Der Engelsflügel
„Ist sie nett?“ Papa nickt und lächelt: „Sehr – und ein bisschen anders.“
Heute besuchen wir erstmalig Großtante Gerda in ihrem alten Haus am Stadtrand. Sie arbeitete oft im Ausland, weshalb wir sie bisher nur von Fotos kennen. Neugierig und ein wenig beklommen klingeln wir. Überraschend schwungvoll fliegt die Tür auf. Hätten wir so einer alten Frau gar nicht zugetraut. Eine schlanke hochgewachsene Dame mit silberner Hochsteckfrisur und bodenlangem roten Samtkleid empfängt uns mit weit ausgebreiteten Armen. Graugrüne Augen, von tausend Runzeln umgeben, strahlen uns entgegen.
„Wie schön, dass ihr da seid! Endlich lerne ich euch Kinder kennen“, tiriliert sie wie eine Lerche im Sommer und drückt uns innig. Papa schmunzelt. Finn knufft ihn leicht in die Seite und ich räuspere mich vielsagend in seine Richtung.
„Gehen wir in den Salon. Es gibt Kaffee, Kakao und Stanitzel mit Erdbeercreme.“ Schon hat sich Tante Gerda umgedreht und schreitet voran. Da entdecken wir den riesigen Engel an der Wand und rühren uns nicht vom Fleck.
„Der hat ja nur einen Flügel!“ „Ist das dein Schutzengel?“ Papa schubst uns in die Diele. „Ich glaube fest daran. Wenn ihr wollt, erzähle ich euch seine Geschichte.“
„Aber erst, nachdem wir uns an deinen Köstlichkeiten gelabt haben“, schwärmt Papa und leckt sich schon genießerisch die Lippen. Wir kichern leise in uns hinein, weil er plötzlich so vornehm spricht. In Nullkommanichts haben wir Kakao, unsere Stanitzel und eine solche Menge Erdbeercreme verdrückt, für die bestimmt eine ganze Wochenernte Erdbeeren verarbeitet wurde.
„Dürfen wir uns im Haus umsehen?“ Wir haben keine Lust, den Erwachsenen zuzuhören, die sowieso nur von alten Zeiten reden.
„Geht schon mal ins Musikzimmer“, schlägt Tante Gerda vor.
„Papa, das musst du dir anschauen, da steht ein riesengroßer Engelsflügel mit Drähten!“ Finn kennt keine Harfe, er ist halt noch klein.
Papa nimmt uns in den Arm und kuschelt sich mit uns in das Plüschsofa mit den vielen bunten Kissen. Großtante Gerda setzt sich lächelnd an ihr Instrument und beginnt eine Melodie zu zupfen. Dabei erzählt sie:
„Als ich zehn Jahre alt war, so wie du jetzt, Tiffi, bekam ich eines Tages furchtbare Bauchschmerzen, so dass mich meine Eltern ins Krankenhaus brachten. Mein Blinddarm war entzündet und ich musste sofort operiert werden. Dann hatte ich hohes Fieber. Da sah ich im Traum einen großen Engel, der die ganze Zeit an meinem Bett saß und mir mit einem Flügel kühle Luft zufächelte. Dazu summte er eine Melodie, die mir alle Furcht nahm und mich ganz ruhig machte. Da wusste ich, dass ich wieder gesund würde. Ich bat ihn, für immer bei mir zu bleiben und griff nach seinem Flügel. Doch in diesem Moment wachte ich auf. Der Engel war verschwunden, das Fieber war gesunken. Bald darauf durfte ich wieder nachhause. Immerzu summte ich diese Melodie und redete von dem Engelsflügel, bis mir meine Eltern eine Harfe zeigten. 'Nimm sie als Geschenk deines Schutzengels.' Von da an wollte ich Harfenistin werden. Als ich später meinen lieben Max Julius heiratete, malte er mir den Engel mit nur einem Flügel an die Wand. Sein zweiter ist zu meiner Harfe geworden.“
Tante Gerda neigt sich uns zu. Papa applaudiert zaghaft. In mir klingt noch die Musik nach. Für einen kurzen Augenblick ist es still im Raum. Dann platzt Finn hinein:
„Gibt es so 'ne tolle Geschichte auch für Schlagzeuger? Ich möchte nämlich einer werden!“
Da müssen wir alle lachen.
