Der Deal

4,00 Stern(e) 4 Bewertungen

lietzensee

Mitglied
Der Deal​

Jemand schrie. Autos hupten. Kurz bevor die Sonne hinter Häusergiebeln versank, strahlte sie noch einmal zwischen den Wolken hervor. Georg dachte, dass die Tage kürzer wurden. Die Nächte wurden kälter und er hatte ein paar warme Filzstiefel geschenkt bekommen. Er hatte sie nicht direkt geschenkt bekommen, sondern gefunden. Eigentlich hatte er sie auch nicht gefunden, aber seine Füße steckten warm in Filzstiefeln von einer Machart, die irgendwie exotisch schien. Lange blickte er auf das Glühen der Wolken im Abendlicht, warme Töne zwischen Gelb und Lila. Dann dachte er an den Deal. Er sah die Straße entlang.
Auf dem Gehsteig lagen Müll, Essensreste und Kleiderfetzen. Georg überlegte, dass er sich seine letzte Zigarette noch aufheben sollte. Dann zündete er sie doch an. Ob Alev sich an sein Wort halten würde? Er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Der Rauch schmeckte bitter auf seinen Lippen und das Nikotin beruhigte sein Blut. Aber als jemand um die Ecke bog, richtete Georg sich sofort von seinem Platz auf dem Gehsteig auf. Laminger kam.
"Hast du eine Kippe?", fragte Laminger.
"Ist meine Letzte."
"Kann ich mal ziehen?"
"Hast du Alev gesehen?"
"Nein, habe ich nicht."
"Nein, du du kannst nicht ziehen."
Leise sagte Laminger etwas zu sich selbst. Er schien Georg nicht mehr wahrzunehmen. Mit sich selbst redend, wackelte er über den Gehsteig davon. Laminger war eine ungewöhnliche Erscheinung. Er redete mit sich selbst. Das taten viele. Weil niemand von ihrer Wut hören wollte, sprachen die Leute mit sich selber und gewannen so alle Streitereien, die sie im Laufe des Lebens verloren hatten. Laminger aber stritt nie. Mit sanfter Stimme sinnierte er, warum die Menschen so waren, wie sie waren. Woher kamen ihre absurden Sehnsüchte? Langsam durch den Müll auf dem Gehsteig tappend, fragte Laminger sich halblaut selbst und konnte keine Antwort geben. Georg dachte, dass der Laminger in Ordnung war. Er nahm einen letzten Zug und schnippte den Stummel hinter sich.
Die Hochbahn ratterte in den Gleisen über der Straße. Jevgeni kam um die Ecke, schob ein paar Pappfetzen zusammen und setzte sich neben Georg.
"Hast du Alev gesehen?", fragte Georg.
Jevgeni stöhnte. Er hob die Hände und verdrehte dazu die Augen. Jevgeni stöhnte immer. Keiner wusste, welche Sprache er beherrschte, welche er sprechen wollte und ob er Deutsch verstand. Besonderen Aufwand bei der Klärung dieser Fragen hatte niemand betrieben. Auch Georg war unsicher, wollte aber keine Möglichkeit auslassen. "Hast du für mich eine Kippe?", fragte er weiter, als Jevgeni eine volle Schachtel aus der Tasche zog und daraus eine Zigarette entzündete. Als Antwort kam ein Stöhnen. Georg betrachtete die Schachtel. Sie zeigte ein ungewöhnliches Logo, sicher osteuropäisch, drei blaue Buchstaben mit geschnörkelten Serifen in einem roten Kreis. Ein fast schon kühner Farbkontrast. Die Glut roch wie brennender Papierkorb. Eine Weile blickte Georg auf den Abendglanz hinter den Häusern. Es würde wirklich kalt werden. Er senkte den Blick auf seine Stiefel. Ob Alev sich an sein Wort halten würde? Wieder dachte er an den Deal. Dann stöhnte Jevgeni auf. Zwei Polizeiautos kamen die Straße entlang gefahren. Georgs Körper spannte sich. Die Wagen bremsten. Er sah Gesichter im Schatten, deren Blicke sich über den Gehweg hinweg zu ihm vorarbeiteten. Plötzlich blitzte Blaulicht auf. Sirenen heulten und die Wagen rasten unter dem Viadukt der Hochbahn davon.
Wieder stöhnte Jevgeni. Er hob die Hände und stieß Georg an die Schulter. Georg stieß zurück, dann aber sah er die gebückte Gestalt um die Ecke treten. Alev kam! Grauer Bart, dünne schwarze Haare und eiliger Schritt, Alev sah immer so aus, als hätte er nicht genug Zeit für das, was er vorhatte. Er sah auf Georg und Javgeni herab, atmete aus und ging in die Hocke.
"Was steht an?" Alev wippte auf seinen Fersen.
"Was ist mit dem Deal?"
"Kann ich eine Zigarette haben?" Alev versetzte Jevgeni einen Stoß. Der stöhnte und zog er die blau-rote Schachtel hervor. "Was soll mit dem Deal sein? Deal ist Deal" Alev blickte hinauf zum letzten Abendrot. "Es wird kalt werden heute Nacht."
