Der Doppelspiegel

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Der Doppelspiegel
Der Sonntag ist langweilig.
Pieter wohnt seit knapp einer Woche in diesem Haus südlich von London. Er hat es gemietet, weil er in der nahe gelegenen Stadt das Testat für ein Unternehmen erstellen muss.
Pieter ist Steuerberater für eine große Kanzlei in Amsterdam. Er verdient sein Geld mit Auftragsarbeiten bei externen Kunden der Kanzlei.
Der Verdienst ist gut, mehr noch, Pieter verdient einen Haufen Geld mit seinen Beratungen. Er kann sehr zufrieden sein mit seinem Einkommen.
Leider kommt Gabriele, seine Frau, an diesem Wochenende nicht zu ihm. Gabi ist Rechtsanwältin. Sie hat am kommenden Montag einen Termin, auf den sie sich noch vorbereiten will.
Pieter und Gabi sind Dinkies: double income – no kids. Das ist schön fürs Einkommen, aber schade für das Familienleben.
„Ein oder zwei Kinder würden unser Leben doch sehr bereichern“, denkt er. Na, mal sehen; sie sind ja noch jung, noch keine Dreißig.
Jedenfalls sitzt er jetzt in diesem Haus, an einem Sonntag, und ist er allein.
Den örtlichen Pub hat er gestern schon besucht. Zwei Bierchen haben ihren Weg gefunden. Dazu kam ein kleiner Plausch mit den Thekennachbarn - alles im grünen Bereich.

Aber jetzt hat er Langeweile.
Er hat sich einen Cognac eingeschenkt und betrachtet die Tür.
Diese Tür hat es ihm angetan. Schon am ersten Abend war er versucht, sie zu öffnen und dahinter zu schauen.
Ein unerklärliches Gefühl hat ihn davon abgehalten.
Er hat es nicht fertiggebracht; nicht am ersten Tag, und nicht an den folgenden.
Pieter hat die Durchgangstür von Wohnzimmer zum Flur, in dem sich diese ominöse Tür befindet, offen gelassen. Vom Esstisch aus betrachtet er minutenlang das Objekt seiner Neugier.
Er schenkt sich einen zweiten Cognac ein. Langsam lässt er das weiche Feuerwasser seine Kehle herunterfließen. Dann verschließt er die Flasche sorgfältig und stellt diese zurück auf die Anrichte.
Bedächtig, und sehr konzentriert, steht er nun auf und geht auf die Korridortür zu.
Die altmodisch erscheinende, geschwungene Klinke ist aus einem einfachen Material gefertigt. Er legt seine Hand auf die Klinke. Leicht gibt diese nach und öffnet einen Blick auf eine Holztreppe, die einen Gang hinunter führt. Dahinter ist es dunkel, stockdunkel.
Pieter erinnert sich an die Taschenlampe auf dem Sims im Wohnzimmer.
Mit der Lampe bewaffnet kehrt er zur Korridortür zurück.
Der Strahl zeigt ihm eine hölzerne Treppe, die etwa zehn Stufen abwärts führt.
Vorsichtig setzt Pieter einen Fuß vor den anderen und geht die Treppe hinab.
Das Holzgeländer fühlt sich fest an. Kein Wackeln könnte ihm Furcht einflößen.
Er betrachtet seine rechte Hand. Zu seiner Verwunderung stellt er fest, dass sich kein Staub daran befindet. Das Geländer ist sauber, beinahe schon rein, wie in einer Fernsehwerbesendung.
Pieter wundert sich kaum über diese Sauberkeit, und dieser Umstand wiederum verwundert ihn kurz. Er hält auf der dritten Stufe inne und überlegt.
Sein Kopf trifft die Entscheidung weiterzugehen. Oder trifft etwas anderes die Entscheidung? Er weiß es nicht. Er muss einfach weitergehen.
Nach einigen Schritten den Gang entlang fällt ihm auf der rechten Wand ein Holzkasten auf.
Warum nicht? Pieter greift entschlossen nach einem Riegel an der Vorderseite des Vierecks und öffnet den Verschlag. Dahinter erblickt er – sich.
Der Kasten bedeckt einen schönen, blankgeputzten Spiegel.
Interessiert betrachtet Pieter sich im Spiegel. Auf seinem Gesicht liegt ein seltsames, lächelndes Glühen. Ja, seine Augen glühen wie die Augen des Forschers im Film `Das Geheimnis der Mumie`, den er als Kind so gerne gesehen hat. Jetzt ist er der Forscher.
Er lächelt noch einmal, verstärkt, in den Spiegel hinein. Pieter, der Entdecker, hat einen geheimnisvollen Spiegel entdeckt.
Im Spiegelbild sieht er nun noch etwas. Auf der Gegenseite erblickt er einen weiteren Holzkasten.
Neugierig dreht er sich um und betrachtet das Objekt auf der Gegenseite. Dieser Kasten sieht aus wie ein Zwilling des anderen.
Ohne lange zu zögern öffnet er den zweiten Verschlag. Auch dahinter erscheint nun ein Spiegel.
Verblüfft blickt Pieter in das Gegenstück. Im Spiegelbild entdeckt er nun den ersten Spiegel. Dieser zeigt das Bild des zweiten Spiegels, dieser wieder das ersten, und so weiter.
Schließlich verjüngen sich die gegenseitigen Spiegelbilder in ein schwarzes Loch.
Ihm wird etwas schwindelig. Er stützt sich leicht gegen die Wand auf der linken Seite. Dabei schwingt eine Tür auf.
Er geht, sehr vorsichtig, auf die geöffnete Tür zu. Dahinter erblickt er einen schmalen Korridor, der vollständig mit einer glitzernden Folie ausgelegt ist.
Die Neugier überwältigt die natürliche Vorsicht. Pieter betritt den Seitengang.
Dabei beginnt der Boden zu leuchten. Seine Fußspuren erscheinen in funkelnden Umrissen auf dem weichen Boden.
„Das sieht aus wie ein LED-Teppich“, denkt er sich.
Pieter hat im Internet einmal ein Video mit einem LED-Teppich gesehen. Die Aufnahme hat ihn wieder und wieder begeistert. Auf seinem Laptop zuhause hat er das Video unter Favoriten abgespeichert und bestimmt ein dutzend Mal angesehen.
Mutig tritt er einige Schritte weiter in den Korridor hinein. Der Boden sprüht bei jedem Schritt in tausend Regenbogenfarben. Pieter springt nun auf und ab wie ein Kind. Der Boden antwortet mit Kaskaden von Licht in unzähligen Variationen.
Plötzlich erfasst ihn wieder dieses seltsame Gefühl. Ein Gefühl, oder eine Idee, oder eine Ahnung ?
Wie von einer unheimlichen Macht angezogen, geht er weiter diesen sonderbaren Gang entlang.
Alles um ihn herum ist hell erleuchtet. Pieter schaltet die Taschenlampe aus.
Er schaut sich um.
Die Wände funkeln und blitzen wie tausend Kaleidoskope. Der Boden, sein LED-Teppich, strahlt in pulsieren Farben. Seine Fußabdrücke scheinen zu tanzen.
Und Pieter strahlt vor Glück.

