dessen Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Begreifen. Sein Bild von ihr war offenbar soeben gründlich auf den Kopf gestellt worden. Sie registrierte es mit Genugtuung und Trauer zugleich.
Tomann drehte sich abrupt um und ging.
Carola folgte ihm. Im Vorraum holte sie ihn ein. „Peter! Bitte!“
Er drehte sich zu ihr um, der reine Vorwurf im Blick. „Du gehörst zu ihnen.“
Sie beschloss, den Spieß umzudrehen. „Ist das dein Ernst? Du arbeitest seit Jahren für den Ratskreis und regst dich jetzt auf, dass ich die Leute kenne? Kenne übrigens! Nicht mehr. Also halt mal bitte den Ball ganz flach!“
„Du bist …“, er trat nah an sie heran und zischte, als ob jemand in der Nähe wäre, der es nicht hören durfte: „Du bist unsterblich!“
„Nein, bin ich nicht.“ Das war nicht mal gelogen. „Und selbst wenn ich es wäre: Was ist daran so verwerflich? Dass ich es dir nicht schon beim Einstellungsgespräch mitgeteilt habe? Entschuldige bitte, wenn wir versuchen, uns zu schützen!“
„Ha!“ Er zeigte mit den Finger auf sie. „Wir!“
„Ich bin nicht unsterblich. Nicht mehr.“ Auch das war nicht gelogen. „Im Ernst, Peter, sehe ich so aus, als wäre ewige Jugend mein Problem?“
Er überlegte offenbar.
„Pass jetzt gut auf, was du sagst!“, sagte sie, halb scherzend.
Er grinste matt.
„Peter, ich verstehe ja, dass das … nunja … nicht eine der üblichen Überraschungen ist. Aber glaub mir: Ich wollte dich nie verletzen. Das alles …“, sie machte eine Geste zum Gastraum hin, „… ist Vergangenheit. Und zwar im Wortsinne. Erinnerungen, die heute keine Rolle mehr spielen.“ Das war gelogen.
„Das mit diesen Antonio sah nicht wie keine Rolle spielen aus.“
Sie atmete tief durch. „Naja. Es gibt solche und solche Erinnerungen.“
Er nickte verstehend. Dann lächelte er schief. „Ist das jetzt die Stelle, wo du mich töten wirst?“
„Was? Nein!“
„Also war das damals eine leere Drohung“, grinste er.
Sie zögerte.
„Du bluffst recht gut.“ Er machte Anstalten sie in den Arm zu nehmen.
Sie wollte sagen: ,Das war kein Bluff‘, schwieg dann aber. Sollte er ruhig glauben, das wäre ihr großes Geheimnis gewesen. Nur nicht auf die Idee bringen, dass es Widersprüche bei dieser Geschichte gab! Also lächelte sie ertappt und ließ sich küssen.

Zwei Tage lang sprachen sie nicht darüber – nicht über diesen Abend, nicht über den Orden, über Papiere, Unsterbliche und Geheimnisse und auch nicht über Erich.
Im Büro lief alles so, wie es schon immer gelaufen war. Sogar Siegtraud Törmchen fiel das auf und sie kam während einer von Tomanns Abwesenheitsphasen wie nebenbei in Caros Büro, um sich – wie sie wohl glaubte – ganz unauffällig zu erkundigen, ob sie denn nun beide zusammen wären oder nicht.
Am Abend kam Tomann zu Caro, sie kochten gemeinsam, was in der engen Küche eine logistische Glanzleistung darstellte, und sahen ein Weilchen fern. Dann hatten sie Sex, Tomann versuchte, neben Caro in ihrem Bett zu schlafen, zog dann aber auf die Couch um. Dort hielt er es offenbar nicht lange aus, denn gegen Mitternacht hörte Caro ihn gehen. Danach schlief sie entspannt weiter.
Auch der Freitag sah bis zum Nachmittag so aus, als würde der Abend auf die gleiche Weise ablaufen, doch ein Anruf änderte alles.
