Der Dodo

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Matula

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Einige Wochen nach meiner Übersiedlung in die Wiener Währingerstraße musste ich feststellen, dass sich ein Dodo in meiner neuen Wohnung eingenistet, möglicherweise aber schon vor meinem Einzug dort Unterschlupf gefunden hatte. Die Wohnung war beinahe ein Jahr lang leer gestanden, was ihm zunächst gelegen gekommen, in der Folge aber, wie er mir später bestätigte, langweilig geworden war. Dodos sind gesellige Geschöpfe, die gern beachtet und unterhalten werden wollen. Ihre Vorliebe für tiefschürfende Gespräche, bei denen sie ihre Gedanken im langsamen Auf- und Abschreiten entwickeln, wird nur durch ihre Begeisterung für Sportsendungen übertroffen. Und wer einen Dodo wirklich glücklich machen will, beschafft sich eine alte Schreibmaschine und tippt ihm darauf vor. Das Geräusch erinnert ihn an da Aufpicken von Körnern und hat eine wohltuende Wirkung auf sein Zentralnervensystem.

Es heißt zwar und ist auch überall nachzulesen, dass der Dodo (Raphus cucullatus) im Laufe des 18. Jahrhunderts ausgestorben ist, doch darf daraus keinesfalls der Schluss gezogen werden, dass sämtliche Exemplare der Gattung untergegangen sind. "Ausgestorben" hat überhaupt und streng genommen keine andere Bedeutung, als dass schon über einen längeren Zeitraum kein Vertreter einer bestimmten Gattung von einem menschlichen Wesen wahrgenommen wurde - mit Ausnahme der Saurier vielleicht, die auf Grund ihrer enormen Ausmaße keine unbeobachtete Existenz führen könnten, sodass wir mit Fug und Recht und einiger Erleichterung behaupten dürfen, dass kein Exemplar dieser Spezies mehr unter uns ist. Von der Dronte, so der zoologische Familienname, aber wissen wir, dass sie nur wenig mehr als zwanzig Kilogramm wog und etwa die Größe eines Schwans erreichte. Weiters wissen wir, dass sie von Seefahrern des 16. und 17. Jahrhunderts in mehreren Exemplaren von den Inseln Mauritius und Rodriguez nach Europa gebracht wurde, zum Beispiel an den Hof Kaiser Rudolfs II im Jahre 1605, nach Amsterdam im Jahre 1626 und nach London im Jahre 1638. Es wäre also leichtfertig, den Dodo für ausgestorben zu erklären, da dieses Tier - und in dieser Hinsicht mag mein Bericht als beweisführend gelten - in wenigen, aber äußerst vitalen Exemplaren überlebt hat.

Ein Problem solcher vereinzelt und versprengt lebenden Individuen ist die Suche nach einem geeigneten Paarungspartner, weshalb man leider durchaus von einer Gefährdung der Gattung Raphidae sprechen muss. Dronten sind zwar mit Flughühnern und Tauben, nach anderer Auffassung mit Rallen und Kranichen weitschichtig verwandt, doch wäre einer Verbindung mit solchen, sollte sie gelingen, ein Fortbestand durch Nachkommenschaft keineswegs sicher. Mein Dodo, ein Männchen namens "Haimo" hatte diesbezügliche Versuche jedenfalls lange Zeit entschieden abgelehnt, obwohl ihn seine unfreiwillig keusche Lebensweise wenigstens zweimal pro Jahr in arge Bedrängnis brachte. Die üble Laune, das fortwährende Seufzen und Aufbrausen, die monomanische Beschäftigung mit seinem Geschlechtswerkzeug und die daraus resultierende Einseitigkeit unserer Unterhaltung, belasteten das Zusammenleben schwer, wovon später noch die Rede sein wird.

Natürlich stellt man nicht eines Tages plötzlich fest, dass man mit einem Dodo zusammenlebt. Es gibt Anzeichen und Hinweise, kleine verräterische Spuren und Beobachtungen, die sich allmählich zu einem Bild verdichten. In meinem Fall waren es hauptsächlich Geräusche, ein Schaben, Scharren und Kratzen, das man nachts aus Küche und Speisekammer hören konnte. Es war der unerklärliche Schwund an Nüssen, die ich in einer Schale für Gäste bereitzuhalten pflegte, aber auch das Auftauchen von kurzen dunkelbraunen Federn, das auf eine Mitbenützung meiner Räumlichkeiten durch irgendeinen Vogel schließen ließ. Eine laienhafte Auseinandersetzung mit dem Thema, die in der Lektüre eines Vogelkundebuches gipfelte, brachte keine Erhellung, und das Ornithologische Institut der Universität Wien, dem ich schließlich eine der Federn mit der Bitte um Klassifizierung vorlegte, ließ mich wissen, dass es sich um ein Kunstprodukt handeln müsse, da die Feder keiner lebenden Spezies zuzuordnen sei. Unter diesen Umständen entwickelte ich einen Plan, der Gewissheit bringen sollte. Ich bestrich eines Abends den Küchenboden mit Honig, so dick, dass selbst ein amerikanischer Truthahn darauf kleben geblieben wäre. Dann legte ich mich in der Speisekammer auf die Lauer. Kurz vor Mitternacht war ein Klatschen und Keifen zu hören. Ich stieß die Tür auf - und erstarrte. Mein Mitbewohner war heimgekehrt und hatte sich wieder einmal aus der Nussschale bedienen wollen. Jetzt saß er fest und versuchte, fadenziehend und tropfenschleudernd, die großen graugelben Beine vom Boden zu lösen. Er warf mir einen vernichtenden Blick aus dem rechten Auge zu, was mich umso mehr erschreckte, als das Weiß dieses Auges, anders als bei anderen Tieraugen, gut sichtbar war und dem Blick eine starke Ausdruckskraft verlieh. Fast bereute ich, den Vogel unbedingt gesehen haben zu wollen, denn er war von enormer Größe und Hässlichkeit.

"Würdest du das vielleicht wegmachen, anstatt mich so unverschämt anzuglotzen!" krächzte er und warf das linke Bein in die Luft. Ich zog die Hausschuhe aus und ging zum Spülbecken, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Auch er beobachtete mich misstrauisch. Später erzählte er mir, dass er drauf und dran war, mir einen Finger abzubeißen, wenn nicht ein Auge auszuhacken. Als ich das nasse Wischtuch auf den Boden klatschte, begann er zu zetern: "Pass doch auf ! Bin ich ein Schwimmvogel ? Was tust du denn da, was ist das für ein stinkendes Ding ? Wehe, wenn du mich anrührst !" Ich säuberte schweigend den Boden in konzentrischen Kreise, bis am Ende eine kleine Honiginsel übrig blieb, auf der der Vogel mit angezogenem Bein stand. "So, jetzt ist es soweit," sagte ich mit größtmöglicher Ruhe in der Stimme. "Ich werde jetzt deine Krallen reinigen." Er überließ mir zögernd seinen linken Fuß. "Weißt du eigentlich, dass ich ein Dodo bin?" - "Ah, dann kommst du also aus Neuseeland, " antwortete ich freundlich. "Madre mia, sie verwechselt mich mit einem Kiwi ! Heimtückisch und ungebildet !" - "Stell jetzt deinen Fuß aufs Trockene und heb' das rechte Bein !"befahl ich, seine Unhöflichkeit ignorierend. Er versuchte einen Ausfallschritt und verlor beinahe das Gleichgewicht. "Ich gehöre zu einer vom Aussterben bedrohten Gattung !" - "Ja, ja, wir sind alle vom Aussterben bedroht," beruhigte ich "gleich ist es überstanden." Während ich die Zehenzwischenräume seines rechten Fußes säuberte, wollte er wissen, weshalb es in meinem Haushalt keine Cola-Dosen und so selten Macadamia-Nüsse gab.