Er hat auf einmal die Vorstellung, dass er sich im Urlaub auf Sylt befindet.
Und er sieht Gabriele neben sich im Strandkorb. Sylt – ihre Hochzeitsreise! Das ist es, das ist die Erinnerung.
Neugierig, oder getrieben – egal - jedenfalls strebt er immer weiter in diesen Gang hinein.
Bilder aus seiner Kindheit steigen in ihm auf. Sein erstes Fahrrad, ein feuerrotes Kinderrad mit hochgezogenem Lenker erscheint in seinem Kopf.
„Ich und mein Chopper-Rad – einfach goldig“, denkt er.
Jetzt sieht er vor sich das Spielwarengeschäft, zu dem ihn seine Großmutter immer im Kinderwagen geschoben hat. Der Kinderwagen! Er sitzt nun darin und betrachtet mit großen Augen die Eisenbahnanlage im Schaufenster des Spielwarengeschäfts.
Es ist kalt. Wieso wird ihm kalt?
Er liegt auf einer Waage, auf einer Babywaage. Er wurde gerade geboren, und die Hebamme hat ihn auf eine Waage gelegt. Kalt ist es auf der Waage.
Natürlich, im Mutterleib war es viel wärmer.
„Sie sollten die Babywaagen vorwärmen, damit die Kinder nach der Geburt nicht so frieren“, denkt er.
Wieder erscheint dieses seltsame Lächeln auf seinem Gesicht.
Noch einen Schritt weiter, immer weiter will er gehen.
Jemand küsst ihn. Wieso? Das ist nicht er, das ist seine Mutter. Seine Mutter wird als junge Frau von seinem Vater geküsst.
Ihm dämmert, dass er jetzt wie seine Mutter fühlt. Aber wieso wie seine Mutter, und nicht wie sein Vater? Pieter ist doch ein Mann. Er müsste eher wie sein Vater als wie seine Mutter empfinden.
Chromosomen. Sind die weiblichen Chromosomen stärker als die männlichen, sodass er jetzt als Frau empfindet?
Wie war das noch mit der Chromosomenanzahl: weibliche Gene haben zwei X-Chromosomen; Männer haben ein X- und ein Y-Chromosom. Kann das die Ursache sein, dass seine weiblichen Empfindungen stärker sind?
Pieter hat keine Zeit, darüber nachzudenken.

