Der deutsche Disney - wie alles begann (1)

Marc Hecht1

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Er war spät dran. Vom Hackeschen Markt eilte er hinunter zur Friedrichstraße, vorbei am Schloss Monbijou.
Es war Anfang Mai. In diesem Frühjahr 1935 hatte es noch einmal Nachtfrost gegeben, auf dem schattigen Rasen vor dem Schloss lag Raureif. Nur dort, wo die frühe Sonne bereits hinfiel, glitzerten Tautropfen im Morgenlicht.
Ein kühler Windzug schlug ihm entgegen, als er in die Friedrichstraße einbog. Die großstädtischen Häuser warfen ihre Schatten über die belebte Straße.
Seine Schritte wurden langsamer, er musterte jetzt die Hausnummern, suchend trat er dann durch einen Torbogen in den dahinterliegenden Hof, besah aufmerksam das graue Mietshaus.
Max Horwitz. Künstleragentur, 2. Stock. Bitte 2x klingeln, stand dort, auf einem schmalen Werbeschild an der Hauswand. Er zog seine Uhr aus der Westentasche. Beruhigt blickte er aufs Zifferblatt, steckte sie wieder ein und kramte nach dem Zigarettenetui.
Eine Weile ging er dann rauchend im Hinterhof hin und her. Und als er gerade die Zigarette austreten und hinaufgehen wollte, sah er zwei junge Männer durch den Torbogen eilen. Ein ungleiches Paar, einer groß und blond, der andere einen ganzen Kopf kleiner, schmächtig, braunhaarig, mit Nickelbrille. Beide waren ähnlich wie er gekleidet, trugen Hüte, weiße Hemden, Anzug und Krawatte. Sie kamen auf ihn zu, beachteten ihn aber nicht, sondern blickten auf das Schild an der Hauswand.
»Hier ist es«, sagte der Größere. Erst dann sahen die beiden auf.
»Wollen Sie auch zu Horwitz?«, fragte der Kleinere.
»Ja.«
Nacheinander stiegen sie die knarrende Holztreppe hinauf in den zweiten Stock. Sie klingelten zweimal und hörten Schritte. Die Tür wurde geöffnet, ein Mann stand vor ihnen. Um die fünfzig, mit Halbglatze und ziemlich dick. Ohne Jackett stand er da, und die Krawatte saß recht locker. Am auffälligsten waren aber die übermäßig breiten Hosenträger über dem weißen Hemd.
Erstaunt blickte er auf die drei Besucher. »Alle auf einmal! Na, dann kommen Sie mal mit.«
Er schloss die Tür und ging voraus, den Flur entlang, in sein Büro. Dort setzte er sich hinter seinen Schreibtisch, auf dem nur ein schwarzes Telefon und ein riesiger Aschenbecher standen. An der Wand gab es noch ein braunes Sofa. Gegenüber stand ein altes Klavier.
»Nehmen Sie Platz.«
Max Horwitz nahm einen bereits angerauchten Stumpen aus dem Aschenbecher, paffte ihn wieder an und lehnte sich zurück.
»Schön, dass Sie kommen konnten, meine Herren«, erklärte er dann. »Um es kurz zu machen, es geht um Folgendes: Wir suchen ...«, er unterbrach sich: »Ist jemand von Ihnen Jude oder Parteimitglied?«
Alle drei blickten sich überrascht an.
»Ja«, erklärte der Kleinere dann resigniert, »ich bin Jude.« Niedergeschlagen senkte er dabei den Kopf und starrte auf den Boden. Ganz offenbar verabschiedete er sich in dieser Sekunde von der Vorstellung, hier eine Arbeit zu bekommen.
Dann aber, zu seiner großen Freude, erklärte der Künstleragent: »Verstehen Sie das bitte nicht falsch, meine Herren! Ich habe nichts gegen Juden! Ich selbst bin das, was man neuerdings einen Halbjuden nennt! Und auch meine Auftraggeber sind Juden.« Empört sah er dann auf: »Aber man kann sich ja in Deutschland allmählich um Kopf und Kragen reden!«
Der Kleinere sah erleichtert auf, eine Weile herrschte verlegenes Schweigen.
