Der Dieb

Michele.S

Mitglied
Chisinau (UdSSR), 1983

Alexey musste sich beeilen. Schon hörte er den Wagen in der Einfahrt. Die Besitzer würden jeden Moment die Tür öffnen. Reich war seine Ausbeute nicht. Eine geschmacklose Uhr, eine Perlenkette und einige Ohrringe. Bargeld hatte er keines gefunden. Rasch sprang er aus dem Fenster des ersten Stockes und verstauchte sich glatt das Bein. Leicht humpelnd lief er durch die trostlosen Vororte Chisinaus. Es war der 6. Januar. Da es einige Wärmegrade hatte, war der Schnee halb geschmolzen und lag als unappetitlicher Matsch auf den Straßen. Seit Wochen war die Sonne nicht durch die Wolkendecke gedrungen. Alexey hatte ein Ziel. Den Hauptbahnhof. Von dort aus würde er nach Cahul, im Süden des Landes fahren, um dort die in den letzten Tagen gestohlenen Gegenstände zu verkaufen, gleichzeitig auch, um für eine Weile von der Bildfläche zu verschwinden.

Obwohl in der Sowjetunion offiziell jedem eine Arbeit garantiert wurde, war Alexey seit drei Jahren beschäftigungslos. Er hatte zwei Studiengänge, Physik und Ingenieurswesen, abgebrochen und konnte auch keine Ausbildung vorweisen. Nun war er 27 Jahre alt, hätte aber auch als 20 durchgehen können. Viele hatten ihm gesagt, er habe so ehrliche Augen. Darüber musste er, während er über den Bahnsteig schlenderte, herzlich lachen.

Er hockte sich auf eine Bank, zündete sich eine Zigarette an und lies seinen Blick umherschweifen. Eine Gruppe Jugendlicher saß auf dem Boden, einer spielte Gitarre, die anderen sangen dazu, irgendein melancholisches, russisches Volkslied. Eine alte Dame im Pelzmantel blickte die Gruppe misstrauisch an. Ein ungefähr zwanzigjähriges Mädchen fiel ihm auf, das ihm gegenüber auf einer Bank saß und leise in ein Taschentuch weinte. Obwohl sie etwas zu dürr war, gefiel sie Alexey ungemein gut. Er warf seine Zigarette auf den Boden und stellte sich vor dem Mädchen auf. "Hast du vielleicht Feuer?", fragte er sie, möglichst lässig.
Sie blickte ihn etwas misstrauisch aus ihren blauen Augen an, dann lächelte sie jedoch und reichte ihm wortlos ein Feuerzeug, das sie aus ihrer Manteltasche holte.
Alexey entzündete sich eine Zigarette und setzte sich zu ihr auf die Bank. Das Mädchen hatte aufgehört zu weinen , starrte konzentriert auf den Boden und tat so, als ob sie seine Anwesenheit nicht bemerkte.
Alexey blies Rauch aus seiner Nase und fragte: "Wie heißt du?"
"Marija", antwortete sie und erwiderte etwas spöttisch: "Und du?"
Alexey nannte ihr seinen Namen. Dann trat für ein paar Sekunden eine gespannte Stille ein.
"Warum hast du geweint?"
Marija starrte auf ihre Füße. "Geht dich das etwas an?", fragte sie, durchaus nicht unfreundlich.
"Nein, aber ich kann gut zuhören", sagte Alexey mit einem Lächeln.
Das Mädchen schien mit sich zu kämpfen. Schließlich sagte sie leise: "Ich werde nächste Woche heiraten"
"Wo liegt denn das Problem?", fragte er neugierig.
Marja lachte nervös. Einige Sekunden lang musterte sie ihn abschätzend, dann sagte sie: "Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn liebe"
Alexey schwieg einige Sekunden. Dann fragte er : "Warum heiratest du ihn dann?"
Marja sah ihm in die Augen: "Weil es das vernünftigste ist. Meine Eltern mögen Ihn sehr. Außerdem ist er Beamter, ich wäre versorgt."
Jetzt musste Alexey lachen: "Ich hätte nicht gedacht, dass heutzutage und gerade in unserem Land noch aus solchen Gründen geheiratet wird".
Marja schien in die Defensive geraten zu sein und fügte schnell hinzu: "Er sieht ja auch sehr gut aus. Er ist groß und hat schöne Augen"
"Mir hat man auch schon oft gesagt, ich hätte schöne Augen" antwortete Alexey frech.
"Tatsächlich?", fragte das Mädchen mit scherzhaft gespieltem Misstrauen. Beide lachten für einen Moment. Ihm viel auf, dass Marja den Blickkontakt mit ihm vermied und ihn nur hin und wieder heimlich und interessiert von der Seite betrachtete"
"Was machst du eigentlich beruflich?", fragte sie nun. Vor dieser Frage hatte Alexey sich gefürchtet. "Dies und das" antwortete er ausweichend. Darüber musste Marja wieder lachen.
Dabei waren ihre Augen so schön, das Alexey beinahe erschrak.
"Wann kommt dein Zug?" fragte er sie und fürchtete sich vor der Antwort.
"Eigentlich sollte er seit zehn Minuten da sein", antwortete Marja.
"Achso. Sowas Blödes", sagte Alexey schwach und seufzte tief. Bei dem Gedanken, dieses Mädchen nie mehr wieder zu sehen, stieg Verzweiflung in ihm auf. Diese Verzweiflung war es vielleicht, die ihn zu seiner nächsten Frage trieb.
"Hast du dich schon mal auf den ersten Blick in jemanden verliebt?"
Marja musterte ihn kritisch, indem sie die Augenbrauchen hob. "Nein, habe ich nicht", sagte sie bestimmt. "Man muss doch erst den Charakter von jemandem einschätzen können, bevor man sich in ihn verliebt. Liebe auf den ersten Blick ist mir immer oberflächlich erschienen. Man verliebt sich dabei ja nur aufgrund des Äußeren eine Person"
"Eben nicht", erwiderte Alexey ungewollt heftig. "Ich glaube, dass man in der Lage ist, manche Menschen sofort einzuschätzen. Mit einem Blick lernt man sie kennen und weiß, wie sie sind"
"Durch Zauberhand?", fragte Maria mit einem ironischen Lächeln.
"Wir reden aneinander vorbei", antwortete Alexey traurig.
Ein Zug fuhr ein und bremste mit kreischendem Geräusch. Die Gruppe Jugendlicher war schon gegangen.
"Hat mich gefreut, Alexey", sagte Marja und hielt ihm die Hand hin. "Ich muss los"
Tief traurig reichte er ihr seine Hand. "Marja..." setzte er an.
"Ja?" fragte sie freundlich.
"Frohe Weihnachten", beendete Alexey seinen Satz.