Nach der Reinigung des Vogels ging ich unter die Dusche, während er vor der Kabine auf und ab schritt und über ein Problem nachzudenken schien. "Nun, was überlegst du ?" - "Pass auf, du tropfst !" - "Also, wenn du mit Menschen leben willst, wirst du dich an Wasser gewöhnen müssen, wir benutzen es eigentlich dauernd." - "Wer redet denn von 'wollen' ! Nenn mir einen Platz auf diesem Planeten, wo ihr nicht seid ! Man muss mit euch leben, ob man will oder nicht. Du kannst dir offenbar gar nicht vorstellen, dass unsereiner lieber mit unsereiner leben möchte. Mon Dieu !" Er begann sich zu ereifern. "Wie eitel ihr doch seid ! Ihr meint, ein jeder müsste sich euch unterwerfen, weil ihr so klug, so mächtig oder Gott weiß was seid ! Kaum zweihunderttausend Jahre alt, aber schon die Weltenlenker ..." - "Könntest du bitte mit diesem Gekeife aufhören. Es ist lange nach Mitternacht, du wirst die Nachbarn wecken ! Außerdem habe ich dich weder eingeladen noch eingefangen. Es steht dir frei zu gehen und mit deinesgleichen zu leben." - "... und mit deinesgleichen zu leben," äffte er mich nach. "Was weißt du eigentlich von uns ? Nichts weißt du, keine Ahnung hast du ! Dass wir keine Heimat mehr haben, dass ihr uns gejagt, gemetzelt, gefressen und verschleppt, als überseeische Attraktionen zur Schau gestellt und nach einem elenden Leben mit Stroh und Leinen ausgestopft habt !" - "Ich muss diese kollektiven Anschuldigungen aufs entschiedenste zurückweisen !" erwiderte ich scharf. "Du stehst einem Menschen des einundzwanzigsten Jahrhundert gegenüber, der zum ersten Mal einem Dodo gegenüber steht. Du hast dich in meinen Haushalt eingeschlichen, stiehlst meine Nüsse und wahrscheinlich auch mein Obst, lässt überall deine Federn herumliegen - und neulich sogar einen abgebissenen Zehennagel !" - "Wie kleinlich du bist !", warf er ein. "Willst du mir vorhalten, dass ich meinen Körper pflege ! Wo ich erst gestern eines deiner ekelhaften langen Haare zwischen den Orangen gefunden habe !" - "Ich wollte damit nur sagen, dass du bemerkenswert viele Lebenszeichen von dir gibst, für einen ausgestorbenen Vogel." - "Ach, willst du mir jetzt meine Existenz absprechen ? Oder behaupten, dass ich ein Hochstapler bin ?!" - "Ich will schlafen gehen, das ist alles. Falls du noch Proviant für den Weg brauchst, bitte bediene dich." Gegen zwei Uhr morgens weckte mich ein Schaben an der Schlafzimmertür. Er saß mit verbissener Miene im Flur und fragte: "Kann ich bleiben ?" - Ich sagte: "Ja, aber sei leise."

Wer meint, man könne mit einem Dodo in Frieden leben, der irrt. Haimo behauptete, ein typischer Vertreter seiner Gattung zu sein - in Anbetracht der geringen Zahl von Exemplaren eine gewagte Aussage - , die es nun einmal liebe, laut und kontroversiell über die grundlegenden Dinge des Lebens zu debattieren. Als ich ihm erlaubte, meine Wohnung quasi als Nest zu benutzen, hatte ich an gemeinsame Fernsehabende, an Sonntagsausflüge und kleine Aufmerksamkeiten bei meiner Heimkehr aus dem Büro gedacht. Stattdessen wurde ich mit Fragen wie "Glaubst du an ein Sexualleben nach dem Tod ?" oder mit Vorwürfen der Art "Du hast schon wieder die Pistazien vergessen !" konfrontiert. Man wird verstehen, dass ich mich weder mit dem einen noch mit dem anderen Thema herumschlagen wollte, aber vollends überfordert war ich, wenn es um die Frage ging, ob die Raphidae das Fliegen hätten erlernen sollen. Es gilt als erwiesen, dass sie diese Fähigkeit vor langer Zeit besessen hatten, weil sie sonst nicht vom Festland auf die später angestammten Inseln gelangt wären. Aus unbekannten Gründen aber ging diese Fähigkeit verloren, was Haimo zu endlosen Betrachtungen anregte.

"Mein Großvater hat erzählt, dass es im vierzehnten Jahrhundert deswegen beinahe zu einem Bürgerkrieg gekommen wäre. Auf der einen Seite standen die 'Wolkenbeißer', angeführt von Romero El Rosso, dem Oberbefehlshaber. Er soll gesagt haben, dass er sich schäme, ein Laufvogel zu sein." - "Liegt das nicht alles schon sehr lange zurück ?" fragte ich gähnend, während ich in der Morgenzeitung blätterte. - "Mais pourquoi ? Il n'est jamais trop tard d'apprendre le vol !" - "Du sprichst schon wieder französisch, "ermahnte ich. - "Ja, damit du mir zuhörst !" - "Aber ich höre dir zu. Ich weiß nur nicht, wer die Wolkenbeißer waren." - "Das wollte ich gerade erklären. Also: die Wolkenbeißer wollten die allgemeine Flugpflicht, mit Flugunterricht ab dem ersten Lebensjahr einführen. Romero, der Rote, sagte: Ein Vogel, der nicht fliegt, ist den Wurm nicht wert, den er aus der Erde zieht. Du kannst dir die Empörung der anderen, der 'Bodenständigen' vorstellen ! Romero ist zwei Jahre später unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen." - "Das verstehe ich nicht," antwortete ich zerstreut "wie kann man sich schämen ein Laufvogel zu sein, wenn man ein Laufvogel ist ?" Haimo saß bei diesem Gespräch auf dem Küchentisch, den er gut zur Hälfte bedeckte, und stocherte aufgeregt in seinem Müsli herum. Jetzt hob er den Kopf und blickte über den Rand meiner Zeitung. "Die Frage ist berechtigt, mia cara, es sind die Flügel, die uns fortwährend daran erinnern, wer wir einmal waren und wieder sein könnten, vergleichbar mit euren Brustwarzen, die daran erinnern, dass ihr Kinder säugen sollt." - "Deine biologistische Sichtweise ist in Bezug auf Menschen völlig inadäquat !" erwiderte ich scharf. "Wir haben Verstand und müssen nicht blindlings der Natur gehorchen." - "Oh, oh, es scheint, ich habe dich an einem wunden Punkt getroffen, ma chère, wenn nun gar der Primat des Menschlichen vor dem Tierischen herhalten muss. Aber wo ist der Verstand, wenn du schon wieder die Pistazien vergessen hast !" Er vertiefte sich boshaft gackernd in sein Müsli.

Kaum hatte ich die ersten Zeilen eines Beitrags über die Zukunft unserer Lebensmittelindustrie gelesen, als sein Kopf wieder über dem Zeitungsrand erschien. "Ich glaube, Romero hat geahnt, was auf uns zukommen würde. Er war ein Mann von Weitsicht, nur leider kein Diplomat. Wir hätten trotzdem auf ihn hören sollen. Was meinst du ?" - Ich seufzte und faltete die Zeitung zusammen. "Es stört mich, dass du wichtige Fragen immer beim Frühstück erörtern willst, zwischen Haselnüssen und Haferflocken. Außerdem habe ich dich schon so oft gebeten, nicht auf dem Tisch zu sitzen. Wir haben Sessel !" - "Und ich habe dir schon so oft gesagt, dass sie zu schmal für mich sind. Ich verliere das Gleichgewicht," antwortete er pikiert. - "Ja, aber nur, wenn du schon vor dem Frühstück Cola getrunken hast !" - "Es wundert mich nicht, dass du allein lebst, wenn du jeden Mann von der Tischkante stößt ...". Er hüpfte wild um sich schlagend auf den Stuhl zu meiner Rechten. Eine Zeitlang war nur beleidigtes Knuspern zu hören, dann kam er auf das Problem seiner Vorfahren zurück. "Romero soll vor seinem Tod ein Geschwader auf die Spitze eines Felsens geführt und zum Fliegen gezwungen haben. Du kannst dir vorstellen, dass es etliche Tote und viele Verletzte gegeben hat. Mein Großvater vermutete, dass ihn die Witwen und nicht die 'Bodenständigen' in die Zuckermelasse geworfen haben." - "Warum hat man ihn Romero den Roten genannt ?" - "Wegen seiner Bürzelfedern, die von schreiendem Rot gewesen sein sollen."