„Sag mal“, kam ihre Mutter direkt zur Sache, „läuft da was zwischen dir und Tomann?“
„Was?“ Caro schloss die Bürotür, was immer jetzt kam, musste nicht die ganze Belegschaft mitbekommen. „Wie kommst du darauf?“
„Weil er mich heute Vormittag vor dem Supermarkt angesprochen und nach dir gefragt hat.“
„Wie: Vor dem Supermarkt? In Radebeul?“
„Ja. Er hat behauptet, er wäre zufällig in der der Gegend und wäre neugierig geworden, wo du aufgewachsen bist.“
Carola wurde schlecht. „Was hat er genau gefragt?“
„Ob du damals schon Geschichten geschrieben hast und ob du noch Kontakt zu deiner besten Freundin von damals hättest und solche Sachen.“
„Und? Was hast du gesagt?“
„Dass er dich fragen soll. Caro was ist bei dir los? Hat es mit dem Baby zu tun? Ist es seins?“
„Nein, Mutsch, es ist nicht seins. Aber ja: Wir sind seit ein paar Tagen zusammen, ich wollte es nur noch nicht erzählen, weil ich echt nicht weiß, worauf das hinausläuft.“ Caro konnte sich das sorgenvolle Gesicht ihrer Mutter nur zu gut vorstellen. Nun ja, sie hatte ihr ja auch nicht eben ein besonders Schwiegersohn-taugliches Bild von ihm vermittelt. „Es ist alles okay, wirklich. Es ist eben nur so neu, ich …“ Ihr gingen die Worte aus. ,… bin glücklich‘, wäre deutlich übertrieben gewesen, besonders im Moment, als sich ihre schlimmsten Befürchtungen zu bewahrheiten schienen: Er schnüffelte in ihrem Leben herum. Vermutlich dachte er, sie hätte sich eine Alibi-Mutter engagiert, und die abweisenden Antworten mochten ihn darin sogar bestätigt haben. Aber das würde nicht lange funktionieren. Nicht wenn sie den Kontakt zu ihrer Familie nicht rigoros abbrechen würde, was angesichts der räumlichen Nähe kaum möglich war. Und was sie auch unter keinen Umständen gewollt hätte. Außerdem gab es Schulunterlagen von ihr, Fotos – wenn auch nicht viele – und Klassenkameraden, die Tomann sich nicht scheuen würde, aufzustöbern. Dann die Abiturzeit – wieder Unterlagen, Lehrer und Mitschüler – und das Studium. Eine dichte Spur, die beweisen würde, dass sie dieses Leben wirklich gelebt hatte. Da war keine Lücke, in der sie Hans, Charles und die anderen hätte kennenlernen können. Einen unter Umständen – aber alle?
„Caro? Bist du noch dran?“
„Ja, Mutsch.“
„Du warst ja schon immer ein bisschen in ihn verliebt“, sagte sie mit einer Mischung aus Frage und Neckerei.
„Ein bisschen?“ Caro lachte gerade so laut, dass ihre Mutter es am anderen Ende der Leitung hören musste. „Das ist maßlos untertrieben. Er ist … einfach … Naja, eben er. Charmant, gutaussehend, weltgewandt … Nur manchmal ein bisschen anstrengend. So überschwänglich.“
Ihre Mutter wurde wieder ernst. „Weiß er von dem Baby?“
„Ja, Mutsch.“
„Und es macht ihm nichts aus?“
„Offenbar nicht. Er hat sich schon ausgemalt, was er dem Jungen beibringen wird. Wenn es denn ein Junge wird.“
„Was ist denn mit seiner Freundin, dieser Olivia?“
„Mutsch! Mach dir keine Sorgen, okay? Mit der hat er Schluss gemacht, er behandelt mich gut, ich genieße seine Nähe – es ist alles Ordnung. Wirklich. Wir werden halt sehen müssen, wohin das alles führt. – Du, ich muss auflegen“, log sie, um nicht weiter lügen zu müssen. „Ich muss noch was machen vor dem Feierabend. Ich komme morgen Nachmittag mal zum Kaffee rum, dann können wir reden, okay? Mach‘s gut! bis dahin!“ Sie unterbrach die Verbindung.
Dann saß sie ein paar Minuten vor ihrem Bildschirm und versuchte, nicht durchzudrehen. Ihr Optionen war beschränkt, äußerst beschränkt. Sie konnte versuchen, direkt sein Gehirn zu manipulieren. Aber sie war nur ein Mensch, kein XXX, und selbst als sie noch regelmäßige Mentalübungen mit Tonha gemacht hatte, hatte sie bei Weitem nicht die Fähigkeiten erreicht, die hier nötig waren. Es ging ja nicht um eine verhältnismäßig einfache Gedächtnislöschung oder -manipulation. Tomann würde ja nicht plötzlich mit seiner Arbeit für den Orden aufhören können, Personen aus diesem Kreis würde ihn womöglich ansprechen und ihn stutzig werden lassen. Davon, dass er inzwischen die meisten seiner Einkünfte aus dem Identitätenhandel bezog, ganz zu schweigen.
Vielleicht sollte sie gar nichts tun oder ihn sogar einweihen. Immerhin vertraute Pater Christoffer ihm genug, um riskiert zu haben, dass er das mit der Gabe herausfand. Nur: Tomann war eine Tratsche, vielleicht nicht so stark, wie Caro bislang vermutete hatte, aber jedes Restrisko größer null war zu hoch. Sie liebte ihn, aber sie vertraute ihm nicht.
Was also blieb? Ihn zu töten? Darauf würde es wohl hinauslaufen, egal, wie oft sie die anderen Optionen durchspielte, variierte und optimierte. Und trotzdem. Sie vertraute ihm zwar nicht, aber sie liebte ihn.
In diesem Moment ging die Tür auf und Tomann streckte den Kopf ins Büro. „Hast du noch zu tun?“
Sie war versucht zu nicken, nur damit er wieder ging. Dann verneinte sie jedoch.
„Gut. In zehn Minuten bei dir.“
Noch ehe sie sagen konnte, dass sie das nicht schaffen würde, war er wieder verschwunden.
„Verdammt“, zischte sie. „Verdammt, verdammt!“

Sie brauchte zwanzig Minuten. Er war schon da, hatte Kaffee gekocht. Caro erinnerte sich nicht, ihm ihre Wohnungsschlüssel gegeben zu haben, und sagte das auch.