Verschwörerisch sah Horwitz die drei auf dem Sofa dann an: »Tja, es ist nun einmal so, dass dieser Herr Hitler allmählich nervtötend wird, mit seiner Bagage«, erklärte er, paffte ein paar Wolken in den Raum, nahm den Stumpen zwischen die Finger und wedelte mit der Hand durch die Luft: »Jedenfalls ist es alles ziemlich schwierig geworden! Allein Goebbels will noch bestimmen, was in die Kinos kommt.« Er fuchtelte mit seinem Stumpen: »Sieg des Glaubens, Triumph des Willens ..., für solche Filmchen gibt es heutzutage Geld! Der ganze Parteitagsscheiß!«, erbost sah der Künstleragent auf: »Die kleine Riefenstahl, kennen Sie die? Die soll nächstes Jahr zur Olympiade ein ganz großes Ding drehen! Da soll Geld dann überhaupt keine Rolle mehr spielen.«
Die Besucher, alle drei den Hut vor sich auf dem Schoß, saßen schweigend und vorgebeugt da und hörten zu.
Horwitz besann sich: »Na, ich schweife ab«, erklärte er, »also, wir wollen hier jedenfalls etwas vollkommen anderes machen – und deshalb sind Sie jetzt hier.« Er nahm ein paar Papiere vom Schreibtisch und begann darin zu blättern.
»Joshua Weismann?«
»Das bin ich.« Der Kleinere hob schüchtern die Hand.
»Ja, sehr gute Zeichnungen. Gefällt mir wirklich gut!«
»Danke!«
»Die entscheidende Frage ist natürlich, wie schnell Sie so etwas können.« Max Horwitz hielt ein Blatt Papier hoch.
»Na ja«, antwortete Josh, »dafür ...«
Doch Horwitz unterbrach ihn: »Und wer ist der Schauspieler?«, er blätterte wieder in seinen Notizen, »Arthur Hinrichsen?«
»Das bin ich«, antwortete der große Blonde, und seine tiefe Bassstimme klang durchs Büro. Aufmerksam sah der Künstleragent ihn an: »Können Sie das noch einmal sagen?«
»Noch einmal?«, Arthur blickte fragend auf seine Nebenleute.
»Ja, sagen Sie das noch mal«.
»Das bin ich«, wiederholte Arthur also.
»Sehr schön.«
Verständnislos sahen die drei auf den Agenten, ein komischer Kerl war das, sie streiften sich mit Blicken.
Horwitz bemerkte es und erklärte: »Es geht um Animation, verstehen Sie?«
Wieder sahen sich die drei an.
»Animationsfilme! Zeichenfilme. Kennen Sie die Fleischer-Brüder?«
Josh nickte eifrig, die anderen beiden schüttelten ahnungslos den Kopf. Der Agent seufzte und setzte zu einer Erklärung an. Vorher paffte er geräuschvoll an seinem jetzt fast vollkommen heruntergebrannten Stumpen.
»Die Fleischers sitzen drüben in den Staaten«, erklärte er schließlich, »die Familie kommt eigentlich aus Krakau. Heute besitzen sie die Fleischer-Studios in New York und sind ziemlich erfolgreich."
Wieder nickte Josh eifrig: »Ja! Ich sage nur Popeye!«
Jetzt sah auch Arthur auf: »Ach so, Popeye. Den kenne ich natürlich, den kennt doch jeder!«
»Genau«, fuhr Horwitz fort, Max und David Fleischer. Freunde von mir, wenn ich das sagen darf. Ziemlich erfolgreich – und in Amerika auch ziemlich berühmt.«
Gebannt saßen die Besucher jetzt auf dem Sofa und blickten den Künstleragenten erwartungsvoll an. Die Sache hier fing an, interessant zu werden.
Horwitz lehnte sich wieder zurück. »Ja, die Fleischer-Brüder«, sagte er versonnen – und begann schließlich zu dozieren: »Die Ersten, wissen Sie, die mit solchen Zeichenfilmen überhaupt Erfolg hatten! Das war damals eine Revolution! Doch dann kam dieser Herr Disney aus Kalifornien, dann kam Steamboat Willie.« Horwitz sah wieder in die Runde: »Kennen Sie den wenigstens?«
»Natürlich! Micky Maus!«, erklärte Josh begeistert.
»Genau, diese Maus. Die brach buchstäblich alle Rekorde. Disney wird seitdem mit Preisen überhäuft und scheffelt die Dollars nur so. Und um die Fleischers ist es ein bisschen ruhiger geworden.«
Josh hing jetzt an den Lippen des Künstleragenten, die beiden anderen waren ebenfalls höchst interessiert, allein der Name Disney hatte sie fasziniert. Trotzdem sah man ihnen an, dass sie nicht recht wussten, was dies alles nun mit ihnen selbst zu tun haben sollte.