Wir schwiegen eine Weile im Gedenken an den großen Heerführer, der leider kein Diplomat gewesen war. "Eigentlich glaube ich nicht, dass es funktioniert hätte. Wenn ich dich so ansehe, frage ich mich, wie diese bescheidenen Flügelchen diesen schweren Körper tragen sollten. Ihr hättet es wahrscheinlich nicht weiter gebracht als die Wachteln oder die Auerhähne. Ich glaube, Romero hat das einfach nicht wahrhaben wollen." - "Aber was redest du da !"keifte er. Wenn wir damals das Fliegen erlernt hätten, was selbstverständlich nicht innerhalb einer Generation geschehen wäre, würdest du mich heute in anderer Gestalt vor dir sehen und weniger respektlos daherreden. Ich hätte Flügel wie ein Kondor, die Augen eines Falken und die Kraft eines Lämmergeiers. Die Portugiesen und Franzosen und dieses ganze Freibeutergesindel, das sich in unserer Heimat mit seinen Hunden und Schweinen breitgemacht hat, hätte im wahrsten Sinn des Wortes das Nachsehen gehabt. Nicht einen von uns hätten sie gefangen nehmen können. Wir hätten aus der Luft auf sie geschissen und ihnen die Schädel wie die Frühstückseier eingepeckt !" Ich zog es vor, ihn nicht weiter aufzuregen, gab aber zu bedenken, dass wohl auch die 'Bodenständigen' triftige Gründe gegen das Fliegen gehabt haben dürften. "Du meinst Ramos, den Bauern ? Unseren Präsidenten ? Er soll gesagt haben, dass wir alles, was wir brauchen, zu unseren Füßen finden: Würmer, Schnecken, Nüsse und Fallobst. Du siehst also, wes Geistes Kind er war. Kein Weitblick, keine Visionen, kein Standesbewusstsein !" - "Aber vielleicht wollte er nur die vielen Opfer vermeiden, die das ganze Unternehmen gekostet hätte. Soweit ich weiß, kann man einen Evolutionsschritt nicht einfach beschließen. Das hat Darwin verboten. Man muss warten bis sich die Lebensbedingungen ändern und auf eine Mutation hoffen. Wenn ihr alle diesen Schritt gemacht hättet, ich meine, von jener Felsspitze ins Leere, wäre das nicht einem kollektiven Selbstmord gleichgekommen ? Ich glaube, ihr seid einfach nicht flugtauglich." Haimo starrte mich empört aus dem linken Auge an. "Und das, und das !" kreischte er plötzlich und spreizte seine Stummelflügel. Mit Flattern, Rudern und Lufttreten gelang es ihm, vom Sessel auf die Anrichte zu fliegen. Dort nahm er einen kurzen Anlauf - ich wollte ihn noch warnen -, tat einen beherzten Hopser und - stürzte über die Klippe, will heißen, auf den Küchenboden, wo er ächzend und wimmernd liegenblieb. Ein Bein musste geschient werden, ein Flügel in Mullbinden gewickelt. - Damit war dieses Thema abgeschlossen.

Haimo betonte zwar bei jeder Gelegenheit, dass er nicht unter Menschen leben wolle, sondern auf der Suche nach einem Dodo - präzise: nach einer Dodo - sei, welche er nach einer abenteuerlichen Schiffsreise aus Holland kommend, in Wien als Nachfahrin jener unfreiwilligen Emigranten aus dem 17. Jahrhundert zu finden hoffte. Dennoch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er die Vorteile, die ihm das Leben mit einem Menschen bot, mehr und mehr zu genießen begann. Natürlich gab es Tage, an denen er unleidlich war und mir allerlei Vorhaltungen machte, die Verköstigung beanstandete und über den Schlafplatz nörgelte, den ich ihm eingerichtet hatte. Er war dann überzeugt, schon viel zu viel Zeit in meinem Haus verbracht und den eigentlichen Zweck seines Aufenthalts aus den Augen verloren zu haben. Erst als es Frühjahr wurde und ich ihm von einem Stadtkanal in der Wiener Brigittenau erzählte, wo sich an den Ufern allerlei gefiederte Weiblichkeit tummelte, besserte sich seine Laune, wenngleich nun auch seine Selbstzweifel wuchsen.

"Du bist ziemlich erschrocken, als du mich zum ersten Mal gesehen hast, nicht wahr ?" - "Ja, das stimmt, einen wie dich hatte ich nicht erwartet." - "Du hättest wohl lieber einen gutaussehenden Pfau oder einen putzigen Nymphensittich auf deinem Küchenboden gehabt, oder einen gutgebauten Ara oder einen feurigen Kakadu ?" - "Nein, ich hatte schon vermutet, dass es ein großes braunes Federtier ist - oder die Krone eines Apachenhäuptlings ..." - " Jetzt ist nicht die Zeit zum Scherzen," unterbrach er mich streng, "du gibst also zu, dass du ziemlich erschrocken bist ?" - "Soll das ein Verhör werden ? Natürlich war ich erschrocken. Du hast ja nicht an der Haustür geläutet oder vorher angerufen. Gib mir die Seife herüber." Haimo saß auf einem Hocker neben der Badewanne und hatte diese unbequeme Sitzgelegenheit nur gewählt, um mich Auge in Auge nach unserer ersten Begegnung zu befragen. Er schnappte nach der Seife und spuckte sie mir in die Wanne.

"Angenommen, du hättest mich in einer Tierhandlung zusammen mit anderen Vögeln gesehen. Hättest du dich dann für mich entschieden?" Ich musste lachen. "Wohl kaum, denn ich hätte befürchtet, dass dein Futter mein Haushaltsbudget übersteigt." - "Das glaube ich nicht. Sag ehrlich, weshalb du nicht mich ausgewählt hättest." - "Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst ! Die Frage ist doch absurd. Welche Tierhandlung würde einen Dodo anbieten ?" - " 'Könnte', meine Liebe ... 'könnte' einen Dodo anbieten. Aber deine Wortwahl ist natürlich aufschlussreich. Du meinst, ein so hässlicher Vogel wäre unverkäuflich." - "Nein, das habe ich nicht gemeint, hör auf, mir solche Gedanken zu unterstellen. Bring mit lieber eine Marille aus der Küche und nimm dir auch eine, wenn du magst." - "Ich habe keinen Appetit, dieses Gespräch ist mir zu wichtig." Er stieg von einem Fuß auf den anderen, wie er es immer tat, wenn er aufgeregt war. Das schmatzende Geräusch, das er dabei auf dem Kunststoffbezug des Hockers erzeugte, nagte an meinen Nerven. "Ja, was willst du denn hören ?! Dass ich mir schon immer ein Haustier wie dich gewünscht hatte ? Mit einem riesigen Schnabel, einer Glatze und mausbraunen Federn ? Und dass ich also hocherfreut war, dich eines Nachts auf meinem Küchenboden zu finden ?" Er betrachtete mich mit einem schmerzlichen Blick aus seinem rechten Auge. "Aber es geht mir gar nicht um dich, ma chère, sondern um etwas Grundsätzliches, das mich seit Tagen beschäftigt. Ich frage mich, ob wir damals bessere Chancen gehabt hätten, wenn wir kleiner oder irgendwie ... niedlicher gewesen wären ...".