„Schatz, für deine Tür reicht ein einfacher Dietrich. Wieso benutzt du das Sicherheitsschloss nicht? Es ist doch eins dran.“
„Faulheit“, antwortete sie und ärgerte sich. Er hatte ein deutliches Talent, die Schuldfrage einfach rumzudrehen. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, wieso er ihre Mutter belästigte, aber etwas in ihr warnte sie, dass dieses Gespräch schnell in die falsche Richtung abdriften konnte. Also nahm sie das Kaffeegeschirr, drehte sie sich um und ging ins Wohnzimmer.
Er folgte ihr mit der Kaffeekanne. Sie setzten sich an den Tisch, er schänkte ein. Schweigend tranken sie. Nach einer Weile sagte er: „Ich habe heute deine Mutter getroffen.“
„Ich weiß. Sie hat angerufen.“
„Eine sehr nette Dame.“
„Sie war völlig durch den Wind.“
„Wieso?“ Er sah so aus, als wundere es ihn tatsächlich.
„Weil ich ihr noch nichts von uns erzählt hatte, vielleicht?“
„Oh.“ Er schenkte sich Kaffee nach.
Sie schwiegen wieder.
Dann sagte er: „Ihr seht euch wirklich ähnlich.“ Das Lauern in seiner Stimme war nicht zu überhören.
„Das ist bei Müttern und Töchtern oft so.“
Er musterte sie.
Sie tat, als merke sie es nicht, und versuchte, das Thema zu wechseln. „Ich sollte dir mal meine Schlüssel geben, damit du nicht wieder bei mir einzubrechen brauchst.“
„Du solltest vor allem das Sicherheitsschloss benutzen“, antwortete er. „Wir könnten morgen Nachmittag auch zum Baumarkt fahren und ein ordentliches Hauptschloss kaufen.“
„Ich muss nach Radebeul. Meine Mutter beruhigen.“
„Soll ich mitkommen?“
„Lieber nicht. Ich denke, sie muss das erstmal verdauen.“
Wieder musterte er sie und wieder tat sie, als merke sie es nicht. „Am Montag hab ich nicht viel zu tun. Ich will sowieso mal nach einem passenden Bettchen schauen. Die im Internet sind immer zu breit.“
„Zu breit? Wo willst du es denn hinstellen?“
Sie deute mit einer Kopfbewegung zu ihrem Arbeitszimmerchen, wie sie es nannte. Im Moment stand dort ein Regal mit Ordnern und ein großer Schreibtisch mit allerlei Ablagen.
„Ich dachte, du ziehst zu mir“, sagte er.
„Bestimmt nicht!“ Sie hatte seine Wohnung mal gesehen. Sie war so verschnitten, dass keine Einrichtung der Welt daraus etwas Gemütliches hätte machen können.
„Du hast recht, sie ist zu klein. Sie hätte auch gar kein Kinderzimmer. – Olivias Wohnung wird frei.“
Jetzt musterte sie ihn. „Im Ernst?“
„Keine gute Idee?“
Sie schüttelte den Kopf.
Wieder schwiegen sie eine Weile. Dann sagte er: „Bist du verärgert?“
Sie stand auf. „Ich geh duschen.“
„Ich hoffte, wir könnten essen gehen. Ich habe im Paulaner reserviert.“
„Kann ich trotzdem vorher duschen?“
Er machte eine gönnerhafte Zustimmungsgeste.
Sie verließ das Wohnzimmer, holte sich ihren Bademantel, kramte dem Fön aus der dem Schrank und ging duschen. Sie ließ sich Zeit. Vom Wohnzimmer her kamen Fernsehgeräusche, dann telefonierte Tomann. Caro konnte nicht verstehen, mit wem er sprach und worüber. Als die den Föhn anstellte, sprach er noch immer. Irgendwann musste er aufgelegt haben, denn als Caro ins Wohnzimmer zurückkam, lag er auf der Couch und schlief.
Sie räumte das Kaffeegeschirr in die Küche, wusch es ab und kehrte die Küche aus. Dann goss sie alle Blumen in der Wohnung. Sie bemühte sich nicht sonderlich, dabei leise zu sein, Tomann wachte jedoch nicht auf. Also ging Caro ins Schlafzimmer, nahm sich ein Buch und begann zu lesen. Es gelang ihr nicht, sich auf die Geschichte einzulassen, also klappte sie das Buch wieder zu und ging zurück ins Wohnzimmer.
Tomann schlief noch immer. Er hatte etwas rührend Kindliches an sich, wie er da so lag – halb zusammengerollt, um überhaupt auf die Couch zu passen. Caro fühlte, wie sie lächelte. Ihre Sorge kam zurück. Und die Idee, dass sie das Problem vielleicht doch noch gewaltfrei lösen könnte.
Sie trat an das Sofa heran, kniete sich davor, betrachtete Tomann. Sie unterdrückte den Reflex, ihn zu berühren. Mit geschlossenen Augen versuchte sie, sich in die passende Stimmung für einen mentalen Kontakt zu bringen. Als sie die Geistfenster geöffnet hatte, wie Tonha es ausgedrückt hätte, konnte sie Tomann bereits spüren. Es war wie ein Lächeln, das von ihm ausging. Je mehr sie sich seinem Ich näherte, desto unruhiger wurde seine Ausstrahlung, so als bewegte sie sich auf einen Stern zu und könnte dessen brodelndes Inneres immer deutlicher sehen. Es war irritierend, dass dieser Eindruck nicht mit Glut einherging, aber immerhin erlaubte ihr dieser Umstand, die Sternenoberfläche zu durchdringen.
