Wotawa
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Nach St. Michael war Schluss. Nichts ging mehr. Als vor einer Woche eines der Schneeräumfahrzeuge in den Abgrund gestürzt war – der Fahrer hatte sich mit Mühe durch einen Sprung ins weiße Nichts retten können, sperrten sie die Passstraße. Früher, vor der Klimaerwärmung, hatten sie das öfters tun müssen, doch die letzten zehn Jahre kam das kaum mehr vor. Erst heuer fiel der Schnee wieder in einem Ausmaß, an dem sich nur mehr die Ältesten erinnern konnten. Seit Anfang Dezember, zwanzig Tage also, fast ununterbrochen.
Ich parkte den Wagen an der Ausbuchtung der Straße. Erst jetzt sah ich das Schneemobil durch den dichten Flockenfall. Darauf Leni. Sie hatte Helm und Brille abgenommen und winkte mir. Ich schlüpfte in meinen Anorak, nahm den Rucksack und ging zu ihr. Wir umarmten uns, vielleicht eine Spur zu lange.
»Danke, dass du gekommen bist.« Ihr Atem machte kleine Nebelwölkchen.
»Ein anderes Wetter und ich hätte es noch lieber gemacht«, antwortete ich.
Sie zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen.
»Ich hoffe, es ist so wichtig, wie du am Telefon gesagt hast.«
»Wichtig? Nein, Peter, es ist mehr als wichtig. Es ist unvorstellbar. Eigentlich gar nicht möglich. Zumindest ich habe das in den neun Jahren, seit ich hier Wildhüterin bin, noch nie gesehen. Niemand hat das jemals gesehen.«
Sie hielt mir Helm und Brille hin, ich setzte das Zeug auf und mich selbst auf den Sozius des Schneemobils. Dann fuhr sie los.
Schon bald bog sie von der dicht verwehten Passstraße ab und in einen Forstweg, der nur zu erkennen war, weil sie ihn schon benutzt haben musste. Dennoch waren die Spuren bereits zur Hälfte verschneit. Leni holte alles aus dem Schneemobil heraus, und das war nicht wenig, aber dennoch plagte sich das Fahrzeug, um durch den erschlossenen Teil des Walds zu kommen. Zwei Kilometer dahinter lag der Brachwald, der seit fünfzehn Jahren nicht mehr genutzt wurde. Bewusst.
Anfang der 2010er Jahre hatten Umweltschutz- und Landwirtschaftsministerium ein Gebiet gesucht, um ein mehrere Jahrzehnte dauerndes Renaturierungsprojekt umzusetzen. Der Wald sollte sich selbst überlassen werden und sich in wieder einen typischen europäischen Urwald zurück verwandeln. Bei der Entscheidung, welches Gebiet dafür in Frage kommen könnte, spielte ich eine bescheidene Rolle. Ich war der damals der Biologe der Bundesforste. Wir suchten ein Jahr, dann empfahl ich ein unzugängliches und touristisch nie erschlossenes Waldgebiet, das im Süden direkt an die Steilwände der Nordalpen stieß, 3000 Hektar groß. An seinem Rand, wo man den Wald gerade noch erreichen hätte können, wuchs ein zehn Kilometer breiter und fünfhundert Meter tiefer Streifen Prâm – undurchdringliches Gestrüpp aus Weiß- und Feuerdorn, Ginster, Berberitze und Mahonien, zum größten Teil längst verdorrt und versteinert, ohne Grün, aber noch immer mit spitzen scharfen Dornen. Das Dickicht wirkte wie eine Schutzmauer und ließ kein Eindringen in den eigentlichen Urwald ohne Macheten oder gar maschinelle Hilfe zu.
Und eben mit diesen Prâmwald war etwas »Wunderbares und Furchterregendes« passiert, wie mir Leni erzählte. Und mich aufs heftigste bedrängte, sofort zu kommen. Morgen könne es schon zu spät sein. Mehr wollte sie oder konnte sie nicht sagen. Also hatte ich nachgegeben, obwohl ich lieber meine Vorweihnachtsruhe gehabt hätte. Aber bitte, wenn meine beste Studentin schon so dringend bat.
Wir holperten vierzig Minuten durch den steilen Nutzwald, dann war auch für das Schneemobil Endstation und wir stiegen auf Schneeschuhe um. Noch eine halbe Stunde quälten wir uns durch nun etwas lockerer werdenden Schneefall. Ich spürte meine sechzig Jahre, das kaputte Knie und jede einzelne Zigarette, humpelte aber tapfer hinter dem hübschen Hintern Lenis her. Als wir den Waldrand durchbrachen – vor uns lag das Tal mit dem Prâmgürtel – stoppte die Wildhüterin abrupt ab.