Mir dämmerte, dass es ein langer Abend werden würde. "Weißt du," sagte ich und begann mein Fingernägel zu bürsten "ich glaube, dass wir hier vor einer unlösbaren Frage stehen, denn erstens ist die Schönheit ein undurchsichtiges Ding, zweitens wissen wir nichts über den Schönheitssinn jener Seefahrer, die deine Vorfahren ausgerottet haben, und drittens besteht zwischen erstens und zweitens sicher kein Zusammenhang." - "Aber sag mir, welchen Vogel du schön findest !" - "Haimo, den Dodo von hinten, wenn er in die Küche geht und mir eine Marille bringt." - "Mais tu te moques de moi ! Oh, je me sens très seul !"- "Ich verstehe kein Wort, und das Wasser wird auch schon kalt." Während ich mich abtrocknete, versuchte ich dem Gespräch eine gütliche Wendung zu geben. "Schau, ich vermute, dass eure Größe und Wehrhaftigkeit eine Herausforderung für die Seeleute war. Ein Wellensittich ist kein Gegner, wenn du weißt, was ich meine. Sie haben sich gelangweilt, einfach nicht gewusst, womit sie sich beschäftigen sollen. Es war die Langeweile der Besatzer. Wahrscheinlich haben die Einheimischen sie gemieden. Also, was tun ? Weder Sturm noch See, weder Weiber noch eine Kneipe, nur diese komischen Vögel, die herumstolzieren, als ob ihnen die Insel gehörte. Zuerst schaut man ihnen zu, man lacht über sie und wirft Steine nach ihnen. Sie schauen zurück mit Augen, die etwas Menschliches haben. Ihr Blick sagt: wer seid ihr ? was wollt ihr? warum benehmt ihr euch so schlecht ? Solche Blicke kann man nicht dulden. Also muss man sehen, ob man die Viecher einfangen und ihnen die Hälse umdrehen kann. Mit ihren mächtigen Schnäbeln ist nicht zu spaßen, aber es funktioniert, wenn man sie hetzt und einander zutreibt. Das ist aufregender als den ganzen Tag Poker zu spielen. Das Pokern führt am Ende immer zu einer Prügelei, weil einem die Hitze den letzten Rest von Verstand aus dem Schädel brennt. Die dicken Vögel kreischen, wenn man sie fängt und geben im Sterben so ein komisches Kollern von sich ... und außerdem", ich betrachtete Haimos breitgewölbte Brust "ist ihr Fleisch so zart und saftig, dass es schon beim Braten ...". Ich musste mich unterbrechen, weil Haimo vom Hocker sprang und das Badezimmer verließ. Ich hörte nur noch das Rascheln des Strohkissens, das ich ihm angefertigt hatte. Fröstelnd wickelte ich mich in meinen Bademantel. Wir haben über das Thema nie wieder gesprochen.

Es kam eine Zeit, in der ich mir Sorgen um Haimo machte. Still und in sich gekehrt, ich möchte fast sahen "vergeistigt", saß er vor seinem Erbsengemüse - ein "drontischer" Mönch. Zunächst vermutete ich eine spirituelle Kontaktaufnahme mit den Vorfahren, dann eine melancholische Verstimmung. Man weiß ja leider sehr wenig über die seelische Entwicklung des Dodo, und wenn ich ihn nach dem Grund seiner Verdrossenheit frage, gab er nur ausweichende oder gereizte Antworten. Sicherheitshalber gestattete ich ihm, auf dem Küchentisch zu sitzen, weil ich Angst hatte, er könnte in seinem Zustand vom Sessel fallen.

Alles änderte sich im Frühsommer, als ich eines Abends vom Büro heimkehrte und schon beim Aufsperren der Tür ein triumphierendes Kreischen aus dem Wohnzimmer hörte. Mein erster Gedanke war, dass Haimo sich einen Freund eingeladen hatte, der zweite, dass er gegen einen Einbrecher kämpfte, denn im Vorzimmer verstreut lagen meine Hausschuhe, diverse Plastiktaschen und Wäscheklammern. Voll Angst stürzte ich ins Wohnzimmer, um meinem tapferen Vogel zu Hilfe zu kommen. Das Bild, das sich mir bot, war erschütternd: Haimo rannte schreiend und flügelschlagend wie besinnungslos im Kreis, hielt unvermittelt inne, sprang hoch, grätschte die Beine und begann von neuem im Kreis zu laufen. Ein Einbrecher war nicht anwesend, hätte den Raum aber auch nicht schlimmer verwüsten können. Sämtliche Pölster waren von der Sitzgarnitur gefegt, die Kabel der Stereoanlage herausgerissen, ein Trockenblumenstrauß zerbröselt und ein Vorhang, in den Haimo sich offenbar verheddert hatte, heruntergerissen. - "Soll das vielleicht ein Balztanz sein ?!" schrie ich. -"Natürlich, oder glaubst du, ich mache das zum Vergnügen !" schrie er zurück. "Warum gehst du nicht hinaus in den Park ?!" - "Bist du verrückt ? Damit mich alle sehen können ?" - Aber das ist doch der Sinn der Sache !" - "Gaffende Köter, die nichts kapieren, aber mitspielen wollen ? Glotzende Tauben und Krähen, die sich vor Lachen die Bäuche halten ?" - "Okay, sieh zu, dass das bald ein Ende hat. Ich werde inzwischen draußen aufräumen."

Nach einigen Minuten trottete er an mir vorüber in die Küche und begann Nüsse zu knacken, als wäre nichts gewesen. Noch ehe ich eine Frage stellen konnte, herrschte er mich an: "Lass mich in Ruhe ! Sag mir nur, ob ich gut war !" - "Also ich glaube schon," erwiderte ich zögernd. "Du hattest also den Eindruck, dass ich gesund, lendenstark und in der Brutpflege ein zuverlässiger Partner bin ?" - "Ja, freilich, freilich," beeilte ich mich zu versichern, "nächstes Mal solltest du unbedingt vor die Tür gehen. Der Sigmund Freud-Park vor der Votivkirche würde sich anbieten, aber auch der Arne Carlsson-Park, der etwas näher wäre. Es könnte sich herumsprechen, dass dort ein Dodo balzt und vielleicht erfährt es dann auch eine von deiner Sippe !" - "Schade, dass du nicht früher daheim warst. Du hast unsere Nationalhymne, das Ei-O-Ei, verpasst. Es gehört zum Standardrepertoire jedes Balztanzes. Ich kann es auch von hinten nach vorn singen. Es hat zweiundzwanzig Strophen !" - "Donnerwetter ! Ich höre schon deine weiblichen Fans kreischen. Du solltest jedenfalls öffentlich auftreten !" - "Also kreischende Weiber mag ich nicht. Die Meine stelle ich mir eher sehr sanft und sehr hübsch vor, très jolie et douce, la tendresse en personne ...". - "Ach, hast du vergessen, was du mir über eure Witwen erzählt hast ? Die, die den Roten Romero in die Zuckermelasse geworfen haben ? Es wäre vernünftig, in deiner Lage keine Ansprüche zu stellen und nicht auf ein Täubchen zu warten. Leicht möglich, dass nur mehr eine von deiner Sorte existiert. Zum Beispiel eine, die so stark schielt, dass sie auf alles hinhackt, was sie nicht auf Anhieb erkennt. Oder eine, die wie du Cola-Dosen stiehlt oder im Rausch der Sinne die Wohnung ihrer Gastgeberin verwüstet ... ". - "Sprich weiter," sagte er begann und genüsslich eine Orange zu tranchieren. - "Was soll ich noch sagen ? Ich will dich natürlich nicht entmutigen und mit ein bisschen Glück ... könnten nicht eventuell auch in England noch ein paar Dodos überlebt haben ?" - "Ja, erzähl mir von ihnen". - "Aber nur, wenn du mir nachher beim Aufräumen hilfst. Also lass mich nachdenken ... Da gibt es Lady Cecily, ein junges, unerfahrenes Ding, aber aus bestem Hause. Einer ihrer Vorfahren hat Queen Victoria vor einem zudringlichen Zwergpinscher gerettet und wurde zum Dank dafür in den Adelsstand erhoben. Ich glaube, es war Donald Earl of Dodoshire, aber vielleicht irre ich mich und es war Robin, also der Vater von Donald ... dann müsste die Queen noch jünger gewesen sein, was insofern nicht sehr wahrscheinlich ist, als sie dann wohl allein mit dem Pinscher fertiggeworden wäre ... andererseits heißt es, dass sie ausgesprochen kleinwüchsig war ... ". "Komm zur Sache !" mahnte Haimo ungeduldig. "Gut, gut, also Lady Cecily ist eine verwöhnte junge Dame, die auf einem Landgut in der Grafschaft Essex wohnt. Sie ist sehr einsam und würde am liebsten sofort losziehen, um sich einen Gemahl zu suchen. Leider aber wird sie von einer alten Tante, Lady Moira of Dodoshire, beaufsichtigt, die selbst, aus weltanschaulichen Gründen, wie sie sagt, ehelos geblieben ist. Cecily darf nur für ein bis zwei Stunden das Anwesen verlassen. Ihre Freiheit endet damit am Pförtnerhäuschen. Manchmal setzt sie sich auf ihren Spaziergängen unter einen Baum, eine Tamariske wahrscheinlich, und träumt von einem Jüngling, der aus der Fremde kommt und dessen Sitten durch die lange Reise auf Frachtern, Güterzügen und LKW-Anhängern gänzlich verkommen sind. Das ist insofern wichtig, als er andernfalls schnurstracks zur Tante laufen und um ihre Hand anhalten müsste. Der Tante Antwort wäre aber wohl ein unverbrüchliches Nein, ganz abgesehen davon, dass man Tanten, die aus weltanschaulichen Gründen ehelos geblieben sind, nicht mit sittenlosen Jünglingen allein lassen sollte. Der Jüngling also, der unbedingt Spanisch sprechen muss, weil Cecily einen Hauslehrer hatte, der ihr diese Sprache unterrichtete und in den sie ein bisschen verliebt war ...". - "Wahrscheinlich ein Galapagos Reiher," warf Haimo ein "rabenschwarz, aalglatt und lüstern wie ein Faun. Man kennt die Sorte ...". - "Ja, genau so einer, aber die Geschichte ist vorbei und von der Schwärmerei ist nur eine Vorliebe für das Spanische geblieben." - "Du weißt, dass ich sehr gut Portugiesisch spreche !" - "Ja richtig !" rief ich und tat, als würde mir dieser Umstand erst jetzt zu Bewusstsein kommen. "Das ist natürlich genau so gut wie Spanisch. Sie würde den Unterschied kaum bemerken. Aber lass mich weiter berichten: Cecily träumt also davon, dass ihr dieser Jüngling, anstatt zur Tante zu laufen, ohne Umschweife eine gemeinsame Flucht auf die Orkney Islands vorschlägt, die sie selbstverständlich aufs entschiedenste ablehnt. Glücklicherweise ist der Jüngling aber sittenlos genug, sich von solchen Widerständen nicht abschrecken zu lassen. Er macht ihr klar, dass seine Leidenschaft keinen Aufschub duldet und er des Nachts vor der Garage auf sie warten werde. Wie betäubt geht sie heim zu ihrer Tante ..." . - "Sie werden schätzungsweise ein halbes Jahr brauchen, um auf die Orkneys zu gelangen. Ist ihr das klar ?" warf Haimo ein. "Aber hast du nicht zugehört ? Die Überschrift lautet: Cecily's Traum ! Warum sollten sich die beiden Letzten ihrer Art mit einem kräftezehrenden Fußmarsch aufhalten, wenn das Anwesen in nächtlicher Stille vor ihnen liegt und alles schläft ? Der Jüngling muss nur achtgeben, dass er mit dem Ei-O-Ei niemanden weckt ...". Haimo starrte mich mit dem linken Auge an, dann gluckste er zufrieden. "Eine schöne Geschichte. Erzähl mir noch eine." - "Jetzt nicht, nächstes Mal vielleicht, wenn du wieder in der gewissen Laune bist. Jetzt werden wir diesen Saustall in Ordnung bringen."