Darunter herrschte Chaos. Es war anders als das regellos scheinende Wabern von eben, härter, eher wie eine außer Kontrolle geratene Maschinerie. Caro wusste, dass sie die Zimmer in Tomanns Geist finden musste, jene Bereiche, in denen er sein Nachdenken über sie, Caro, verwaltete. Aber immer, wenn sie glaubte, eine Struktur gefunden zu haben, die dem entsprach, zersprang sie in tausend Splitter, wurde von malmendem Rädern zerquetscht oder löste sich einfach in nichts auf. Es war ihr unmöglich, hier irgendwo zuzugreifen, geschweige denn, etwas gezielt umzuformen.
Ein Eishauch durchzog Caros Wahrnehmung. Sie öffnete die Augen. Tomann räkelte sich im Schlaf. Wenn Caro jetzt eine Giftinjektion bereit gehabt hätte, wäre Tomann nicht in der Lage gewesen, den Angriff abzuwehren. Aber er durfte ohnehin nicht hier in ihrer Wohnung sterben, auch wenn sie es wie einen natürlichen Tod aussehen ließ.
Caro stand auf und ging in ihr Arbeitskämmerchen. Sie kam mit einem dicken Kuli zurück. Mit diesem ging sie in die Küche, holte dort die halbvolle Whiskyflasche vom Schrank, zerlegte den Kuli und schüttet die Flüssigkeit aus der Phiole, die im Stift versteckt gewesen war, in den Whisky. Dann schraubte sie den Kuli wieder zusammen und trug ihn zurück zum Schreibtisch. Sie begann, den Papierstapeln aufzuräumen, der sich in den letzten Monaten aufgetürmt hatte.
Sie kam nicht weit. Im Wohnzimmer erhob sich Tomann, das Sofa knarzte. Caro hörte, wie er den Raum verließ. Wenig später kam er zurück und kam zu ihr. Sie sah zu ihm auf. Er hatte wie erwartet ein Glas Whisky in der Hand, von dem er nippte.
„Wollten wir nicht essen fahren?“, fragte Caro.
Er runzelte fragend die Stirn.
Sie deutete mit einem Kopfnicken auf das Glas.
Er trank es mit einem Schluck aus. „Wir nehmen die Straßenbahn. – Ich hol mir noch einen. Für dich auch?“
Sie schüttelte den Kopf und überschlug kurz, wie viele Gläser sie ihm gestatten durfte, damit er nicht doch bereits in ihrer Gegenwart kollabierte. Drei, maximal vier heute Abend, dann sollte sein Herz morgen im Laufe des Tages versagen.
„Natürlich. Das Baby“, sagte er.
Sie nickte mit aufgesetztem Lächeln.
Er holte sich einen zweiten Whisky und stellte sich demonstrativ in die Tür des Arbeitszimmers. „Brauchst du noch lange?“
„Fünf Minuten, okay?“
„Okay.“ Er blieb stehen.
Caro seufzte demonstrativ und stand auf. „Na gut. Gehen wir?“
Er trank aus. „Gehen wir.“

Sie war nach dem Essen allein nach Hause gefahren, hatte Unwohlsein vorgetäuscht. Ob er ihr geglaubt oder einfach selbst noch etwas vorgehabt hatte an diesem Abend, wusste Caro nicht. Es interessierte sie auch nicht. Sie war dankbar, dass sie ihm nicht die Unbeschwerte vorspielen musste, während sich in ihr die Last der Jahrtausende zu einem schwarzen Loch verdichtete. Es würde schwer genug werden, ihrer Mutter gegenüber so zu tun, als gäbe es keinen Grund zur Sorge. Carola erwog, das Treffen mit ihr abzusagen, entschied sich aber dagegen. Je weiter weg von Toman sie morgen sein würde, desto besser.
Als sie im Bett lag, drängten sich ihr Bilder des Toten auf. Sie versuchte durchzuspielen, wie sie reagieren sollte. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, ihn einfach nachts ins Nichts zu beamen. Allerdings hatte Jonathan sie vor ein paar Monaten wissen lassen, dass er das Shuttle von der Erde entfernt hatte – irgendwas von defekter Tarnung hatte er in dem Brief angedeutet, zu deutlich wollte er wohl nicht werden. Wahrscheinlich wäre es aber sowieso keine gute Idee gewesen, denn ein Vermisstenfall hätte unnötige Aufmerksamkeit erzeugt. So allerdings … Tomanns Herz war ohnehin nicht ganz gesund, niemand würde sich wundern, dass es aufgehört hatte zu schlagen.
Ihre Gedanken schweiften zurück. Weit zurück. Schelo. Er war der Erste gewesen, der Erste von vielen. Im Gegensatz zu anderen Sachen hatte sie nie mitgezählt, wie viele Menschen sie ermordet hatte, aber sie hatte das Gefühl, sich jeden einzelnen zu erinnern. Und möglicherweise war es auch so. Hoffentlich kam niemand auf die Idee, nach ihrem Tod ihr Gehirn zu untersuchen – die organischen Spuren der Unmengen an Erinnerungen wären sicher nicht zu übersehen. Sie sollte verfügen, eingeäschert zu werden.