»Also, um es kurz zu machen, ich bin im Kontakt mit den Fleischers«, erklärte Horwitz jetzt. »Wir möchten in Deutschland dasselbe machen: Animation, Zeichenfilme mit Ton und schöner Musik. In einem ganz kleinen Rahmen natürlich, erst einmal! Aber das kommt an bei den Leuten, das mögen alle!« Er unterbrach sich und sah seine Besucher an: »Es muss jetzt alles schnell gehen! Sie glauben ja gar nicht, wie viele Leute schon auf diesem Sofa gesessen haben! Aber ich habe immer noch keine Mitarbeiter!« In einer Art plötzlicher Hektik fuchtelte Horwitz mit den Armen. »Man sollte doch denken, dass es in diesen Zeiten kein Problem ist, gute Leute für gutes Geld zu finden! Aber die Realität sah bislang leider anders aus, na, wie auch immer ...«
»Jetzt sind wir ja hier«, unterbrach Arthur ihn, ein bisschen großspurig, trotzdem blickte Horwitz ihn dankbar an. Dann sah er wieder geschäftig in die Papiere auf seinem Schreibtisch. »Herr Hinrichsen«, wandte er sich an Arthur, »wir haben hier einen Dachs, ein Schwein und eine Gans, verstehen Sie?«
»Ja«, sagte Arthur zögernd.
»Gut, die Stimme vom Dachs haben wir ja nun schon gehört. Ihre Eigene. Schön tief. Was meinen Sie, wie spricht eine Gans?«
Verdutzt blickte Arthur den Agenten einen Moment an. »Ich glaube, sie spricht so«, erklärte er dann und hielt sich dabei die Nase zu.
Überrascht sah Horwitz auf. »Ja, das ist gut. Sagen Sie das noch mal.«
Wieder hielt Arthur sich die Nase zu: »Ich glaube, sie spricht ganz genau so und kein bisschen anders.«
»Sehr gut. Und das Schwein?«
Arthur überlegte einen Moment und schlug eine hohe, naseweise Kinderstimme an: »Also wissen Sie, das ist ja eine komische Frage! Wie soll denn ein Schwein bitte anders sprechen als so?«
Sie sahen gebannt auf Horwitz, der jedoch schien sich zu amüsieren: »Genau, genau«, erklärte er, »so machen wir es. Das wird zumindest erst mal reichen. Später hole ich mir vielleicht noch eine Frau, die das Schwein spricht. Oder ein Kind. Aber für den Moment ist das ganz prima.«
Arthur nickte erleichtert, auch den beiden anderen fiel ein Stein vom Herzen.
Kommentarlos blätterte der Künstleragent weiter in seinen Papieren.
»Robert Mahlow?«, er wandte sich an Robert, der sich jetzt straffte und aufsah: »Ja! Das bin ich!«
»Städtisches Konservatorium für Musik? Klavier und Komposition?«
»Nein, nicht mehr.«
»So?« Horwitz sah fragend auf und blickte wieder in seine Papiere.
»Das heißt, ich studiere natürlich noch dort, aber das Konservatorium wurde gerade umbenannt.«
»Aha? Und wie heißt es jetzt?«
»Konservatorium der Reichshauptstadt Berlin.«
Der Agent wischte das ungeduldig weg: »Welches Semester?«
»Viertes. Aber jetzt will ich unterbrechen und erst einmal ein bisschen Geld verdienen.«
»Gut, kommen Sie mal ans Klavier.«
Robert stand also auf und ging an die gegenüberliegende Wand, schlug den Klavierdeckel auf und sah Horwitz unsicher an: »Es gibt keinen Stuhl.«
»Ach so.« Der Künstleragent erhob sich schwer, schob seinen Stuhl zu Robert und blieb neben dem Klavier stehen. »Dann spielen Sie jetzt mal Wind.«
Robert ließ die Finger über die Tasten sausen, auf und ab, in schneller Folge.
»Gut. Und jetzt Traurigkeit.«
Robert überlegte. Er spielte eine Tonleiter in Dur herunter und begann ein paar Töne aus dem Adagio von Brahms´ erstem Klavierkonzert, aber Horwitz unterbrach ihn bereits wieder: »Gut, ja, das müsste irgendwie hinhauen, vielen Dank, nehmen Sie wieder Platz.«
Der Künstleragent dozierte im Stehen weiter: »Herr Weismann«, er ging zurück zu seinem Schreibtisch, hob wieder das Papier mit den Zeichnungen hoch. »Wie gesagt, das ist gut. Aber Sie müssen dabei eben auch schnell sein.«
»Wie schnell?«, fragte Josh.