Ich habe nicht nur Saskia aus Utrecht erfunden, die hanfblonde Federn und ein Hinterteil wie ein Pferd hat, nicht nur Sissy, die bei Nußdorf an der Donau steht und vor lauter Liebeskummer ins Wasser gehen möchte (wäre da nicht eine leise Ahnung von einem ganz nahen Glück), sondern mir auch Cindy ausgedacht, eine selbstbewusste New Yorkerin (wie sie dahin gekommen ist ? na mit dem Dampfer !), die manchmal Gras raucht und sich mit Kormoranen einlässt. Haimo konnte sich für keine entscheiden. Er liebte sie alle und ließ mich immer neue Details aus dem Leben dieser einsamen Dodoweibchen erfinden. "Du solltest nicht Abend für Abend hier sitzen und meine Geschichten anhören," sagte ich. "Du musst hinaus ins Freie, dort, wo auch andere Vögel leben und sich versammeln. Ich schlage vor, dass wir an einem der nächsten Wochenenden an die Alte Donau fahren. Ich werde ein bisschen schwimmen und du kannst dir Unterhaltung suchen !"

Einige Wochen später war es soweit. Ich konnte im Badeanzug auf der Lagerwiese liegen, während Haimo mit frischgeputzten Federn am Ufer entlang wanderte. Eigentlich hatte ich ihn an einen weniger frequentierten Ort bringen wollen, musste aber zu meiner Überraschung feststellen, dass kaum jemand Notiz von ihm nahm. Nur einmal sagte ein vorwitziges Kind. "Schau Papa, da geht eine Frau mit einem Dodo !" Für den Fall einer Streifenkontrolle hatten wir vereinbart, dass Haimo sich totstellen sollte und ich behaupten würde, er sei ein Truthahn aus der Zucht meiner Großmutter, denn ich hatte keine Ahnung, ob beziehungsweise wie man einen Dodo in einem Fahrzeug transportieren darf. Aber auch diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als völlig überflüssig. Notwendig dagegen wäre es gewesen, Haimo mit dem Lesen einer Uhr vertraut zu machen, da es immer wieder vorkam, dass ich ihn nach Sonnenuntergang, fröstelnd und fluchend, an den Ufern der Alten Donau suchen musste. Dort lagerte dann allerlei Federvieh, ölte sich das Gefieder, schnatterte durcheinander und stöberte im Abfall der Ausflügler nach Essensresten. Haimo hatte dergleichen nicht nötig. Manchmal saß er schon auf der Kühlerhaube, wenn ich zu meinem Auto zurückkehrte und beklagte, sehr hungrig zu sein. "Hast du dich verlaufen, ma chère ?" - "Ich habe dich gesucht, steig jetzt ein, die Sonne ist schon am Untergehen !"

Als der Sommer zu Ende ging und Haimo immer noch am Freitag Abend meine Badetasche zu packen begann, schöpfte ich Verdacht. "Dir ist hoffentlich klar, dass ich morgen nicht an die Alte Donau fahren werde. Wir haben September, die Luft ist kühl und das Wasser kalt. Wir könnten ein bisschen in die Berge fahren." Er antwortete nicht, aber ich hatte den Eindruck, dass seine Nackenfedern ein wenig bebten. Vor dem Nachtmahl tauchte er wieder auf und meinte, dass ich an meine Abhärtung denken sollte. "Du wirst dir wieder diese verstopfte Nase holen. Que'est-ce que vous l'appelez ?" - "Schnupfen" - "Genau. Noch im Frühjahr hast du gesagt, dass du dich abhärten musst. Man kann auch im kalten Wasser schwimmen, und wenn es zugefroren ist, kann man ein Loch hineinhacken. Das wird dir guttun." Ich fasste ihn scharf ins Auge: "Okay, wer ist sie ?" - "Was meinst du ? Ich weiß gar nicht, was du meinst." Er begann gesenkten Hauptes im Zimmer auf und ab zu laufen. "Setz dich ! Du machst mich nervös. Ich will nur wissen, wer sie ist." - "Das geht dich gar nichts an ! Ach, wenn ich nur fliegen könnte und nicht auf dein dummes Auto angewiesen wäre ... oh je me sens très seul ...". Ich zog es vor, nicht weiter in ihn zu dringen und verzehrte schweigend meine Hühnersuppe. Am Ende beruhigte er sich doch und hüpfte auf den Sessel zu meiner Linken. "Sie heißt 'Elsa'." - "Ein Schwan ??" Er nickte tapfer. "Aber ich weiß nicht ... bist du sicher ?" - "N-e-i-n." Das kam unter Schlucken und Würgen, klang aber nach Trotz und Aufbegehren. "Also das überrascht mich jetzt schon. Wäre das nicht so, wie wenn ich mich beispielsweise mit einem Gorilla einließe, ein Thema, das nur in der Literatur vorkommt und auch nur symbolische Bedeutung hat ? Glaubst du nicht, dass es da unüberbrückbare Gegensätze gibt ? Sie lebt im Wasser, du auf dem Land, sie kann schwimmen, du nur herumlaufen. Verstehst du überhaupt, was sie sagt ?" - "Ich lerne ..." - "Und sie gefällt dir ?" - "Naja, sie ist ein Vogel, sie hat einen hübschen Hintern und ... Hör auf, mir solche Fragen zu stellen ! Noch im Frühjahr hast du gesagt, dass ich nicht wählerisch sein darf. Du kannst mich ja morgen früh zu ihr bringen und am Abend wieder abholen." - "Ich habe einmal gelesen, dass Schwäne monogam sind und in eheähnlichen Verhältnissen leben. Wo ist denn ihr Gemahl ?" - "Ertrunken" - "Und das glaubst du ?! Wie kann denn ein Schwan ertrinken ! Der Sache solltest du nachgehen. Du darfst auch nicht vergessen, dass sie eine Gans ist, Cygnus olor gehört zur Gattung der Gänse. Das weiß ich, seit ich mich mit deinen Federn beschäftigt habe." - "Widerlich bist du, wenn du so redest. Manchmal könnte ich dir ein Auge aushacken !" Er sprang auf den Tisch, wie um es auf der Stelle zu tun, begnügte sich aber mit seinem Erbsengemüse. "Also schön, Dodo, ich werde dich morgen zu deinem Schwanenmädchen bringen."