Ob Tomann Vorkehrungen für den Fall seines Todes getroffen hatte?
Sollte sie weinen, wenn man ihr mitteilte, dass er gestorben war? Sie hatte viel gelernt in den vergangenen Jahrhunderten – auf Knopfdruck Tränen zu vergießen, gehörte nicht dazu. Es wäre einfacher, einen Schock vorzugaukeln.
Gaukeln. Das hatte sowas Leichtes. Es würde nicht leicht werden.
Es war nie leicht gewesen. Fast nie. Mit Charlie und Glowing Ice war es das. Dieser Verlust brannte noch immer so heiß in ihr, dass sie nie wieder in der Gegend gewesen war. Nichtmal auf Durchreise, selbst wenn der Weg um das alte Stammesgebiet herum sie Stunden oder gar Tage gekostet hatte. Selbst heute noch würde sie lieber einen Bogen darum machen. Dabei hätte es doch langsam mal vorbei sein müssen, oder? Dieser Schmerz. Und jeder andere auch. Sie war immerhin schon viele Jahre zurück, wieder zu Hause. In Sicherheit. In Frieden …

Der Samstag fühlte sich an wie mit Watte ausgepolstert. Caro hatte lange geschlafen, war aber nie richtig munter geworden. Noch während sie zu Mittag aß, vergaß sie, was sie sich gekocht hatte. Nach Radebeul beamte sie sich offenbar – zumindest erinnerte sie sich nicht, wie sie zu ihrer Mutter gelangt war. Und das Gespräch mit ihr führte irgendwer anderes, jemand, der so aussah und so klang wie Carola. Die Carola, die die Mutter erwartete, trotz der Nachrichten hinsichtlich Tomanns. Und trotz der Eröffnung, dass Bern der Vater des Babys war. Diese andere trank Kaffee und aß Kuchen, sah mit der Mutter fern und bereitete das Abendbrot vor. Und während all das passiert, wartete Caro auf die Todesnachricht.

Am Sonntag erwachte Carola zu Hause. Sie erinnerte sich nicht, wann und wie sie von Radebeul nach Dresden gekommen war, was sie am Abend noch gemacht hatte und wann sie ins Bett gegangen war. Sie wusste nur, dass die Nachricht noch nicht da war. Hatte man ihn noch nicht gefunden? Durchaus möglich. Sehr wahrscheinlich sogar, wenn es ihn zu Hause erwischt hatte.
Erwischt hatte. Das klang fast harmlos.
Sollte sie zu ihm gehen? Es wäre erklärbar. Aber nicht zwingend nötig. Eigentlich sogar unlogisch, denn bisher war sie noch nie einfach so zu ihm gegangen. Sie musste ihn also nicht finden. Der Gedanke erleichterte sie nicht.
Doch, sie sollte zu ihm gehen. Nicht, um endlich diese Anspannung zu lösen, sondern weil dann niemand dabei war, wenn sie es „erfuhr“. Menschen hatten ein feines Gespür dafür, wenn anscheinend spontane Reaktionen nicht gänzlich glaubhaft waren.
Wenn er bis Mittag nicht anrief, würde sie hingehen. Einen Moment lang glomm in Caro wirklich der Gedanke, dass er ja anrufen könnte.
Obwohl sie es besser wusste.
Aber vielleicht hatte die Dosis nicht gereicht.
Doch, hatte sie. Die Menge bestimmte nur, wann das Herz aussetzte, nicht ob es das tat.
Es klingelte.
War sie das, die Nachricht?
Caros Herz schlug bis zum Hals. Noch während sie das registrierte, empfand sie es als kitschig. Sie atmete das Gefühl weg und flüsterte sich zu: „Du weißt von nichts.“ Dann ging sie zur Tür, setzte ein Lächeln auf und öffnete.
Peter Tomann.
Und er wusste, was sie getan hatte.
Peter Tomann trat ein, ging an Caro vorbei und reichte ihr dabei einen Briefumschlag.
Caro schloss die Tür und schaute auf den Brief. Ihr Name stand darauf, sonst nichts. Die Handschrift kam ihr bekannt vor. Es war nicht die von Tomann.
Aus dem Wohnzimmer drang der Klang von Gläsern.
Caro öffnete den Brief. Er war von Jonathan, er hatte ihn in der Muttersprache seines Vaters geschrieben. „Sein Tod“, stand da, „hätte weitreichende Folgen. Ich habe ihm den Codex eingebrannt.“ Und dahinter ein Symbol, das für innige Zuneigung stand.
Jonathan hatte ihn also gerettet. Caro wusste, dass sie jetzt erleichtert sein sollte. Tomann lebte und offenbar hatte Jonathan ihn konditioniert, so dass er keine Gefahr mehr darstellte. Warum also war sie es nicht?
Sie steckte den Brief in den Umschlag zurück, stopfte ihn in die Hosentasche und ging ins Wohnzimmer. Tomann stand dort und schaute aus dem Fenster. Sie blieb nahe der Tür stehen und schaute zu Tomann.