Der Gang endet plötzlich.
Er steht vor zwei Türen. Eine Tür hat eine goldene Klinke. Sofort will er diese Klinke herunterdrücken. Gold, Gold; was kann hinter dieser Tür denn anderes sein als …
Er zögert. Ihn erfasst jetzt eine tiefe Furcht.
Die Tür ist schwarz gefärbt. Dunkel, schwarz, unergründlich scheint sie ihn anzugrinsen. Ja, sie grinst.
Und die zweite Tür? Sie ist weiß gefärbt.
Natürlich, denkt er sich. Das musste ja so kommen. Schwarz und weiß.
Neugierig betrachte er die Türklinke der zweiten Tür.
Diese Klinke ist aus einem feinen Holz gefertigt. Er schaut sich das Material genauer an. Kirschholz.
Kirsche ist sein Lieblingsholz. Alle wichtigen Möbel in ihrem Heim, zuhause, sind aus Kirschholz hergestellt. Pieter liebt Kirchholz.
Sein Blick geht zurück zur Tür mit dem Goldgriff.
Er beginnt zu schwitzen. Er kann sich nicht entscheiden, welche Tür er öffnen soll.
Langsam tritt er wieder einen Schritt zurück. Sein linker Fuß tritt auf etwas Knirschendes.
Er schaut auf den Boden und erblickt ein Skelett. Seltsamerweise erfüllt ihn dieser Anblick nicht mit Furcht.
Pieter geht in die Hocke und schaut sich das Skelett genau an.
Das war einmal ein Mensch. Der Mensch muss sich auf den Boden gesetzt haben, bevor er starb. Das Skelett sitzt in einer Position wie ein Wesen, das sich vor dem Tod hingesetzt hat. Da ist nichts von einem Fallen, Gestossenwerden oder von sonstigem Fremdeinwirken zu erkennen. Da saß einer und hat auf das Ende gewartet.
Pieter setzt sich dem Skelett gegenüber. Noch einmal schaut er auf die beiden Türen.
Whiteheads Bifurkation, das ist sein letzter Gedanke.
Dann schließt er die Augen …
 
Hallo Rhondaly,

eine schöne Geschichte, habe ich gerne gelesen.

Ein paar Anmerkungen habe ich trotzdem:
Die altmodisch erscheinende, geschwungene [red]Klinke[/red] ist aus einem einfachen Material gefertigt. Er legt seine Hand auf die [red]Klinke[/red].
Vorsicht Doppelung!

Er geht, sehr vorsichtig, auf die geöffnete Tür zu.
Für mich klingt dieser Satz mit den beiden Kommata und dem sehr etwas holprig.


Herliche Grüße
Drachenprinzessin

P.S.: Ich will ja nicht neugierig sein, mich würde allerdings schon interessieren, woher Sie die Inspiration für diese Geschichte genommen haben. :)
 
Der Doppelspiegel
Der Sonntag ist langweilig.
Pieter wohnt seit knapp einer Woche in diesem Haus südlich von London. Er hat es gemietet, weil er in der nahe gelegenen Stadt das Testat für ein Unternehmen erstellen muss.
Pieter ist Steuerberater für eine große Kanzlei in Amsterdam. Er verdient sein Geld mit Auftragsarbeiten bei externen Kunden der Kanzlei.
Der Verdienst ist gut, mehr noch, Pieter verdient einen Haufen Geld mit seinen Beratungen. Er kann sehr zufrieden sein mit seinem Einkommen.
Leider kommt Gabriele, seine Frau, an diesem Wochenende nicht zu ihm. Gabi ist Rechtsanwältin. Sie hat am kommenden Montag einen Termin, auf den sie sich noch vorbereiten will.
Pieter und Gabi sind Dinkies: double income – no kids. Das ist schön für die Haushaltskasse, aber schade für das Familienleben.
„Ein oder zwei Kinder würden unser Leben doch sehr bereichern“, denkt er. Na, mal sehen; sie sind ja noch jung, noch keine Dreißig.
Jedenfalls sitzt er jetzt in diesem Haus, an einem Sonntag, und ist er allein.
Den örtlichen Pub hat er gestern schon besucht. Zwei Bierchen haben ihren Weg gefunden. Dazu kam ein kleiner Plausch mit den Thekennachbarn - alles im grünen Bereich.