"Sehr kalt."
"Aber Deal ist Deal."
"Deal ist Deal", stimmte Georg zu und merkte, wie sein Puls wieder schneller schlug. Diese Aufregung versuchte er zu verbergen, aber gleichzeitig zu genießen. Ein bisschen fühlte er sich wie damals, als er Ulrike in das Hotel einlud. Merkwürdige, verschüttete Erinnerung, er verscheuchte sie, um sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Sein Herz schlug. Er dachte an kräftige, kirschrote Farbe und ein bemaltes Gesichtchen. Das Wichtigste war jetzt, dass Alev ihn nicht übervorteilte. Das konnte vorkommen, war schon vorgekommen und auch plötzliche Schläge konnten nicht ausgeschlossen werden. Unter der Jacke trug Georg ein Messer, doch machte er sich keine Illusionen, welche Chancen er damit bei einem Kampf gegen Alev hätte. Trotz allem, er wollte den Deal und er genoss es, den Deal zu wollen. Etwas begehren, auf schwieriges Ziel zuarbeiten, da steckte Leben drin. Ein schlankes Ärmchen im zarten Handschuh, er leckte sich die Lippen.
"Also?", fragte Alev und ließ dabei seinen rauen Akzent schnarren. Er schnippte die Kippe vor sich aufs Pflaster und griff plötzlich nach Georgs Stiefeln.
Georg wehrte sich mit einem Tritt, der Alevs Fersen aus dem Gleichgewicht brachte. "Erst will ich sie sehen!" Seine Angst vor Betrug versuchte Georg als Wut zu nutzen: "Ich will sie zuerst sehen!" Der Himmel hatte seine Farbe verloren und die Schatten wurden dunkel. Weiter vorne, auf einem sauberen Stück der Straße, flammten Laternen auf. Sie blickten einander an, bereit zum Duell.
"Ich will sie vorher sehen!" Georg spannte die Muskeln und spürte die Wärme in seinen Stiefeln. Hektisch blickte Alev sich um. Dann zog er ein Bündel fleckiges Papier aus seiner Tasche. Das schimmerte im schwindenden Licht. Er faltete es auseinander.
Da war sie! Ein im Schwung gebauschtes Kleid, tiefrote Farbe, fast purpur, dazu ein schlankes, grazil gestrecktes Plastikärmchen. Es war Figur Nummer Sieben der Serie Tänzer, aus einem der Sammeleier, die an Supermarktkassen für Kinder verkauft wurden. Ein seltenes Exemplar. Sie war wunderschön. Alle betrachteten die kleine Figur. Also war die Ware da. Deal ist Deal. Georg schluckte und zog die Stiefel von seinen Füßen. Nackte, schmutzige Haut kam zum Vorschein. Unter einem Zehennagel lugte Eiter hervor. Die Kälte umspülte seine Füße wie ein kaltes Bad und er steckte die Figur in seine Tasche.
Alev zog die warmen Stiefel an. Georg zitterte. Es war aber Alev, der mit dem Ergebnis unzufrieden war. "Hey", rief er und in seiner Stimme lag plötzlich Angst vor Betrug, "Hey, warum steckst du die Figur gleich ein?"
"Du hast die Stiefel doch auch gleich angezogen."
"Ja, aber du kannst die exotischen Stiefel weiter sehen. Ich will die Figur auch noch etwas anschauen. Zeig mir die Tänzerin!"
Jevgeni stöhnte. Sein Kopf pendelte und seine zottigen Haare flogen.
"Sie ist jetzt meine!"
"Ich will sie noch einmal sehen!"
"Nein!"
Ihre Stimmen wurden lauter und hallten auf der nun dunklen Straße. Beide ergötzte ihre plötzliche Leidenschaft. Georg stampfte, mit seinen kalten Füßen. Alev ruderte mit den Armen. Eine Frau kam den dunklen Gehsteig entlang, blieb stehen und wechselte die Straßenseite.
Es war Jevgeni, der stöhnend die Lage beruhigte. Er zog seine Zigaretten hervor, hielt Alev die Schachtel unter die Nase und verlangte winkend den rechten Stiefel. Dann sammelte er Pappreste zusammen. Er schichtete ein Häufchen auf das schmutzige Pflaster und zündete es an.
Zu dritt kauerten sie dann um die blakenden Flammen. Georg trug den rechten Stiefel. Alev trug den linken Stiefel. Jevgeni saß dazwischen und ließ sich von beiden wärmen. Vor ihnen stand die kleine Figur im Licht. In dessen unsteten Flackern schien sie zu tanzen.
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Matula,
vielen Dank für deine Antwort! Freut mich, dass dir die Beschreibung gefallen hat. Das Setting ist traurig. Ihr Interesse an der Figur ist aber nicht so negativ gemeint. Es ist auch nicht kindischer, als viele Interessen, denen Menschen in ihren Wohnungen nachgehen.

Viele Grüße
lietzensee
 



 
Oben Unten