Der erste Corona-Mord

Ruedipferd

Mitglied
Manuel Magiera

Der erste Corona- Mord

Das Festnetztelefon läutete. Ich ahnte sofort, wer dran war. Meine Mutter konnte ich am energischen Klang erkennen. Pflichtbewusst nahm ich ab. „Gebhard.“ „Marianne, hast du die Nachrichten gehört? Da geht ein Virus um. Vater ist außer sich. Er sagt, die Kanzlerin hat sich während ihrer ganzen Amtszeit nicht blicken lassen und jetzt will sie uns im Haus einsperren! Seine Jägerversammlung wurde abgesagt, die Turniere für die Kinder, die Hengstkörung und das Skatturnier, auf das sich die Männer das ganze Jahr freuen, ebenfalls. Was ist bloß los? Man kann sich doch nicht wegen einer Grippe verrückt machen lassen! Ich weiß noch, als ich Kind war. Wir wurden auf Anordnung der Lehrerin zu Klassenkameraden, die gerade Windpocken oder Masern hatten, geschickt, damit wir uns ansteckten. Damals gab es keine Impfstoffe. Wir haben jede Kinderkrankheit durchgemacht und waren danach immun.“
Natürlich hatte ich die Pressemitteilungen zum Corona-Virus aufmerksam verfolgt. Es blieb einem gar nichts anderes übrig. Im Fernsehen musste man schon viel herum zappen, um noch ein normales Programm zu finden. Und in der Zeitung gab es plötzlich nur dieses Thema. Ich seufzte. Mein Mann Reiner war Steuerbeamter beim Finanzamt in der Kreisstadt. Ich selbst hatte Grafik studiert und arbeitete als Illustratorin und Autorin zu Hause. Meine Eltern lebten auf einem Bauernhof, waren 66 und 64 Jahre alt. Die Landwirtschaft hatte Vater mit Beginn der Rente aufgegeben. Ich konnte die Hofnachfolge nicht antreten. Andererseits wollten wir das Anwesen behalten, denn unser zwölfjähriger Sohn Tobias liebäugelte mit der Aussicht eines Tages Landwirt zu werden. Wir hatten uns nebenan ein Haus gebaut, so dass jede Familie ihren eigenen Bereich bewohnte, wir einander aber stets helfen konnten. Opa versorgte unsere drei Holsteiner Pferde und betätigte sich mit mehr oder weniger Erfolg als Züchter. Tobias, seine Schwestern Mia (9) und Nesthäkchen Lena (4) besaßen jeder ein Pony. Für die beiden Großen hatten wir Deutsche Reitponys gekauft. Tobias war im E-Springen erfolgreich und Mia wurde im letzten Jahr einige Male bei Jugendreiterprüfungen platziert. Lena nannte ein dickes braunes Shetty namens Lotte ihr Eigen. Unsere Kinder mussten die Ställe selbst ausmisten, ihre Tiere putzen, abends einstreuen und sie morgens, bevor der Schulbus kam, auf die Weide bringen. Nur das Füttern übernahm Opa.
Alles lief Bestens. Mutter und ich unterstützten uns in Haushalt und Garten. Wir kochten unser Gemüse immer gemeinsam ein. Reiner half Opa bei anstehenden Bauarbeiten und natürlich beim Heu machen. Gras besaßen wir auf unseren Koppeln im Überfluss, so dass die Männer abgaben, was wir für unsere eigenen Pferde nicht brauchten. Lediglich Stroh und Kraftfutter mussten wir kaufen. Wir waren also größtenteils Selbstversorger mit einem viel zu großen Obst- und Gemüsegarten. Oma hielt zwanzig Hühner und manchmal Masthähnchen. Auch Enten und Gänse besaßen wir zeitweilig. Drei dicke Kaninchen lebten im alten Kuhstall und mussten von den Kindern versorgt werden. Im Herbst standen Hausschlachten und Wurstmachen an. Mein Onkel war ebenfalls Landwirt und stellte Rinder und Schweine dafür zur Verfügung. Vater und er gehörten zur Jägerschaft, so dass obendrein Wild unseren Speisezettel erweiterte. Ein anderer Onkel von mir arbeitete als Schlachter im Nachbarort.