»Sieh selbst«, sagte sie und machte Platz für mich.
Ich trat zwischen den Bäumen vor und der Anblick, der sich mir bot, ließ mich augenblicklich an meinem Verstand zweifeln.
Der Schnee hörte direkt am Waldrand auf zu fallen. Wie durch eine weiße Gardine sahen wir auf die Lichtung, auf der zwar ebenfalls eine Schneedecke lag, aber kein einziges Flöckchen mehr fiel. Von dem Platz, an dem wir standen, führte eine schmale Fußspur bis zu den Dornenhecken. Und die standen in voller Pracht. Hunderte, nein tausende Blüten von Heckenrosen in allen Rot- und Orangetönen!
Ich machte einen Schritt zurück und wandte mich Leni zu. Es dauerte etwas, bis ich meine Sprache wieder gefunden hatte und das Erste, das ich stammelte, war: »Das ist völlig unmöglich!«
»Ich weiß«, flüsterte sie.
»Warst du schon dort, bei den Gewächsen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sonst jemand?«
Wieder Kopfschütteln.
»Aber das!«, sagte ich und zeigte auf die Fußspuren, »Wer war das?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Sie sind von Anfang an da gewesen. Unverändert. Trotz der Schneefälle!«
»Dafür gibt es keine vernünftige Erklärung!«, rief ich aus, »Wir haben seit Wochen Minusgrade, seit zwanzig Tagen schneit es. Was zur Hölle passiert hier, Leni?«
»Nicht zur Hölle«, antwortete die junge Frau, »zum Himmel!«
Ich sah sie befremdet an. Und sie begann zu singen: »Maria durch ein Dornwald ging. Kyrie eleison! Maria durch ein Dornwald ging, der hat in sieben Jahr kein Laub getragen! Jesus und Maria.«
Und da ich sie nur schweigend ansah, sang sie weiter: »Was trug Maria unter ihrem Herzen? Kyrie eleison! Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen, das trug Maria unter ihrem Herzen. Jesus und Maria.«
Und ich, mich mit einem Mal an das Lied erinnernd, das meine Großmutter vor vielen Jahren immer zur Weihnachtszeit sang, antwortete: »Da haben die Dornen Rosen getragen, Kyrie eleison, als das Kindlein durch den Wald getragen. Jesus und Maria.«
Ich parkte den Wagen an der Ausbuchtung der Straße. Erst jetzt sah ich das Schneemobil durch den dichten Flockenfall. Darauf Leni. Sie hatte Helm und Brille abgenommen und winkte mir. Ich schlüpfte in meinen Anorak, nahm den Rucksack und ging zu ihr. Wir umarmten uns, vielleicht eine Spur zu lange.
»Danke, dass du gekommen bist.« Ihr Atem machte kleine Nebelwölkchen.
»Ein anderes Wetter und ich hätte es noch lieber gemacht«, antwortete ich.
Sie zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen.
»Ich hoffe, es ist so wichtig, wie du am Telefon gesagt hast.«
»Wichtig? Nein, Peter, es ist mehr als wichtig. Es ist unvorstellbar. Eigentlich gar nicht möglich. Zumindest ich habe das in den neun Jahren, seit ich hier Wildhüterin bin, noch nie gesehen. Niemand hat das jemals gesehen.«
Sie hielt mir Helm und Brille hin, ich setzte das Zeug auf und mich selbst auf den Sozius des Schneemobils. Dann fuhr sie los.
Schon bald bog sie von der dicht verwehten Passstraße ab und in einen Forstweg, der nur zu erkennen war, weil sie ihn schon benutzt haben musste. Dennoch waren die Spuren bereits zur Hälfte verschneit. Leni holte alles aus dem Schneemobil heraus, und das war nicht wenig, aber dennoch plagte sich das Fahrzeug, um durch den erschlossenen Teil des Walds zu kommen. Zwei Kilometer dahinter lag der Brachwald, der seit fünfzehn Jahren nicht mehr genutzt wurde. Bewusst.