Der folgende Morgen versprach einen letzten Sommertag, aber weil für den Abend Gewitter angesagt waren, machten wir uns zeitig auf den Weg. Haimo hatte sich herausgeputzt. Er wirkte größer und breiter. Damit einher ging eine streitlustige Laune, die sich am Gebrauch eines einzigen Wortes entzündete. Ich hatte leichtfertig von "Amselmännchen" gesprochen, deren Gefieder von reinem Schwarz ist und deren Schnäbel in der Regel gelb oder in kräftigem Orange leuchten, wohingegen die weibliche Amsel ein eher mausbraunes Gefieder und einen hornfarben Schnabel, also einen Tarnanzug sozusagen, trägt. Damit wollte ich auf den Geschlechterdimorphismus aufmerksam machen, der innerhalb derselben Ordnung (Sperlingsvögel) stark variiert, wie man im Vergleich von Amseln und Krähen leicht feststellen kann. - Haimo ging es allerdings nicht um die Amseln, sondern um den Diminutiv. "Wie kommt ihr eigentlich dazu, uns Nichtmenschen im Deutschen als 'Männchen' und 'Weibchen' zu bezeichnen, selbst in euren Lehrbüchern ? Nicht nur die Jungtiere, sondern auch die Erwachsenen und die Alten, nicht nur die - im Verhältnis zu euch - Kleinen, nein, auch die, die euch um ein wesentliches überragen: das 'Nashornweibchen' oder das 'Giraffenmännchen'. Absurd ist das ! Neulich hat jemand gesagt, dass das "Seepferdchenmännchen' seinen Nachwuchs in einer Bauchtasche aufzieht ! Ich habe verstanden, dass ihr euch bemüht, niemanden durch eine Bezeichnung zu kränken, auch wenn er gar nicht da ist und protestieren kann. Bei uns aber macht ihr eine Ausnahme, uns darf man kleinreden, selbst wenn ein Tatzenschlag genügen würde, euch niederzustrecken ... " - "Bitte reg' dich doch nicht so auf. Das ist eine alte Sprachgewohnheit. Man könnte sie auch als Koseform interpretieren." - "No, no, no, ma chère, diese Worte machen uns in der Sprache zu Dingen: 'das Männchen', 'das Weibchen' wie 'das Tier'. Wenigstens von dir hätte ich mehr Gefühl erwartet. Sind denn nicht auch wir erwachsene Männer und Frauen, die das Leben weitergeben und damit unsere erste und einzige Aufgabe erfüllen, die uns die Natur auferlegt hat ?" - Ich zog es vor, nicht zu antworten, zum einen, weil die Frage rhetorisch war, zum anderen, weil weder er noch ich die "erste und einzige Aufgabe der Natur" erfüllt hatten, und zum dritten, weil man in einem weit gespannten Verständnis von politischer Korrektheit möglicherweise wirklich von einer Diskriminierung sprechen konnte.

Die Tatsache, dass er das letzte Wort behalten hatte, beflügelte ihn sichtlich. Er stolzierte davon und ließ mich auf der Lagerwiese mit meiner Badetasche und meinem Handtuch zurück. Ich las ein paar Seiten aus einem Buch, dann schlief ich ein. Zu irgendeinem Zeitpunkt weckte mich lautes Quaken, das empört und aufgeregt klang. Ich blickte mich um, konnte aber nur andere Badegäste auf ihren Luftmatratzen und in ihren Liegestühlen sehen. Gleich darauf schlief ich wieder ein. Diesmal träumte mir, dass ich an einem Herd stand und in einem Suppentopf rührte. Etwas Dunkles schwamm darin herum, tauchte immer wieder zwischen den Gemüsestückchen auf und verschwand wieder. Es war glitschig, sodass ich es nicht fassen konnte, ich wollte es aber unbedingt entfernen. Erst als ich den Kochlöffel stillhielt, tauchte es allmählich an die Oberfläche ... ein dunkles Auge, gesäumt von einem breiten weißen Ring. Schreiend vor Entsetzen wachte ich auf. Mein Blick fiel auf zwei braune Füße, die vor meiner Nase standen. "Oh, gut, dass Sie aufwachen," sagte der junge Mann, zu dem die Füße gehörten. "Sind Sie vielleicht Tierärztin ? Oder haben Sie ein Handy dabei ? Dort drüben zwischen den Büschen liegt ein verletzter Schwan. Ich glaube, er hat sich ein Bein gebrochen und mit dem Flügel scheint auch etwas nicht in Ordnung zu sein. Kommen Sie, ich zeig' es ihnen."

Auf dem Weg zu den Büschen fiel mir auf, dass kaum noch Badegäste anwesend waren. Außerdem dachte ich beiläufig, dass man im mittelalterlichen Wien über den Fund eines Schwans mit Blick auf den Sonntagsbraten wohl recht erfreut gewesen wäre. Aber ich war noch nicht ganz wach. Und dann sah ich Elsa, die flügelschlagend und um sich schnappend, verzweifelt aufzustehen versuchte. "Man kann das gar nicht mit anschauen," sagte der junge Mann "er muss starke Schmerzen haben." - "Sie," korrigierte ich "sie muss starke Schmerzen haben, es ist ein Weibch... , ein weiblicher Schwan." - "und woran erkennen Sie das ?" - "Am Nasenhöcker. Dieser ist kaum ausgeprägt, bei den männlichen Schwänen ist er größer und breiter." Während ich die Nummer der Tierrettung zu finden versuchte, kamen schon zwei Sanitäter gelaufen, die offenbar von dritter Seite alarmiert worden waren. Elsa wurde im Handumdrehen betäubt und auf eine kleine Bahre gehoben. Der junge Mann begleitete den Einsatz noch bis zum Rettungsfahrzeug, während ich mich in den Büschen auf die Suche nach dem zweiten Teilnehmer dieses "Verkehrsunfalls" machte. Ich dachte, dass er wahrscheinlich verstört und voll von Schuldgefühlen irgendwo hockte und sich nicht vor das Angesicht der Welt zu treten getraute. Ich lag falsch.

Als ich zu meinen Badesachen zurückkehrte, saß er auf dem Handtuch und knabberte an einem Brezel, das ich mir mitgebracht hatte. "Also du hast vielleicht Nerven," raunte ich ihm zu. "Elsa ist schwer verletzt, liegt jetzt vermutlich schon im Operationssaal und dann womöglich wochenlang im Gipsbett - und du futterst hier fröhlich vor dich hin." - "Du musst nicht flüstern, cara mia, wir sind schon allein. Alle sind heimgegangen. Möchtest du auch ein Stück ?" - "Nein, nachdem ich Elsa gesehen habe, ist mir der Appetit vergangen." - "Ach was, sie wird es schon überstehen. Wie hätte ich wissen können, dass sie so gebrechlich ist ? Ich glaube, sie hat mich, was ihr Alter betrifft, hinters Licht geführt." - "Was heißt da 'gebrechlich' ! Unter deiner Last ist sie zusammengebrochen, unter der Last der vielen Cola-Dosen, die du in dich hineinschüttest !" - "Ja und ? Was wirfst du mir vor ? Sie hätte nein sagen können, aber sie war eben eine Gans, genau, wie du gesagt hast." - "Also du hättest wenigstens bei ihr bleiben können, wo du doch sehen musstest, wie verletzt sie ist ! Morgen werden wir in der Tierklinik anrufen und später werden wir sie besuchen." Da er es vorzog, nicht mehr zu antworten, sondern beleidigt zu sein, packte ich zusammen und wir fuhren schweigend nach Hause.