„Ja, Mutti, ich habe es natürlich verfolgt. Dies ist wohl eine gefährlichere Grippe als sonst. Obwohl auch bei der normalen Grippe jedes Jahr viele Menschen sterben. Darüber spricht allerdings keiner. Risikopatienten sind Leute mit Vorerkrankungen und alte Menschen.“ Den Zusatz ‚wie Vater und du‘ vermied ich bewusst. Tobias hatte vor ein paar Wochen erklärt, Menschen über sechzig wären bereits scheintot. Großmutter blieb damals die Spucke weg und sie zog ernsthaft in Erwägung, den extra für unsere Kinder in der Gefriertruhe aufbewahrten Eisvorrat bei ebay im Internet zu versteigern. Meine Eltern waren zwar über sechzig und mussten sich hier und da mit einigen Wehwehchen herumschlagen. Sie fühlten sich dennoch rüstig und topfit.
„Die sagen, das gilt schon ab sechzig. Nun gut, Opa und ich gehören wirklich noch nicht zum alten Eisen, aber krank werden wollen wir natürlich auch nicht. Wie sollen wir uns denn jetzt verhalten, Marianne? Die Tiere müssen versorgt werden und wenn die Kinder nicht zur Schule gehen, können sie auf dem Hof helfen. Vater will die Zäune reparieren.“ Ich überlegte. Unsere Kinder brauchten nicht ins Haupthaus um die Pferde und Kaninchen zu versorgen. Sie besaßen ihren eigenen Reitplatz und bei Regen fuhr Vater den Trecker aus der Scheune, so dass sie dort ihre Ponys bewegen durften. Im Übrigen schloss unser Wald direkt an den Hof an. Reiner und ich ritten oft mit ihnen aus. Ansteckungsgefahr im Forst auf einem Pferd bestand wirklich nicht. Wir sollten ja nur Abstand von anderen Personen halten.
„Mutter, das ist ganz einfach. Wenn die Kinder kommen, bleibt ihr im Haus oder im Garten und haltet einfach Abstand. Wir müssen ja nicht unbedingt jeden Tag miteinander schmusen. Dazu haben die drei ihre Ponys. Ich bin zu Hause und kann für dich Einkaufen. Die Waren stelle ich dir vor die Tür. Meine Gefriertruhe ist gut gefüllt. Bohnen und Gurken habe ich im Keller reichlich. Wir werden nicht verhungern. Schreib mir eine Liste mit den Sachen, die du noch brauchst. Schick sie per e-Mail. Ich fahre nachher ins Dorf zum Supermarkt. Es ist der letzte Schultag und ich hole Lena und Stefan auf dem Rückweg gleich vom Kindergarten ab. Ach, was mach ich denn mit Stefan? Ich muss Karin anrufen. Es ist Blödsinn doppelt zu fahren. Wir nehmen unsere Kinder immer gemeinsam mit.“
„Alles klar, Kind. Was meinst du, soll ich auch Klopapier aufschreiben? Wir haben noch drei Pakete.“ Ich musste lachen. „Mutter, was wir alle brauchen, ist die Stärkung unseres Immunsystems, damit wir dem Virus etwas entgegensetzen können. Natürlich stärkt Klopapier die Abwehr mehr, als Obst und Gemüse! Ich bringe uns ausnahmsweise aber einige Röllchen Vitaminbrausetabletten mit und Magnesium und Calcium nehme ich ohnehin ein. Also Klopapier haben wir reichlich.“ „ Zur Not helfen Küchenrollen und wie früher, auch Zeitungspapier. In der Zeitung steht so wie so nichts gescheites, die ist zum Ofen anzünden und Hintern abwischen bestens geeignet. Im Mittelalter haben die Leute nur Moos genommen!“ Sie legte auf. Ich dachte an den kleinen Stefan, den ich immer vom Kindergarten abholte. Seine Mutter Karin war meine Nachbarin und arbeitete vormittags in unserer Hausarztpraxis als Sprechstundenhilfe. Ich wählte die Nummer und fiel ihr gleich ins Wort, bevor sie mit ihrer Ansage fertig war. „Karin, was soll ich mit Stefan machen? Die spielen alle verrückt mit dem Virus. Aber wenn sich die Kinder angesteckt haben, ist es doch eh nicht zu ändern, oder? Willst du ihn selbst holen, oder soll ich mich wie immer drum kümmern?“ „Anne, bleib cool. Ich wollte dich bitten, die Betreuung während der Kindergarten zu ist ganz zu übernehmen, denn ich muss jetzt länger arbeiten. Wir können eine Ansteckung gar nicht vollständig verhindern. Und was wir bekommen sollen, werden wir bekommen. Der Doc sagt, wir müssen uns alle anstecken, damit wir uns immunisieren. Es geht jetzt nur darum, Zeit zu gewinnen, damit nicht zu viele auf einmal in den Krankenhäusern landen.“ Ich atmete auf. Es war schön und beruhigend, kompetente Freunde zu haben. „Gut, das hatte ich mir schon gedacht. Ich lass mich nicht so schnell in Panik versetzen. Ich hab schließlich drei Kinder und einen Mann! Das stumpft ab. Wir halten nur von Oma und Opa etwas Abstand. Es liegt ohnehin alles in Gottes Hand. Brauchst du noch etwas vom Supermarkt?“ Karin lachte. „Ja, zehn Pakete Klopapier! Nein Spaß beiseite, bring mir bitte einen Beutel Äpfel und ein Netz Apfelsinen mit. Wenn sie günstige Tomaten haben, nehm ich zwei Pakete. Die Kinder essen gerne Toast Hawai. Anne, ich bin dir sehr dankbar. Hier ist die Hölle los. Das Telefon geht andauernd, ich muss die Leitung jetzt frei machen. Ich komme am späten Nachmittag und hole Stefan ab.“