„Ich verstehe, warum du das getan hast“, sagte er in Richtung des Blumen auf dem Fensterbrett. „Ich wusste von dem Codex, mir war nur nicht bewusst, wie ernst es euch damit ist.“
Caro runzelte die Stirn. Nicht über vergangene Leben zu sprechen, war ein akzeptabler Grund für Mord? Sogar, wenn man selbst ermordet wurde? Jonathan musste erheblich in Tomanns Denken eingegriffen haben.
„Ich liebe dich“, sagte Tomann und drehte sich um. Er streckte ihr ein Kästchen entgegen. „Ich möchte, dass du meine Frau wirst.“
Jonathan hatte wohl irgendwas in seinem Kopf kaputt gemacht. „Ich habe dich vergiftet, Peter.“
Er lächelte. „Ich weiß. Und obwohl ich das weiß, liebe ich dich.“ Er ging zwei Schritte auf sie zu, das Kästchen, in dem sie jetzt einen Ring mit dezent glitzerndem Stein erkannte, noch immer vor sich haltend. Sein Lächeln wurde schwächer, dafür bekam seine Stimme etwas Eindringliches. „Ich weiß, dass das verrückt klingt, Caro, glaub mir. Und wenn jemand anderes sowas sagen würde, würde ich ihn zum Psychiater schicken. Aber im Ernst: Nach all dem, was ich in den letzten Monaten und vor allem den letzten Wochen erlebt und erfahren habe, ist das hier …“ Er suchte nach dem passenden Wort, etwas, was Caro von ihm nicht kannte. „… logisch.“
„Logisch“, wiederholte sie. Das Fragen legte sie in ihren Blick.
„Ja.“ Er kam einen weiteren Schritt näher. „Es geht um ein so unglaubliches Geheimnis, sowas kann man nur unter Aufbietung aller Mittel schützen. Wenn es bekannt würde, dass es Menschen wie euch gibt, würdet ihr nur zu Versuchsobjekten und von Historikern belagert, es würden Verschwörungstheorien gesponnen und ihr würdet für viele als Inkarnation des Bösen gelten.“
Er war völlig auf dem Holzweg. Nicht nur was sie und die Gabe anging, auch den Zweck des Codex hatte er nicht verstanden. Dafür hatte seine Erklärung den Vorteil, für die allermeisten Menschen logisch zu klingen. Vor allem fand er sie logisch und das würde – hoffentlich – seine Neugier deutlich dämpfen.
Aber auch das erleichterte Caro nicht. Diese ganze Situation war absurd, so völlig unglaubhaft, bizarr geradezu. Nicht einmal, wenn sie die schärfste Braut des Planeten gewesen wäre, hätte Tomanns Antrag einen Sinn ergeben.
„Was sagst du?“, fragte er.
„Du bist verrückt.“
Er schmunzelte. Er lächelte diese lausbübische, wärmende, unwiderstehliche Lächeln und verhinderte so, dass sie „Das ist mein Ernst“ sagen konnte. Stattdessen schwieg sie.
„Na gut.“ Sein Lächeln erlosch und er trat zurück. Dabei legte er das Schächtelchen mit dem Ring in die Schrankwand. „Du kannst es dir ja noch überlegen. Nimm den Ring oder gib ihn mir zurück. In Ordnung?“
Sie nickte. „Okay.“ Dabei fragte sie sich, warum sie ihm den Ring nicht sofort in die Hand drückte.
Tomann atmete einmal kräftig durch. „Ich wollte dich eigentlich zum Essen einladen.“
Caro wartete auf das Aber.
„Wir müssten nur vorher einen kleinen Abstecher machen.“
„Okay.“
Er stand noch immer mitten im Wohnzimmer, als warte er auf etwas.
„Soll ich mich da jetzt schon umziehen?“
„Was?“
„Ob ich mich umziehen soll.“
Er ließ seinen Blick über sie gleiten.
„Ich meine, ob ich mich jetzt umziehen soll. Müssen wir jetzt schon los?“
Er nickte. Was immer ihn gerade beschäftigte, es forderte offenbar den größten Teil seiner Aufmerksamkeit.
Als Caro aus dem Schlafzimmer zurück kam, wirkte Tomann so leicht gestimmt wie üblich. Mimisch sandte er ihr ein Kompliment für ihr Outfit. Es fühlte sich gut an.
Während sie in die Stadt fuhren, plauderte Tomann über eine neue Idee, die er mit einem Kunden gesponnen hatte, über die lustige Episode aus seiner Studienzeit, die ihn auf diese Idee gebracht hatte, und über eine genauso komische Begebenheit, die viele Jahre später stattfand, aber wie ein Spiegelbild der ersten wirkte. Dabei schaute er immer wieder zu Caro herüber, was ihr zeigte, dass er tatsächlich zu ihr sprach. Zu Wort kam sie nicht. Wollte sie auch nicht. Sie genoss es einfach, dass der gestrige Tag keine Rolle mehr spielte und sie nicht mehr wie ein Schießhund aufpassen musste, dass Tomann keinen Verdacht schöpfte. Endlich war sie da, die Erleichterung. Caro dankte Jonathan im Stillen, dass er das möglich gemacht hatte.