Er blieb noch eine halbe Stunde auf der Bank sitzen, an der selben Stelle, an der Marja gesessen hatte und rauchte währenddessen ein halbes Duzend Zigaretten. Es hatte wieder angefangen zu schneien.
 
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Matula

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Hallo Michele.S,

das ist eine hübsche, schlichte Geschichte. Leider verstehe ich nicht, wieso Du sie in der UdSSR vor vierzig Jahren angesiedelt hast. Vielleicht kannst Du das noch erklären.

Schöne Grüße,
Matula
 

Michele.S

Mitglied
Hi Matula

Danke fürs Lesen! Es ist so, dass ich Filme aus der Sowjetunion liebe und mich bei dieser Geschichte lose an einem sowjetischen Film der 80er habe inspirieren lassen. Die Handlung ist zwar anders, aber die Personen habe ich veruscht so zu übernhemen. Außerdem habe ich versucht, die besondere Atmosphäre des Films aufzufangen

Gruß
Michele
 

petrasmiles

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Lieber Michele,

ich finde die Geschichte auch sehr hübsch und eingängig.
Ein paar Tippfehler habe ich gesehen, aber vor allem scheint mir falsch zu sein, dass am 23.12. in Rußland jemand 'Frohe Weihnachten' wünscht. Nach dem orthodoxen Kalender ist Weihnachten am 7. Januar, aber ich habe gelesen, dass Weihnachten schon zum Neujahrsfest begangen wird, aber keinesfalls am 24.12.

Liebe Grüße
Petra
 

Michele.S

Mitglied
Hallo petra

Danke für den Hinweis! Du hast Recht! Das wusste ich nicht, ich werde es ändern. Danke fürs Lesen :)

Gruß
Michele
 



 
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