Wir verabschiedeten uns. Ich blickte auf die Uhr. Es war gleich zehn. Der Kindergarten schloss um halb eins. Zur Bank wollte ich ebenfalls. Es konnte nicht schaden, etwas Bargeld im Haus zu haben, dachte ich bei mir. Obwohl wir hier auf dem Feld außerhalb des Dorfes gar keine Möglichkeit hatten, es auszugeben. Also zuerst zur Bank, danach zum Gärtner und auf den Friedhof, das Familiengrab der Urgroßeltern einer Inspektion unterziehen, wenn ich schon unten im Dorf bin. Zum Supermarkt und danach die Kinder abholen. Vielleicht blieb noch etwas Zeit für einen Kaffee beim Bäcker und einen kurzen Plausch mit den anderen Frauen aus dem Dorf. Um ein Uhr war ich wieder zu Hause. Lena und Stefan liefen gleich zu Lotte. Es war nicht einfach Kindergartenkindern zu erklären, dass sie die Oma nicht wie sonst umarmen dürfen. Ich hoffte auf Mutters Mithilfe. Sie besaß Erfahrung im Umgang mit kleinen Kindern. Als es noch keinen staatlichen Kindergarten gab, betreute sie zweimal die Woche die Kleinen aus dem Dorf in der Kapelle. Da wurde gebastelt und gesungen. Manchmal musste sie trösten, wenn etwas nicht klappte und Tränen rannen. Stefan und Lena freuten sich, dass sie nun jeden Tag zusammen spielen durften. Ich packte meine Waren aus, belud einen Faltkasten für meine Eltern und stellte ihn in unseren Bollerwagen vor die Tür.
Lautes Jauchzen klang von der Bushaltestelle herauf. Der Schulbus hatte unsere Kinder abgeladen. Noch ehe ich mich versah, hingen meine beiden Großen wie Kletten an mir. „Hallo Mama. Wir haben Schulfrei bis nach Ostern!“, schrien sie und klatschten in die Hände. „So ein Virus könnten wir das ganze Jahr über gebrauchen“, lachte Tobi. „Die Mathearbeit fällt aus und auch Englisch ist verlegt. Wir haben ein paar Arbeitsbögen bekommen und ab morgen ist Unterricht am PC. Darf ich deinen Laptop haben? Der ist besser als mein PC. Ach bitte, Mami. Von neun bis eins müssen wir online sein.“ Tobias ging aufs Gymnasium. Er war in der siebenten Klasse. Ich hätte mir denken können, dass der Unterricht über das Internet weiter laufen wird. Es freute mich sogar. Dadurch ging nicht so viel Stoff verloren. „Na gut, aber nur, wenn du ordentlich damit umgehst und du lässt alle meine Buchdateien in Ruhe. Ich speichere meine Manuskripte zur Sicherheit nicht nur auf dem PC ab, sondern über den USB Stick auch auf dem Laptop.“ „Super. Wann gibt’s Essen? Dürfen wir vorher noch zu den Ponys?“, fragte er. Ich nickte. „Ich mach gleich die Hühnersuppe von gestern warm. In einer halben Stunde seid ihr wieder da. Und wascht euch bitte vor dem Essen ganz doll die Hände!“ „Was soll der Kasten in Lenas Wagen?“ Mia sah mich fragend an. „Der ist für Oma. Wegen des Virus dürft ihr nicht zu Oma und Opa hinein. Sie sind vom Alter her Risikopatienten und wir wollen nicht, dass sie sich anstecken. Haltet bitte Abstand und geht nicht ins Haus. Oma ruft euch aus dem Fenster. Ihr könnt den Wagen mitnehmen und vor ihre Haustür stellen.“ Zwei Schultaschen und Mias Turnbeutel lagen inzwischen zu meinen Füßen. Mia zog ihr Handy aus der Jacke. „Was tust du?“, fragte Tobias. „Ich simse Oma, dass wir ihr Mamas Einkäufe bringen. Als Honorar nehmen wir ein Eis!“, erklärte meine neunjährige Tochter geschäftstüchtig. Ich war platt. Die Schultaschen blieben bei mir zurück. Nun, ausnahmsweise half ich, trug sie ins Haus und stellte sie in den Flur. Ob Mia auch schon online Unterricht hatte? fragte ich mich. Ich musste meinen Tagesablauf umstrukturieren.