Aber jetzt hat er Langeweile.
Er hat sich einen Cognac eingeschenkt und betrachtet die Tür.
Diese Tür hat es ihm angetan. Schon am ersten Abend war er versucht, sie zu öffnen und dahinter zu schauen.
Ein unerklärliches Gefühl hat ihn davon abgehalten.
Er hat es nicht fertiggebracht; nicht am ersten Tag, und nicht an den folgenden.
Pieter hat die Durchgangstür von Wohnzimmer zum Flur, in dem sich diese ominöse Tür befindet, offen gelassen. Vom Esstisch aus betrachtet er minutenlang das Objekt seiner Neugier.
Er schenkt sich einen zweiten Cognac ein. Langsam lässt er das weiche Feuerwasser seine Kehle herunterfließen. Dann verschließt er die Flasche sorgfältig und stellt diese zurück auf die Anrichte.
Bedächtig, und sehr konzentriert, steht er nun auf und geht auf die Korridortür zu.
Die altmodisch erscheinende, geschwungene Klinke ist aus einem einfachen Material gefertigt. Er legt seine Hand auf den Türgriff. Leicht gibt dieser nach und öffnet einen Blick auf eine Holztreppe, die einen Gang hinunter führt. Dahinter ist es dunkel, stockduster.
Pieter erinnert sich an die Taschenlampe auf dem Sims im Wohnzimmer.
Mit der Lampe bewaffnet kehrt er zur Korridortür zurück.
Der Strahl zeigt ihm eine hölzerne Treppe, die etwa zehn Stufen abwärts führt.
Vorsichtig setzt Pieter einen Fuß vor den anderen und geht die Treppe hinab.
Das Holzgeländer fühlt sich fest an. Kein Wackeln könnte ihm Furcht einflößen.
Er betrachtet seine rechte Hand. Zu seiner Verwunderung stellt er fest, dass sich kein Staub daran befindet. Das Geländer ist sauber, beinahe schon rein, wie in einer Fernsehwerbesendung.
Pieter wundert sich kaum über diese Sauberkeit, und dieser Umstand wiederum verwundert ihn kurz. Er hält auf der dritten Stufe inne und überlegt.
Sein Kopf trifft die Entscheidung weiterzugehen. Oder trifft etwas anderes die Entscheidung? Er weiß es nicht. Er muss einfach weitergehen.
Nach einigen Schritten den Gang entlang fällt ihm auf der rechten Wand ein Holzkasten auf.
Warum nicht? Pieter greift entschlossen nach einem Riegel an der Vorderseite des Vierecks und öffnet den Verschlag. Dahinter erblickt er – sich.
Der Kasten bedeckt einen schönen, blankgeputzten Spiegel.
Interessiert betrachtet Pieter sich im Spiegel. Auf seinem Gesicht liegt ein seltsames, lächelndes Glühen. Ja, seine Augen glühen wie die Augen des Forschers im Film `Das Geheimnis der Mumie`, den er als Kind so gerne gesehen hat. Jetzt ist er der Forscher.
Er lächelt noch einmal, verstärkt, in den Spiegel hinein. Pieter, der Entdecker, hat einen geheimnisvollen Spiegel entdeckt.
Im Spiegelbild sieht er nun noch etwas. Auf der Gegenseite erblickt er einen weiteren Holzkasten.
Neugierig dreht er sich um und betrachtet das Objekt auf der Gegenseite. Dieser Kasten sieht aus wie ein Zwilling des anderen.
Ohne lange zu zögern öffnet er den zweiten Verschlag. Auch dahinter erscheint nun ein Spiegel.
Verblüfft blickt Pieter in das Gegenstück. Im Spiegelbild entdeckt er nun den ersten Spiegel. Dieser zeigt das Bild des zweiten Spiegels, dieser wieder das ersten, und so weiter.
Schließlich verjüngen sich die gegenseitigen Spiegelbilder in ein schwarzes Loch.
Ihm wird etwas schwindelig. Er stützt sich leicht gegen die Wand auf der linken Seite. Dabei schwingt eine Tür auf.
Er geht vorsichtig darauf zu. Dahinter erblickt er einen schmalen Korridor, der vollständig mit einer glitzernden Folie ausgelegt ist.
Die Neugier überwältigt die natürliche Vorsicht. Pieter betritt den Seitengang.
Dabei beginnt der Boden zu leuchten. Seine Fußspuren erscheinen in funkelnden Umrissen auf dem weichen Boden.
„Das sieht aus wie ein LED-Teppich“, denkt er sich.
Pieter hat im Internet einmal ein Video mit einem LED-Teppich gesehen. Die Aufnahme hat ihn wieder und wieder begeistert. Auf seinem Laptop zuhause hat er das Video unter Favoriten abgespeichert und bestimmt ein dutzend Mal angesehen.
Mutig tritt er einige Schritte weiter in den Korridor hinein. Der Boden sprüht bei jedem Schritt in tausend Regenbogenfarben. Pieter springt nun auf und ab wie ein Kind. Der Boden antwortet mit Kaskaden von Licht in unzähligen Variationen.
Plötzlich erfasst ihn wieder dieses seltsame Gefühl. Ein Gefühl, oder eine Idee, oder eine Ahnung ?
Wie von einer unheimlichen Macht angezogen, geht er weiter diesen sonderbaren Gang entlang.
Alles um ihn herum ist hell erleuchtet. Pieter schaltet die Taschenlampe aus.
Er schaut sich um.
Die Wände funkeln und blitzen wie tausend Kaleidoskope. Der Boden, sein LED-Teppich, strahlt in pulsieren Farben. Seine Fußabdrücke scheinen zu tanzen.
Und Pieter strahlt vor Glück.