»Tja, also bei Disney gab es mal einen Kerl, der Ub Iwerks heißt, komischer Name, was? Jedenfalls, von dem wird erzählt, dass er mehr als 600 Zeichnungen am Tag schafft.«
Josh sah erschrocken auf. »Wie soll das denn gehen? Also, so schnell bin ich auf keinen Fall«, erklärte er. Fasste sich aber und fügte hinzu: »Jedenfalls noch nicht.«
»Keine Angst, wir machen Ihnen die Arbeit leicht. Wir bekommen ein Rotoskop, das haben die Fleischers erfunden. Vereinfacht die Sache ganz ungemein, na, Sie werden ja sehen. Ihre Zeichnungen sind jedenfalls gut. Das Beste zumindest, was mir hier an Bewerbungskram so auf den Schreibtisch gelegt wurde.«
Josh dankte schüchtern und hielt dabei verlegen seinen Hut auf dem Schoß.
Doch Horwitz fixierte ihn jetzt: »Aber wissen Sie, Zeichenfilme sind recht aufwendig, alles dauert seine Zeit. Ich muss Ihnen deshalb die Frage stellen: Tragen Sie sich mit dem Gedanken, Deutschland zu verlassen?«
Josh schwieg einen Moment und sah zu Boden. »Wir haben darüber bereits nachgedacht«, erklärte er dann ehrlich.
»Und?« Der Agent sah ihn gespannt an.
»Wir haben uns vorerst dagegen entschieden.«
»So? Glauben Sie, dass dieser Spuk in unserem Land bald wieder verschwindet?«
»Ja«, entgegnete Josh fest, »das glaube ich.« Und dann, verächtlich: »Diese Spinner werden sich nicht lange halten.«
Der Künstleragent nickte bedächtig: »Ihr Wort in Gottes Ohr, junger Mann«, erklärte er, »aber falls die Nazis nun doch länger an der Regierung bleiben ..., was dann?«
Josh sah ihm wieder offen ins Gesicht: »Um ehrlich zu sein – ich habe keine Ahnung! Wir haben das Thema in der Familie jedenfalls erstmal vertagt, bis nach den Olympischen Spielen im nächsten Jahr. Im Moment scheinen die sich etwas zurückzuhalten, weil die Welt auf Berlin blickt.«
Horwitz nickte. »Gut«, sagte er schließlich.
Es entstand ein fragendes Schweigen.
Der Künstleragent räusperte sich und erklärte: »40 Mark die Woche, für jeden. Morgen geht’s los, ausgezahlt wird wöchentlich, Vorschuss gibt es nicht.«
Wieder streiften sich die drei mit Blicken, wollten möglichst unbeteiligt wirken, denn das Angebot war gut, unverhofft gut.
»Ja ...«, Arthur nickte übertrieben nachdenklich, »das klingt akzeptabel, im Großen und Ganzen ...«
»Akzeptabel?« Horwitz, der sich den Stuhl wieder vor den Schreibtisch geschoben hatte und sich schwer auf den Sitz fallen ließ, donnerte seine Faust auf den Tisch. »Das ist nicht akzeptabel, das ist königlich! Kaiserlich!« Er funkelte die drei auf dem Sofa an: »Und ich gehe damit ein Risiko ein! Weil mir die Zeit davongaloppiert ist! Ich will jetzt keine neuen Menschen mehr hier auf diesem Sofa sehen! Ich setze auf Sie!« Der Künstleragent durchbohrte sie jetzt mit Blicken: »Und ich hoffe, dass die Sache gut geht! Wenn nicht, dann fliegen Sie ganz schnell wieder raus!«
Eingeschüchtert hielten die drei wieder ihre Hüte auf dem Schoß.
»Gut. Und wie geht’s jetzt weiter?«, fragte Robert schließlich.
»Wie es weitergeht?« Wieder funkelte der Künstleragent seine neuen Mitarbeiter an: »Morgen früh treten Sie hier an! Und dann geht es los! Pünktlich um neun, wenn ich bitten darf.«
Der beleibte Mann stand jetzt abrupt hinter seinem Schreibtisch auf, zeigte damit, dass die Audienz nun beendet wäre. Auch die drei erhoben sich also, schüttelten ihrem neuen Künstleragenten nacheinander die Hand, wurden von ihm schließlich zur Tür geleitet und stiegen die knarrende Holztreppe wieder hinab.
 
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