Tobi hatte ab neun Uhr in seinem Zimmer zu sitzen. Stefan und Lena durften in Lenas Zimmer oder im Garten spielen, während ich an meinem Computer arbeite. Als freischaffende Autorin konnte ich mir gottlob die Arbeit einteilen und flexibel auf widrige Umstände reagieren. Am Nachmittag kann ich den Kindern intensiv Reitunterricht geben. Das unplanmäßige Training wird ihnen und den Pferden guttun. Und es wird Tobi vom fehlenden Fußballverein und seinen Kumpels ablenken. Mias Flöten- und Eislaufübungen konnte ich ebenfalls beaufsichtigen. Mia lief begeistert Schlittschuh und wir fuhren im Sommerurlaub mit unseren Kindern immer in einen Ort, in dem es eine Sommereisbahn gab. Dort fand ein zweiwöchiges Trainingslager des Vereins statt. In der eisfreien Zeit konnten die Mädchen bei uns in der Remise auf Synthetikeis ausweichen. Die Gleitfähigkeit war zwar nicht besonders, aber Mia und ihre Freundinnen hatten Spaß daran. Tobi brachte seine Freunde mit und die Jungen spielten oft Eishockey auf den dreißig Quadratmetern. Zufrieden stellte ich den Suppentopf auf den Herd. Wir werden klarkommen. Diese Krise konnte meiner Familie nichts anhaben. Dachte ich! Die Katastrophe ereilte sich um drei Uhr am Nachmittag.

Ich hatte mich gerade an meinen PC gesetzt und eine Seite für mein neues Kinderbuch geschrieben, da hörte ich ein Auto in die Einfahrt fahren. Die Haustür wurde aufgeschlossen und eh ich mich versah, legten sich zwei starke Hände um meine Hüften. Mein Mann beugte sich über mich und küsste mir die Stirn. „So früh?“, ich sah ihn entgeistert an. „Ist das Finanzamt abgebrannt?“ Er schmiegte sich an mich. „Viel schlimmer. Den Georg hat es erwischt. Er ist positiv getestet und als unmittelbarer Kollege haben sie mich für zwei Wochen in Quarantäne geschickt. Der Chef überlegt, ob wir uns Akten mit nach Hause nehmen können. Normalerweise dürfen die Vorgänge das Haus nicht verlassen. Aber was sollen wir machen? Wer gesund ist, kann doch zu Hause arbeiten. Wir haben leider ein geschlossenes Netz und können uns nicht übers Internet in unsere Arbeitsplätze einloggen. Nun gut, erst einmal ist dies bezahlter Zwangsurlaub! Vielleicht müssen wir ganz schließen. Ich habe Hunger. Hast du noch etwas für deinen Liebhaber?“ „Das Finanzamt schließen? Da habt ihr den Segen der gesamten Bevölkerung. Was heißt hier Liebhaber? Du bist mein Mann und nicht der Postbote“, scherzte ich. Also hatte ich meinen Reiner jetzt auch dauerhaft zu Hause. Nun, es gab genug für ihn in der Garage und auf dem Boden zu erledigen. Er hatte endlich Zeit, die Terrasse neu zu bepflastern und auf dem Hof wird sich Vater für die unplanmäßige Hilfe freuen. „In der Küche ist Hühnersuppe von gestern. Die Kinder haben gegessen und sind im Stall. Ich hab mit Mutter gesprochen. Wir werden Abstand halten und nicht zu ihnen in die Wohnung gehen. Das gilt auch für die Kinder. Mia hat sich das Virus geschäftstüchtig zu Nutzen gemacht und als Bezahlung für Gefälligkeiten ein Eis von Oma gefordert. Tobi muss ab neun Uhr online bereit sein und nimmt meinen Laptop für seinen Unterricht. Wir müssen ihm wohl bald einen eigenen kaufen.“ Ich stockte. „Du, wenn du in Quarantäne bist, dann sind wir es doch automatisch auch?“ Wir sahen uns entsetzt an. „Ja, aber das ist nicht so schlimm. Zu Mutter muss ich nicht ins Haus. Vater und ich halten Abstand, wenn wir die Zäune reparieren. In der Scheune lassen wir einfach zwei Meter frei und stellen uns so viele Bierkästen dazwischen, wie hinpassen. Wir werden garantiert unseren Spaß haben.“ Ich fasste mir an den Kopf. Das war typisch Reiner. Aber er und Vater verstanden sich wirklich gut. Manchmal zu gut, wie Mutter zeitweilig meinte.
Er lächelte. „Du Schatz, wenn wir jetzt in Quarantäne sind, ist es doch gleich, wie nah wir uns kommen. Enger als in einer Familie kann es gar nicht zugehen.“ Was meinte mein Göttergatte? Mir schwante nichts Gutes. Ich war zwar in meiner schriftstellerischen Tätigkeit frei, musste mich aber an vom Verlag vorgegebene Fristen für die Abgabe meiner Manuskripte und Illustrationen halten. Die drei Kinder und der gesamte Haushalt kamen dazu. Wie ich meinen Mann kannte, würde er maximal auf meine besondere Bitte, hin und wieder den Geschirrspüler ausräumen. Wäsche, saubermachen, Kochen, all das Übliche, war meine Domäne. Die Arbeitsteilung hatten wir schon nach unserer Hochzeit geplant. Durch die berufliche Abwesenheit meines Mannes und meine Heimarbeit, ergab sie sich automatisch. Und als Mutter musste ich selbstverständlich für die Kinder sorgen. Warum machte ich mir jetzt Gedanken? , fragte ich mich. Ein paar Wochen zusammen mit der Familie hatte seinen Reiz. Manche Leute werden uns für unser schönes Heim und unsere Großfamilie beneiden. Etwas mulmig war mir dennoch. Ich dachte unwillkürlich an die vielen Familien, die nicht einmal die zwei oder drei Weihnachts- oder Ostertage ohne Streit und Stress durchhielten. Gerade an Feiertagen häuften sich häusliche Tötungsdelikte, hatte ich unlängst gelesen.