Anfang der 2010er Jahre hatten Umweltschutz- und Landwirtschaftsministerium ein Gebiet gesucht, um ein mehrere Jahrzehnte dauerndes Renaturierungsprojekt umzusetzen. Der Wald sollte sich selbst überlassen werden und sich in wieder einen typischen europäischen Urwald zurück verwandeln. Bei der Entscheidung, welches Gebiet dafür in Frage kommen könnte, spielte ich eine bescheidene Rolle. Ich war der damals der Biologe der Bundesforste. Wir suchten ein Jahr, dann empfahl ich ein unzugängliches und touristisch nie erschlossenes Waldgebiet, das im Süden direkt an die Steilwände der Nordalpen stieß, 3000 Hektar groß. An seinem Rand, wo man den Wald gerade noch erreichen hätte können, wuchs ein zehn Kilometer breiter und fünfhundert Meter tiefer Streifen Prâm – undurchdringliches Gestrüpp aus Weiß- und Feuerdorn, Ginster, Berberitze und Mahonien, zum größten Teil längst verdorrt und versteinert, ohne Grün, aber noch immer mit spitzen scharfen Dornen. Das Dickicht wirkte wie eine Schutzmauer und ließ kein Eindringen in den eigentlichen Urwald ohne Macheten oder gar maschinelle Hilfe zu.
Und eben mit diesen Prâmwald war etwas »Wunderbares und Furchterregendes« passiert, wie mir Leni erzählte. Und mich aufs heftigste bedrängte, sofort zu kommen. Morgen könne es schon zu spät sein. Mehr wollte sie oder konnte sie nicht sagen. Also hatte ich nachgegeben, obwohl ich lieber meine Vorweihnachtsruhe gehabt hätte. Aber bitte, wenn meine beste Studentin schon so dringend bat.
Wir holperten vierzig Minuten durch den steilen Nutzwald, dann war auch für das Schneemobil Endstation und wir stiegen auf Schneeschuhe um. Noch eine halbe Stunde quälten wir uns durch nun etwas lockerer werdenden Schneefall. Ich spürte meine sechzig Jahre, das kaputte Knie und jede einzelne Zigarette, humpelte aber tapfer hinter dem hübschen Hintern Lenis her. Als wir den Waldrand durchbrachen – vor uns lag das Tal mit dem Prâmgürtel – stoppte die Wildhüterin abrupt ab.
»Sieh selbst«, sagte sie und machte Platz für mich.
Ich trat zwischen den Bäumen vor und der Anblick, der sich mir bot, ließ mich augenblicklich an meinem Verstand zweifeln.
Der Schnee hörte direkt am Waldrand auf zu fallen. Wie durch eine weiße Gardine sahen wir auf die Lichtung, auf der zwar ebenfalls eine Schneedecke lag, aber kein einziges Flöckchen mehr fiel. Von dem Platz, an dem wir standen, führte eine schmale Fußspur bis zu den Dornenhecken. Und die standen in voller Pracht. Hunderte, nein tausende Blüten von Heckenrosen in allen Rot- und Orangetönen!
Ich machte einen Schritt zurück und wandte mich Leni zu. Es dauerte etwas, bis ich meine Sprache wieder gefunden hatte und das Erste, das ich stammelte, war: »Das ist völlig unmöglich!«
»Ich weiß«, flüsterte sie.
»Warst du schon dort, bei den Gewächsen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sonst jemand?«
Wieder Kopfschütteln.
»Aber das!«, sagte ich und zeigte auf die Fußspuren, »Wer war das?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Sie sind von Anfang an da gewesen. Unverändert. Trotz der Schneefälle!«
»Dafür gibt es keine vernünftige Erklärung!«, rief ich aus, »Wir haben seit Wochen Minusgrade, seit zwanzig Tagen schneit es. Was zur Hölle passiert hier, Leni?«
»Nicht zur Hölle«, antwortete die junge Frau, »zum Himmel!«
Ich sah sie befremdet an. Und sie begann zu singen: »Maria durch ein Dornwald ging. Kyrie eleison! Maria durch ein Dornwald ging, der hat in sieben Jahr kein Laub getragen! Jesus und Maria.«
Und da ich sie nur schweigend ansah, sang sie weiter: »Was trug Maria unter ihrem Herzen? Kyrie eleison! Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen, das trug Maria unter ihrem Herzen. Jesus und Maria.«
Und ich, mich mit einem Mal an das Lied erinnernd, das meine Großmutter vor vielen Jahren immer zur Weihnachtszeit sang, antwortete: »Da haben die Dornen Rosen getragen, Kyrie eleison, als das Kindlein durch den Wald getragen. Jesus und Maria.«