Der Abstecher erwies sich als ein Treffen mit Erich in einem Café. Erich hatte bereits eine Tasse Kaffee vor sich stehen, Tomann bestellte für sich einen doppelten Espresso, Caro nahm einen Kakao. Tomann kam – wenn auch angesichts der öffentlichen Umgebung verklausuliert – gleich zur Sache, offenbar ging es um jemanden aus dem Ratskreis, der neue Papiere brauchte. Ein Name fiel nicht. Das Problem war wohl, dass der Betreffende zu schlecht deutsch sprach, um als gebürtiger Deutscher durchzugehen. Warum er unbedingt deutsche Papiere bekommen musste, wurde Caro nicht ganz klar. Wahrscheinlich hatte er zuletzt am anderen Ende der Welt gelebt und wollte so viel räumlichen Abstand wie möglich zwischen sein jetziges und das kommende Leben bringen.
Tomann stand auf und ging zum Tresen. Zu Caros Überraschung kam er mit einem belegten Brötchen zurück. Es würde wohl etwas länger dauern. Tatsächlich begann sich das Gespräch um andere Themen zu drehen. Tomann schlug dabei einen Ton an, als sei Erich sein Helfer und nicht er der Helfer des Ordens. Erich nahm das gelassen, was Tomann nur noch mehr anzustacheln schien. Caro kam sich zunehmend fehl am Platz vor.
Dann betrat Charlie das Café. Neben ihm ging leicht gebeugt ein alter Mann. Das Gespräch zwischen Erich und Tomann verstummte. Tomann stand auf und ging dem Alten entgegen. Erich rutschte auf der Bank, auf der er saß, etwas beiseite, um Platz machen.
Tomann begrüßte den Alten ehrfürchtig, Charlie gönnte er kaum ein Kopfnicken.
„Pater Christoffer“, erklärte Erich leise.
Charles übernahm es, am Tresen etwas für sich und Christoffer zu bestellen. Tomann führte seinen alten Beichtvater an den Tisch. Der Blick des Paters war die ganze Zeit auf Caro gerichtet.
Und sie erkannte ihn. Es war weniger sein Aussehen – damals war er fast noch ein Knabe gewesen – als vielmehr die Art, wie er sie ansah. Als hätte er etwas unendlich Erleichterndes erkannt und zugleich etwas unendlich Schweres.
Tomann rückte einen Stuhl zurecht, damit Christoffer sich setzen konnte. Dabei stellte er ihm Caro vor. Der Pater lächelte. Caro reichte ihm die Hand. Er nahm sie, beugte sich leicht vor und küsste sie. Ein paar Augenblicke lang stand er so – ihre Hand in seiner, der Kopf demütig gesenkt. Und Caro nahm diese Huldigung an, wissend, dass jeder das erkennen konnte.
Auch Tomann.
Sie sah es, als Christoffer sich aufgerichtet hatte und ihr Blick auf Tomann fiel. Er wirkte erschüttert. Er hatte offenbar verstanden. Und es entsetzte ihn.
Pater Christoffer setzte sich neben Erich. Dessen Blick zu Caro verriet, dass auch er verstanden hatte, doch anders als Tomann schien es ihm eine Bestätigung zu sein für etwas lang Vermutetes. Was immer das war.
Charlie kam und stellte das Tablett mit zwei Tassen Tee und einem Stück Kuchen auf den Tisch. Dafür schob er Erichs Tasse beiseite. Dann setzte er sich auf einen Stuhl. Auch Tomann nahm wieder neben Caro Platz. Sie konnte sein Entsetzen förmlich spüren.
„Es ist schön, dich zu sehen“, sagte Christoffer zu Caro. „Hans hat bereits erwähnt, dass du den Ratskreis verstärken könntest.“
Caro lächelte. „Da war der Wunsch der Vater des Gedanken. Ich bin zu alt dafür. Zu müde.“
Christoffer nickte verstehend. „Und die andere Angelegenheit?“
Erich mischte sich ein. „Wir sprachen noch nicht darüber.“ Zu Caro sagte er: „Es geht um eine bestimmte Ware. Tagora.“
Sie kannte Tagora. Die Droge war ideal, um schnell und effektiv Erinnerungen zu manipulieren. Der Orden musste vor sehr langer Zeit an Restbestände der Paste gekommen sein. „Ich glaube nicht, dass es noch jemanden gibt, der weiß, wie man Tagora gewinnt.“ Außer Dischnajach wahrscheinlich, aber sie hatte wohl gute Gründe, dieses Wissen für sich zu behalten.
Pater Christoffer wirkte nicht enttäuscht. Im Gegenteil – er schien so eine Antwort erwartet zu haben. „Nun, es war eine Hoffnung. Aber …“, er atmete tief durch, „… lasst uns von Leichterem sprechen. Ich war gestern Nachmittag an der Frauenkirche und staunte nicht schlecht, sie schon so weit wiederhergestellt zu sehen. Überhaupt bin ich sehr angetan von der Stadt, kaum zu glauben, dass diese Perle mir bislang entgangen war …“
Es entspann sich eine locker-heitere Unterhaltung, zuerst über architektonische Kleinode, später auch über andere Themen. Tomann war schon bald mit knappen Gruß gegangen, Caro nahm es nur am Rande wahr. Christoffer erwies sich als wissensreicher und angenehm bescheidener Mensch, als fröhlicher Plauderer, der auch tiefsinnige Bemerkungen ohne jegliches Pathos einzuflechten verstand. Zwischen ihnen vier herrschte eine Vertrautheit, als kennten sie sich schon seit ewigen Zeiten.