Er hat auf einmal die Vorstellung, dass er sich im Urlaub auf Sylt befindet.
Und er sieht Gabriele neben sich im Strandkorb. Sylt – ihre Hochzeitsreise! Das ist es, das ist die Erinnerung.
Neugierig, oder getrieben – egal - jedenfalls strebt er immer weiter in diesen Gang hinein.
Bilder aus seiner Kindheit steigen in ihm auf. Sein erstes Fahrrad, ein feuerrotes Kinderrad mit hochgezogenem Lenker erscheint in seinem Kopf.
„Ich und mein Chopper-Rad – einfach goldig“, denkt er.
Jetzt sieht er vor sich das Spielwarengeschäft, zu dem ihn seine Großmutter immer im Kinderwagen geschoben hat. Der Kinderwagen! Er sitzt nun darin und betrachtet mit großen Augen die Eisenbahnanlage im Schaufenster des Spielwarengeschäfts.
Es ist kalt. Wieso wird ihm kalt?
Er liegt auf einer Waage, auf einer Babywaage. Er wurde gerade geboren, und die Hebamme hat ihn auf eine Waage gelegt. Kalt ist es auf der Waage.
Natürlich, im Mutterleib war es viel wärmer.
„Sie sollten die Babywaagen vorwärmen, damit die Kinder nach der Geburt nicht so frieren“, denkt er.
Wieder erscheint dieses seltsame Lächeln auf seinem Gesicht.
Noch einen Schritt weiter, immer weiter will er gehen.
Jemand küsst ihn. Wieso? Das ist nicht er, das ist seine Mutter. Seine Mutter wird als junge Frau von seinem Vater geküsst.
Ihm dämmert, dass er jetzt wie seine Mutter fühlt. Aber wieso wie seine Mutter, und nicht wie sein Vater? Pieter ist doch ein Mann. Er müsste eher wie sein Vater als wie seine Mutter empfinden.
Chromosomen. Sind die weiblichen Chromosomen stärker als die männlichen, sodass er jetzt als Frau empfindet?
Wie war das noch mit der Chromosomenanzahl: weibliche Gene haben zwei X-Chromosomen; Männer haben ein X- und ein Y-Chromosom. Kann das die Ursache sein, dass seine weiblichen Empfindungen stärker sind?
Pieter hat keine Zeit, darüber nachzudenken.