In der Tierklinik zeigte man sich irritiert, als ich nach einem verletzten Schwan fragte. Ja, ein solcher sei vor mehreren Tagen eingeliefert worden. Ob ich für die Verletzung des Tieres verantwortlich oder ursächlich gewesen sei ? Wenn nein, warum mich das Schicksal des Tieres so sehr beschäftige ? Es sei rekonvaleszent und werde demnächst in den Schönbrunner Tiergarten übersiedelt, wo es die Wintermonate verbringen werde. Nein, ein Besuch sei nicht möglich, weil das Quartier für die Öffentlichkeit nicht zugänglich sei. - Damit betrachtete ich die Sache als erledigt. Auch Haimo schien sie nicht mehr zu interessieren.

Bald nach Weihnachten kam er mit der Idee, dass wir verreisen sollten. Das Ziel war ihm zunächst weniger wichtig, aber es sollte "ein südliches Land" sein. Er fühle sich eingesperrt, eigentlich "eingemauert", wie er es theatralisch bezeichnete. Er vermisse seinesgleichen oder doch wenigstens geflügelte Verwandtschaft. Ich nötige ihn zu einer "freudlosen Existenz". Wer etwas auf sich halte, verbringe die scheußlich kalten Monate nicht im Norden, sondern gehe auf Reisen, wie man leicht an den Zugvögeln sehen könne. Ich erklärte ihm, dass meine Berufstätigkeit derzeit keinen Urlaub zulasse, dass diese aber wiederum für unsere Lebensgrundlage sorge und damit auch seine "freudlose Existenz" finanziere. Eine Weile ließ er dieses Argument gelten, aber je näher das Frühjahr heranrückte, desto unleidlicher wurde er. Er blieb tagelang auswärts, schlief in Parks, grüßte mich nicht beim Heimkommen, kam nur zur Federpflege nach Hause und stahl offenbar täglich mehrere Dosen Cola, vermutlich von unbeaufsichtigten Paletten. Als er dazu überging, den Schlafpolster, den ich für ihn angefertigt hatte, aufzuschlitzen und das eingenähte Stroh in der Wohnung zu verteilen, war ich mir sicher, dass wir die Hilfe eines Experten brauchten.

Ich hatte gelesen, dass es Tierärzte gab, die man auch zu Rate ziehen konnte, wenn ein Haustier ein ungehöriges Benehmen an den Tag legte oder seiner Rolle aus tieferliegenden seelischen Gründen nicht gerecht wurde. Als Beispiel war ein Hund angeführt, der es sich angewöhnt hatte, jungen Männern auf der Straße eindeutige Avancen zu machen, was seinem Herrchen, einem, wie es hieß, "hundertprozentigen Frauenverehrer" allerlei Scherereien eintrug. Nach einer Reihe von Sitzungen bei Dr. XY konnte das Tier immerhin soweit gebracht werden, dass es nur junge Männer, die keine Blue Jeans trugen, mit seiner Zuneigung bestürmte, womit das Problem zwar nicht beseitigt, aber doch deutlich entschärft worden war. Ich hatte wenig Hoffnung, einen Tierarzt zu finden, der Erfahrung in der Behandlung von Dodos besaß, weshalb ich auf gut Glück und einer Assoziation folgend, einen gewissen Dr. Sperber anrief, mein Anliegen in Kürze schilderte und einen Abendtermin für ein Erstgespräch vereinbarte. Haimo wollte er zu einem späteren Termin kennenlernen.

Als ich in seiner Praxis ankam, wartete er schon vor der Eingangstür und führte mich zunächst durch einen abgedunkelten Raum, in dem ich Käfige verschiedener Größe wahrnehmen konnte. "Meine Asylstation," erläuterte er, "zur Zeit belegt mit drei Meerschweinchen, zwei Zwergkaninchen, drei Katzen und fünf Hamstern." Da und dort war ein leises Rascheln von Stroh zu hören, als ob jemand gerade seine Schlafposition wechselte, in anderen Käfigen wurde noch geknuspert, in wieder anderen schon leise geschnarcht. Das Besprechungszimmer war nur wenig besser ausgeleuchtet und erinnerte mich an mein Wohnzimmer, nachdem Haimo dort seinen Balztanz aufgeführt hatte. "Entschuldigen Sie bitte die Unordnung," sagte Sperber. "gerade eben war ein Pudel mit einem ausgeprägten Hang zur Innenraumgestaltung hier. Es war interessant zu sehen, wie Anatol - das ist natürlich nicht sein richtiger Name, ich bin ja zur Verschwiegenheit verpflichtet - sofort unter allen Teppichen zu schnüffeln begann. Er versuchte, sie mit der Schnauze anzuheben und umzuschlagen, obwohl sie ihm natürlich zu schwer waren. Haben Sie so etwas schon einmal beobachtet ?" Ich verneinte und meinte, dass dem Hund wohl langweilig gewesen war. "Gut möglich," bestätigt Sperber "wir kennen das ja auch aus der menschlichen Psychologie: Vandalismus auf Grund von Langeweile. Was tun Sie, wenn Ihnen langweilig ist ?" - "Das ist seit beinahe eineinhalb Jahren nicht mehr der Fall gewesen. Der Vogel, der bei mir eingezogen ist, hält mich ziemlich in Atem." - "Ach ja, Sie haben ihn erwähnt, so ein ausgefallenes Tier." - "Ja, ein Dodo, ein Raphus cucullatus ! Bis vor einigen Wochen haben wir uns gut vertragen. Er ist zwar ziemlich redselig, was mich manchmal nach der Arbeit ein bisschen ermüdet, aber andererseits hat er doch viel Leben in meinen Alltag gebracht. Als Single neigt man ja dazu, immer dieselben Dinge zu tun und zu denken ... ". Ich stockte, weil mir plötzlich die Intimität des Gesagten bewusst wurde. "Woher wissen Sie, dass es ein Dodo ist ?" Die Frage brachte mich noch mehr aus dem Konzept. "Er hat es selbst gesagt und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln. Es gibt ja Abbildungen, alte Stiche und Colorationen aus dem siebzehnten Jahrhundert, zum Beispiel eine indische Miniatur, die man in Leningrad gefunden hat. Er ist mit Sicherheit ein Dodo, auch wenn ihn das Ornithologische Institut ...". - "Also gut, lassen Sie uns annehmen, dass er tatsächlich ein Dodo ist. Leben Sie schon lange allein ?" - "Ich verstehe die Frage nicht. Es geht hier nicht um mich, sondern um mein Haustier." Dr. Sperber gab ein beschwichtigendes Murmeln von sich und verschränkte die Arme über der Brust. "Ja sicher, ich möchte mir nur ein Bild machen können. Ein Haustier kann man nicht isoliert betrachten. Es ist, wie der Name sagt, Teil eines Haushalts, also muss man sein Verhalten im Kontext betrachten. Das ist für die Exploration ganz wichtig. Haben Sie schon andere Haustiere gehalten, etwas weniger Ausgefallenes vielleicht ?" Ich verneinte. "Und wie würden Sie Ihre Beziehung zu Tieren im allgemeinen beschreiben ?" - "Ich weiß nicht, schwer zu sagen ... eigentlich wundere ich mich immer, dass es sie gibt, aber das gilt auch für Pflanzen. Ich finde es merkwürdig, dass ein Planet soviel und so unterschiedliches Leben trägt und damit im Sonnensystem so allein dasteht." - "Und Sie haben nie daran gedacht, einen Hund oder eine Katze ins Haus zu nehmen ?" - "Nein, zu keinem Zeitpunkt." - "Sollten Sie aber ! Haustiere sind gerade für alleinstehende Menschen sehr wichtig !" - "Herr Doktor, Sie vergessen, dass ich diesen Dodo daheim habe." - "Ja, ja, na schmeißen Sie ihn raus. Sie haben ja selbst gesagt, dass er in letzter Zeit nur Probleme macht. Ich hätte einen roten Tigerkater abzugeben, ein ganz armes, aber sehr zutrauliches Tier. Er kam mit ein paar Kampfsportverletzungen hierher, ist aber wieder ganz gesund. Leider hat mir sein Herrchen einen falschen Namen und eine falsche Telefonnummer hinterlassen. Felix wäre sehr glücklich, wenn Sie ihn aufnehmen würden." Dr. Sperbers Körper schien über den Schreibtisch zu wachsen. "Aber wie stellen Sie sich das vor, Herr Doktor ? Ich hatte mit Haimo auch schöne Zeiten, zum Beispiel, wenn er mir beim Frühstück von seiner Reise über den Indischen Ozean erzählte, als blinder Passagier. Man hat das Schiff von oben bis unten durchsucht, weil immer alles mögliche aus der Küche gefehlt hat. Am Ende begann die Besatzung wieder an den Klabautermann zu glauben. Oder die Sache ..." - "Auch Felix hat schon viel erlebt, gnädige Frau," warf Sperber ein. "Er stammt zwar nur aus dem nördlichen Waldviertel und ist vielleicht nicht so weit gereist, aber er ist liebenswürdig und anspruchslos, ein richtiges Schoßtier." Dr. Sperbers Blick verfing sich in den Strickmaschen meines Pullovers.