„Ist sie nett?“ Papa nickt und lächelt: „Sehr – und ein bisschen anders.“
Heute besuchen wir erstmalig Großtante Gerda in ihrem alten Haus am Stadtrand. Sie arbeitete oft im Ausland, weshalb wir sie bisher nur von Fotos kennen. Neugierig und ein wenig beklommen klingeln wir. Überraschend schwungvoll fliegt die Tür auf. Hätten wir so einer alten Frau gar nicht zugetraut. Eine schlanke hochgewachsene Dame mit silberner Hochsteckfrisur und bodenlangem roten Samtkleid empfängt uns mit weit ausgebreiteten Armen. Graugrüne Augen, von tausend Runzeln umgeben, strahlen uns entgegen.
„Wie schön, dass ihr da seid! Endlich lerne ich euch Kinder kennen“, tiriliert sie wie eine Lerche im Sommer und drückt uns innig. Papa schmunzelt. Finn knufft ihn leicht in die Seite und ich räuspere mich vielsagend in seine Richtung.
„Gehen wir in den Salon. Es gibt Kaffee, Kakao und Stanitzel mit Erdbeercreme.“ Schon hat sich Tante Gerda umgedreht und schreitet voran. Da entdecken wir den riesigen Engel an der Wand und rühren uns nicht vom Fleck.
„Der hat ja nur einen Flügel!“ „Ist das dein Schutzengel?“ Papa schubst uns in die Diele. „Ich glaube fest daran. Wenn ihr wollt, erzähle ich euch seine Geschichte.“
„Aber erst, nachdem wir uns an deinen Köstlichkeiten gelabt haben“, schwärmt Papa und leckt sich schon genießerisch die Lippen. Wir kichern leise in uns hinein, weil er plötzlich so vornehm spricht. In Nullkommanichts haben wir Kakao, unsere Stanitzel und eine solche Menge Erdbeercreme verdrückt, für die bestimmt eine ganze Wochenernte Erdbeeren verarbeitet wurde.
„Dürfen wir uns im Haus umsehen?“ Wir haben keine Lust, den Erwachsenen zuzuhören, die sowieso nur von alten Zeiten reden.
„Geht schon mal ins Musikzimmer“, schlägt Tante Gerda vor.
„Papa, das musst du dir anschauen, da steht ein riesengroßer Engelsflügel mit Drähten!“ Finn kennt keine Harfe, er ist halt noch klein.
Papa nimmt uns in den Arm und kuschelt sich mit uns in das Plüschsofa mit den vielen bunten Kissen. Großtante Gerda setzt sich lächelnd an ihr Instrument und beginnt eine Melodie zu zupfen. Dabei erzählt sie:
„Als ich zehn Jahre alt war, so wie du jetzt, Tiffi, bekam ich eines Tages furchtbare Bauchschmerzen, so dass mich meine Eltern ins Krankenhaus brachten. Mein Blinddarm war entzündet und ich musste sofort operiert werden. Dann hatte ich hohes Fieber. Da sah ich im Traum einen großen Engel, der die ganze Zeit an meinem Bett saß und mir mit einem Flügel kühle Luft zufächelte. Dazu summte er eine Melodie, die mir alle Furcht nahm und mich ganz ruhig machte. Da wusste ich, dass ich wieder gesund würde. Ich bat ihn, für immer bei mir zu bleiben und griff nach seinem Flügel. Doch in diesem Moment wachte ich auf. Der Engel war verschwunden, das Fieber war gesunken. Bald darauf durfte ich wieder nachhause. Immerzu summte ich diese Melodie und redete von dem Engelsflügel, bis mir meine Eltern eine Harfe zeigten. 'Nimm sie als Geschenk deines Schutzengels.' Von da an wollte ich Harfenistin werden. Als ich später meinen lieben Max Julius heiratete, malte er mir den Engel mit nur einem Flügel an die Wand. Sein zweiter ist zu meiner Harfe geworden.“
Tante Gerda neigt sich uns zu. Papa applaudiert zaghaft. In mir klingt noch die Musik nach. Für einen kurzen Augenblick ist es still im Raum. Dann platzt Finn hinein:
„Gibt es so 'ne tolle Geschichte auch für Schlagzeuger? Ich möchte nämlich einer werden!“
Da müssen wir alle lachen.