Der Gang endet plötzlich.
Er steht vor zwei Türen. Eine Tür hat eine goldene Klinke. Sofort will er diese Klinke herunterdrücken. Gold, Gold; was kann hinter dieser Tür denn anderes sein als …
Er zögert. Ihn erfasst jetzt eine tiefe Furcht.
Die Tür ist schwarz gefärbt. Dunkel, schwarz, unergründlich scheint sie ihn anzugrinsen. Ja, sie grinst.
Und die zweite Tür? Sie ist weiß gefärbt.
Natürlich, denkt er sich. Das musste ja so kommen. Schwarz und weiß.
Neugierig betrachte er die Türklinke der zweiten Tür.
Diese Klinke ist aus einem feinen Holz gefertigt. Er schaut sich das Material genauer an. Kirschholz.
Kirsche ist sein Lieblingsholz. Alle wichtigen Möbel in ihrem Heim, zuhause, sind aus Kirschholz hergestellt. Pieter liebt Kirchholz.
Sein Blick geht zurück zur Tür mit dem Goldgriff.
Er beginnt zu schwitzen. Er kann sich nicht entscheiden, welche Tür er öffnen soll.
Langsam tritt er wieder einen Schritt zurück. Sein linker Fuß tritt auf etwas Knirschendes.
Er schaut auf den Boden und erblickt ein Skelett. Seltsamerweise erfüllt ihn dieser Anblick nicht mit Furcht.
Pieter geht in die Hocke und schaut sich das Skelett genau an.
Das war einmal ein Mensch. Der Mensch muss sich auf den Boden gesetzt haben, bevor er starb. Das Skelett sitzt in einer Position wie ein Wesen, das sich vor dem Tod hingesetzt hat. Da ist nichts von einem Fallen, Gestossenwerden oder von sonstigem Fremdeinwirken zu erkennen. Da saß einer und hat auf das Ende gewartet.
Pieter setzt sich dem Skelett gegenüber. Noch einmal schaut er auf die beiden Türen.
Whiteheads Bifurkation, das ist sein letzter Gedanke.
Dann schließt er die Augen …
 
Hallo Drachenprinzessin,

ich freue mich über dein Interesse und deinen Kommentar.
Hier sind meine Antworten:

Die altmodisch erscheinende, geschwungene Klinke ist aus einem einfachen Material gefertigt. Er legt seine Hand auf die Klinke.
Vorsicht Doppelung!
Die Klinke-2 habe ich in Türgriff umgetauft.

Er geht, sehr vorsichtig, auf die geöffnete Tür zu.
Für mich klingt dieser Satz mit den beiden Kommata und dem sehr etwas holprig.
Du hast recht. Es klingt holprig. Ich habe den Ausdruck umgestellt.

P.S.: Ich will ja nicht neugierig sein, mich würde allerdings schon interessieren, woher Sie die Inspiration für diese Geschichte genommen haben.
Woher kam die Idee?
Ich lese zurzeit das Buch von Michio Kaku: `Die Physik der unsichtbaren Dimensionen`. Darin geht es um Hyperräume und andere phantastische Gedankenwelten.
Und während ich lese, denke ich mir: unsichtbar, das ist unheimlich. Wo kommt im Alltag Unheimliches vor? >Im Keller; hinter einer geheimnisvollen Tür; in einem fremden Haus.
Aus diesem Anfang habe ich dann den Faden zu dieser Geschichte gesponnen.

Der LED-Teppich:
Du kannst ihn dir auf youtube ansehen, wenn du möchtest. Hier ist der link:
http://www.youtube.com/watch?v=g6N9Qid8Tqs&feature=results_main&playnext=1&list=PLE3E7EE7489E2C989

Bifurkation
Der Begriff ist mir vor einiger Zeit, bei Capra (Das neue Denken), begegnet.
Beim Schreiben der Geschichte habe ich mich daran erinnert und auf Wikipedia noch einmal nachgeschaut.
Dabei bin ich auf Whitehead`s `Bifurkation der Natur` gestoßen. Darunter versteht Whitehead die Einteilung der Welt in die wahrnehmbare Realität und in einen nicht erreichbaren Bereich jenseits der Wahrnehmung.

Zwei Wirklichkeitssysteme, zwei Spiegel, zwei Türen - der Begriff `Bifurkation` passt genau in die Geschichte.
So ein Glück – und das Schreiben hat riesigen Spaß gemacht.
 



 
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