"Ich kann das nicht tun," sagte ich nach einigem Nachdenken. "Er hatte im Sommer eine Freundin, aber die ist nun leider aus seinem Leben verschwunden." Dann erzählte ich von den Vorkommnissen an der Alten Donau. Sperber hörte mit wachsender Begeisterung zu. "Da sehen Sie es ! Es hat schon seine Gründe, wenn eine Spezies ausstirbt. Man muss nicht immer an eine Verschiebung klimatischer Bedingungen oder einen Meteoriteneinschlag denken. In manchen Fällen ist das fehlende soziale Verantwortungsbewusstsein gegenüber Artgenossen der springende Punkt !" - "Herr Doktor, ich wüsste wirklich nicht, wohin ich ihn geben könnte, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben ... ". - "Lassen Sie mich überlegen," er begann nachzudenken und der Schein der Schreibtischlampe ließ seinen gesenkten Scheitel in flammendem Rot aufgehen. "Ganz einfach: führen Sie ihn ins Burgenland an den Neusiedlersee. Dort wird er nicht auffallen und kann sich allein durchschlagen. Sie verbinden ihm den Schnabel, das heißt, das kann ich übernehmen, dann stecken wir ihn in einen Sack und legen ihn in den Kofferraum - und ab geht die Post !" - "Also, das muss ich mir noch überlegen, Herr Doktor," sagte ich zitternd und packte meinen Mantel und meine Handtasche. "Ja, aber bitte nicht zu lange - Felix ist nicht mehr der Jüngste ...".

Einige Tage später, als Haimo wieder spätabends grußlos an mir zu seinem Schlafplatz stapfen wollte, hielt ich ihn an und bat um eine Unterredung. Er saß bei dieser Gelegenheit auf dem Wohnzimmertisch, um nicht zu mir aufschauen zu müssen. "Was ich dich schon immer fragen wollte, ist: woher weißt du eigentlich, dass du ein Dodo bist ? Gibt es irgendwelche Beweise dafür ? - Vielleicht hast du nur Ähnlichkeit mit einem Dodo, bist aber eventuell eine Kreuzung zwischen einem Truthahn, einem Geier und einem Kakapo." - "Du bist ja völlig verrückt ! Was glaubst du, wie man die Nachkommen eines weiblichen und eines männlichen Dodo nennt ? Rate !" - "Ja und wenn sich deine Eltern geirrt haben ? Vielleicht auch schon deine Großeltern ? Ich war neulich bei einem Tierarzt, der hatte große Zweifel, dass du ein Dodo bist." - "Ach, hatte er ? Und was hattest du bei ihm zu suchen ?!" - "Ich wollte mir Hilfe holen, weil du so unausstehlich bist und außerdem einmal durchuntersucht werden solltest. Er würde dich gern kennenlernen. Du könntest ihm dann zeigen, dass du ein Dodo bist ...". - "Natürlich bin ich ein Dodo ! Das wird mir keiner absprechen ! Den Idioten will ich sehen, dem werd' ich es zeigen, dem hacke ich beide Augen aus. So ! und so ! und so !" Er begann mit dem Schnabel auf die Tischplatte einzuhauen. Da beschloss ich, den Dingen ihren Lauf zu lassen.

Eine Woche später hatten wir einen neuen Termin bei Dr. Sperber, diesmal an einem Freitag Nachmittag. "Und wo ist der Dodo ?" - "Hier !" antwortete ich und zeigte auf Haimo, der sich misstrauisch im Hintergrund hielt. "Ach ja, da ist ja der Vogel ! Bitte kommen Sie weiter." Wir gingen wieder an den Käfigen entlang, wo diesmal alles munter und neugierig war. Köpfe, Schnauzen, Schnäbel und Pfötchen zwängten sich durch die Gitterstäbe. Eines der Meerschweinchen pfiff uns sogar hinterher.
Diesmal mussten wir im Untersuchungsraum Platz nehmen, wo Haimo auf eine weißgepolsterte Liege gesetzt wurde, was ihm wenig behagte. Wider Erwarten protestierte er aber nicht, sondern hielt sich ganz still. "Und du behauptest also, ein Dodo zu sein ?" sagte Sperber und ging um die Liege herum, um Haimo von allen Seiten zu betrachten. "Hmm ... und wenn ich dir sage, dass du ein Schwindler bist ? Ein Aufschneider, der sich wichtig macht ? Ein Angeber, der ...". In diesem Moment versuchte Haimo ein letztes Mal seine Flügel zu spreizen und den Tierarzt einfach umzufliegen, aber der fing ihn mit starken Armen auf und hatte plötzlich ein weißes Klebeband zu Hand, das er blitzschnell um seinen Schnabel wickelte. Irgendwo tauchte dann auch plötzlich ein Sack aus grobem Leinen auf, in dem Haimo, immer noch flügelschlagend, verschwand. Noch während der Fahrt an den Neusiedlersee gab es ein mächtiges Poltern und Scharren im Kofferraum, das allerdings immer leiser wurde.

Nach etwa einer Stunde standen wir am Ufer. Dr. Sperber holte den Sack aus dem Wagen und hielt ihn hoch. "Nun ? Hast du dich beruhigt ? Oder bist du gar nicht mehr da ? Wir wollen gleich nachsehen, ob da noch ein Dodo drin ist !" Er machte mit der anderen Hand ein paar kreisende Bewegungen, wie es Zauberer tun, wenn sie ein Kaninchen aus dem Zylinder holen, und der Sack fiel vor meinen Augen in sich zusammen. - Bis heute geht mir vieles durch des Kopf, wenn ich an diese Szene denke. Meistens tröste ich mich mit dem Gedanken, dass Haimo sich befreien konnte, früher ausgestiegen ist und Elsa am Ufer des Neusiedlersees wiedergefunden hat.

Ende













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Matula, ich freue mich, dass du immer noch in der Währingerstraße wohnst.
Von dem Dodo erfahre ich erst jetzt und hoffentlich darf ich ihn kennenlernen, wenn ich mir im Sommer beim Fuhrgasslhuber die Birne wegknalle.
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Matula

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Guten Abend, Hans Beislschmidt !
Ich freue mich, dass Dich der Text irgendwie angesprochen hat. Die Fortsetzung folgt morgen - dann hoffentlich ohne Tippfehler !
Alles Gute inzwischen,
Matula
 

Matula

Mitglied
Ja, er saß eines Morgens auf der Türschwelle und wollte Cashew-Kerne. Die Sache mit dem Honig und dem Küchenboden hab' ich mir nur ausgedacht .
Schöne Grüße aus Wien,
Matula
 



 
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