Irgendwann verabschiedete sich Christoffer, da er noch eine andere Verabredung wahrnehmen wollte. Charlie begleitete ihn und auch Erich und Caro brachen auf.
Er brachte sie nach Hause, sie verabredeten ein Treffen für den Dienstagnachmittag. Dann betrat Caro ihre Wohnung, schälte sich aus dem Mantel und ging in die Küche, um sich ein Wurstbrötchen zu schmieren. Mit diesem in der Hand ging sie ins Wohnzimmer.
Die Schachtel mit dem Ring fehlte. Es überraschte Caro nicht.


Epilog (Dezember 2014)

Er wusste, dass Ines litt. Er konnte es nicht ändern. Begann so das Ende? So viele Jahre lang hatten sie mit dem Codex gelebt. Sie sprachen einfach nicht über vergangene Leben. Nicht über seine und selten über ihre. Genau genommen über die Leben ihrer Mutter, die ja auf gewisse Weise zu Inesʼ Vergangenheit gehörten. Ines erwähnte Johanna Johnson manchmal, meist im Zusammenhang mit Bern, mit dem sie innig befreundet war, und erwartete wohl, dass Erich sich an sie erinnerte. Dabei wusste er nicht einmal, unter welchem Namen er sie gekannt haben sollte. Keine der unsterblichen Frauen, denen er begegnet war, konnte er sich als Johanna Johnson vorstellen. Aber er fragte nichts und sie sagte nichts – wie es der Codex verlangte. Und es war gut so gewesen.
Wann hatte sich das geändert? Als Ines begriff, dass Katja – Berns Tochter – die Tochter der „Frau aus Dresden“ war, wie sie Caro nannten? Wie sollte er ihr erklären, dass er nicht über Katja hatte sprechen können, weil er dann auch über ihre Mutter hätte sprechen müssen? Wie konnte er ihr erklären, dass er eng befreundet war mit der Frau, die Schuld an Johanna Johnsons Tod war?
Erich sah der Kaffeemaschine dabei zu, wie sie einen Espresso fabrizierte.
„Wo warst du?“, sagte Ines.
Er hatte sie nicht kommen hören. „Wie bitte?“
„Wo warst du?“, wiederholte sie.
„In Dresden.“
„Du wolltest vor zwei Wochen zurückkommen.“
Er nahm den Kaffee aus der Maschine. „Es ist etwas dazwischen gekommen.“
„Du hättest anrufen können!“ Sie war wütend. Auf ihn.
Er nickte und trank einen Schluck.
„Ist das alles?? Ein wortloses Ja?“
Er trank den Espresso aus und sah Ines an. „Mein Sohn ist gestorben.“
„Dein …“ Ihr Gesicht verlor sofort alle Härte. Sie trat näher und berührte seinen Arm. „Das tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du einen Sohn hast. Hattest.“
„Ich weiß. Der Codex.“ Er sah den Anflug eines Stirnrunzelns in ihrem Gesicht. „Es war abzusehen. Er war über 80. Und krank.“
„Warst du bei ihm?“
„Nicht ganz zuletzt. Das wäre schwierig gewesen.“
„Gehst du zu seiner Beerdigung?“
„Sie war schon. Wir werden an sein Grab gehen, wenn der Trubel nachgelassen hat.“
„Wir?“
Verdammt! „Sie und ich.“
„Sie? Die Frau aus Dresden?“
Er nickte.
„Sie ist seine Mutter?“
„Nein.“ Einen Moment lang wunderte er sich über die Frage. Dann verstand er, dass sie aus Inesʼ Sicht durchaus logisch war. „Nein“, wiederholte er. „Sie … liebte ihn.“
„Verstehe.“ Ihr fiel etwas anderes ein. „Was meintest du mit Trubel?“
„Naja, er war … prominent.“
Sie lächelte. „Tatsächlich?“
„In seiner Heimat. Hier weniger.“
„Kenn ich ihn?“
„Wohl kaum.“
„Versuch’s!“
„Miroslaw Król. Er war vor allem im …“
Sie riss die Augen auf. „Miroslaw? Er ist dein Sohn? Warum hast mir das nie gesagt?“
Er verstand nicht. „Mir war nicht bewusst, dass es dich interessiert. Zudem hätte dies den Codex berührt.“
„Dass es mich …? Was?“ Sie verstand offensichtlich auch nicht. „Und was für ein verdammter Codex?!“
„Der …“ Endlich dämmerte es ihm. Nach all den Jahren. „Sie hatte sie nicht", sagte er nahezu tonlos. „Oder?“
„Was? Wer hatte was nicht?“
„Deine Mutter. Die Gabe.“
„Was für eine Gabe?“
„Nein, sie hatte sie nicht. Wenn du nicht weißt, was die Gabe ist, dann hatte sie sie nicht.“ Langsam begann einiges, Sinn zu ergeben. „Deshalb erinnere ich mich nicht. Ich habe immer nach einer …“ Er unterbrach sich. „Wie hieß sie?“
„Wie hieß wer?“
„Deine Mutter. Als ich sie kannte.“
„Anna. Anna Bernbauer. Wieso?“
Er starrte sie an.
„Hans?“
Er atmete tief durch und sagte dann: „Wir müssen miteinander reden.“



ENDE
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten