Der Engel

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Der Engel
Franz war, obwohl man auf den Gedanken hätte kommen können, kein Voyeur! Er beobachtete Menschen nicht, weil es ihm Vergnügen bereitete ihrer privaten Momente teilhaftig zu werden. Er beobachtete sie, weil er sich bestmöglich vorbereiten wollte, bevor er mit ihnen in Kontakt trat. Unvorbereiteter Kontakt zu fremden Menschen war für Franz nicht vorstellbar, denn dann verging er vor Schüchternheit und Unbeholfenheit. Die wenigen Menschen, mit denen er in einen solchen Kontakt geraten waren, hatten ihn nachher nie wieder gesehen. Seit etwa fünf Jahren quälte Franz sich mit dieser Scheu, sie war in ihm gewachsen, wie ein böses Geschwür. Abgesehen davon war Franz aber ein ganz normaler Mann in den Dreißigern. Er hatte eine solide Ausbildung, einen Bildschirmarbeitsplatz mit gutem Einkommen und demgemäß eine freundliche, große Wohnung. Mit bekannten Menschen konnte Franz umgehen. Er hatte einen kleinen Kreis guter Freunde, beiden Geschlechts. Doch oft saß er zuhause und fühlte die Einsamkeit an sich nagen. Sonntags mittags zum Beispiel, wenn die anderen mit ihren Familien am Essenstisch saßen oder die Singles unter seinen Bekannten frei und unbekümmert durch das Wochenende brausten, wohin es sie gerade trieb. In seiner Einsamkeit hatte er sich lange Spaziergänge angewöhnt. Manchmal, spätabends, schlenderte er auch durch beschauliche Wohnviertel und stellte sich vor, was hinter den herabgelassenen Rollos passierte. So geriet er nach und nach in die Rolle eines stillen Beobachters, am Rande stehend, unbemerkt vom Leben. Die Vorstellung in die Kneipe an der Ecke gehen zu können, um am Tresen ein Bier zu trinken und etwas zu plaudern, blieb für ihn jedoch Fiktion.
Eine Wende in seinem Leben war der Tag, an dem er Eva sah. Er war auf dem Rückweg von einem seiner Spaziergänge durch die sonntagnachmittägliche Einsamkeit, als er sie in einem Garten entdeckte. Ihre Rufe hatte er zuerst wahrgenommen. Fast automatisch verlangsamte er seinen Schritt. Routinemäßig suchte er Deckung hinter einer der Linden in der Allee und spähte nach der Besitzerin dieser Stimme. In dem Garten sah er eine Bewegung, aber keine menschliche, sondern die einer getigerten Katze, die auf der verwitterten Backsteinmauer hockte, die den Garten vom Nachbargrundstück abgrenzte. Er versuchte ihrem Blick zu folgen und sah am Rand der Sträucher eine Frau in einem leichten Kleid. Sie ließ wieder ihre Stimme hören: "Julchen". Ihre Stimme lief wie warmes Öl in Franz Ohren. Nicht was sie sagte, das war sicherlich der Name der Katze, sondern wie: Diese Wärme, diese runde, weiche Melodie. Franz wünschte er könne sich augenblicklich in diese Katze verwandeln, dann wäre er von der Mauer auf die Wiese gehuscht und hätte die nackten Beine der Frau umschmeichelt. Dann wünschte er sich, er könnte einfach an die Hecke gehen und der Frau sagen, wo ihre Katze hockte. Trotz des warmen Sommertages überfuhr ihn in diesem Moment eine Gänsehaut. Seine Hände zitterten. Der bloße Gedanke daran die Frau anzusprechen, griff mit eiserner Faust in seinen Leib und verdrehte ihm die Eingeweide. Ein fast physischer Schmerz durchschnitt seinen Rumpf und auf die Gänsehaut folgte ein heißer Schauer. Sein Gesicht glühte, sein Puls raste. Die Frau strich eine Haarsträhne aus dem Gesicht hinter das Ohr und nahm dann die Katze auf den Arm. Dann drehte sie sich um und ging, die Katze mit Worten und Händen liebkosend, auf das Haus zu, in dem sie verschwand. Franz lehnte sich mit dem Rücken an den Baum, rutschte mit seinem Rücken an der rauhen Rinde hinab und spürte die Entlastung in seinen weichen Knien, als sein Gesäß den Boden berührte. Er umfaßte seine angewinkelten Beine und krallte die Finger in die Jeans, um das Zittern in den Griff zu kriegen. Er weinte. Als er sich nach einer ganzen Weile wieder etwas beruhigt hatte, wischte er sich das Gesicht ab und ging, erfüllt von einer gewaltigen Traurigkeit, nach Hause. Das war nicht der erste Anfall dieser Art, aber so schlimm war es schon lange nicht gewesen. Sein Körper hatte ihn wieder im Stich gelassen, die Sicherungen in seinem Kopf waren reihenweise mit stiebenden Funken durchgeknallt. Auch nach der kalten Dusche war er nur notdürftig wieder sortiert. Er saß bis tief in die Nacht hinein vor dem PC-Bildschirm. Schließlich, als seine Augen brannten und tränten, er seinen Nacken indessen gar nicht mehr spürte, legte er sich ins Bett. Ruhelos wälzte er sich hin und her. Aus Gewohnheit griff er sich zwischen die Beine, doch eine Errektion blieb aus. Mit dem Morgengrauen stand er auf, machte sich starken Kaffee und setzte sich auf den Balkon, um die Vögel zu hören, die lautstark den Tag begrüßten. Nach der zweiten Tasse Kaffee waren ihm zwei Dinge klar: so konnte es nicht weitergehen und er mußte sie kennenlernen. Er war verliebt. Deshalb hatte es ihn so heftig geschüttelt, so heiß überlaufen. Seine Panikattacke war vermischt gewesen, mit den zuckrigen Stachelschmerzen der Liebe. Von nun an beschattete er ihr Leben: Er ging zu ihrem Haus und notierte die Adresse, nur ein Name auf dem Klingelschild: Roseneis! In der nächsten Telefonzelle der nächste Informationsschnipsel: Roseneis, Eva, Tel. 561856. Der Zettel mit dem notierten Namen und der Telefonnummer brannte in seiner Tasche, als er wieder an ihrem Haus vorbeiging. Zuhause wählte er ihre Nummer, kaum das er die Türe hinter sich geschlossen hatte. In der Telefonzelle hatte er sich das nicht getraut, aber hier, in seinen eigenen vier Wänden, fühlte er sich sicher. "Hallo! Ich bin nicht zuhause. Ich komme aber wieder und wenn sie möchten, daß ich dann ihre Nachricht vorfinde, dann sprechen sie mir nach dem Signal doch bitte aufs Band. Tschüß!". Diese Stimme, zwar leicht verfremdet durch die digitale Wiedergabe, aber er erkannte sie sofort. Jetzt brannte er lichterloh und ihm war klar, für diese Frau würde er alles geben, was er zu geben vermochte.
Er hatte gründlich gearbeitet, in dem Jahr, das inzwischen vergangen war. Ihr Leben war ihm ebenso vertraut wie seins. Morgens stand er in der Nähe ihres Hauses, wenn sie es verließ und in ihren Wagen stieg. Mittags wartete er in der Eingangshalle des Museums, in dem sie arbeitete, und beobachtete jeden ihrer Schritte, wenn sie die Halle diagonal durchschritt, auf dem Weg in ihre Mittagspause. Während sie im Bistro war, saß er einige Meter von ihr entfernt auf einer Bank in der Fußgängerzone, scheinbar in eine Zeitung vertieft, doch in Wahrheit nur sie im Auge. Ängstlich hielt er jedoch einen gewissen Sicherheitsabstand zu ihr ein. Auf keinen Fall durfte sie vor der Zeit auf ihn aufmerksam werden. Er wußte, er würde nur eine Chance haben und wenn er die verpatzte, dann war alles vergeblich, sogar sein Leben. Seine Arbeit hatte er in die Nacht verlegt. Seine Tage gehörten nur ihr. Schlaf war Luxus geworden. Doch Franz war guten Mutes, denn obwohl sie ihn nicht kannte, hatte er bereits einen Platz in ihrem Herzen. Denn Eva gönnte sich in Anlehnung an ihre Arbeit als Kunsthistorikerin einen Spleen: Engel. Seit Franz das wußte, tauchten in Evas Umgebung immer neue Engel auf und obwohl sie zu gerne gewußt hätte, wer ihr diese immer neuen Engelgeschenke macht, genoß sie auch die Tatsache, von einem anonymen Menschen so reichlich beschenkt und beachtet zu werden.
Schließlich fühlte Franz sich bereit in Evas Leben zu treten und er war ganz sicher, wenn er alles richtig machen wollte, dann konnte er es nur als Engel wagen; Franz wollte vom Himmel herab in Evas Leben schweben. Er baute riesige Flügel aus echten, weißen Federn und eine Flugkonstruktion, eine Mischung aus Bungeeseil und Fallschirm. Dann stand Franz auf dem Hausdach. Noch zwei Sekunden, eine, Absprung. Doch Eva war nicht da. Sie saß schon im Bistro und als sie die Zeitung aufschlug, schlug Franz auf das Kopfsteinpflaster auf. Die zerbrochenen Flügel färbten sich rot.
Am nächsten Tag las Eva die Schlagzeile in der Zeitung: Engel erlitt tödlichen Absturz. Darunter ein Bild des zerbrochenen Mannes. Da wußte sie, sie würde keine Engelgeschenke mehr bekommen und sie fröstelte in der Sonne und knöpfte ihre Strickjacke zu.

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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