Mein Mann nahm sich das letzte Hühnerbein und wischte sich genüsslich den Mund mit einem Papiertuch ab. „Die Leute kaufen wie wild Klopapier, anstatt Obst und Gemüse fürs Immunsystem“, meinte ich. Reiner sah auf und blickte mir in die Augen. Ich kannte das. Nein, er wollte doch nicht etwa? „Liebling, die Kinder sind weg und wir sind in Quarantäne allein. Eine solche Gelegenheit sollten wir nutzen. Was meinst du?“ Ich prustete los vor Lachen. „Männer! Ihr denkt doch nur an das Eine. Ob die Kanzlerin das gemeint hat, als sie sagte, wir sollen Sozialkontakte meiden?“ „Fremde Kontakte, Schatz. Dein Virus ist auch mein Virus. Wir pflegen uns gegenseitig und unsere Kinder können gerne mal im Haushalt helfen, wenn es uns erwischt hat. Wir stellen Tobi einen eigenen Laptop in Aussicht und für die Mädchen finden wir etwas.“ Übergeredet. Wir verschwanden im Schlafzimmer. Ich dankte dem Virus. Es war seit langem wieder ein wirklich schöner Sex. Dass ich bei der ganzen Aufregung meine Pille am Morgen vergessen hatte, bemerkte ich nicht. Die Tage gingen dahin. Wir hatten unseren Haushalt hervorragend strukturiert. Am Morgen schliefen wir bis um sieben Uhr. Jeder war reihum dran, das Frühstück zu machen. Lena wollte partout alleine dabei sein. Sie deckte den Tisch nach den Vorstellungen einer Vierjährigen. Es gab keinen Kaffee, aber jede Menge Orangensaft aus der Kiste und Gummibärchen, die sie aus dem Süßigkeitenfach im Wohnzimmer gestiebitzt hatte. Wir lobten ihre hausfraulichen Fähigkeiten. Tobias und Mia verschwanden in ihren Kinderzimmern. Tobi war bis mittags in der Internetschule. Mia musste ihre Arbeitsbögen allein durcharbeiten und kam danach zu mir. Wir scannten ihre Aufgaben gemeinsam in den Computer ein und schickten sie an ihre Lehrerin. Kurze Zeit später meldete die sich auf Skype. Lobte unsere Tochter in den höchsten Tönen und schickte die Arbeiten zur Berichtigung zurück. Wobei Mia in der Regel nicht viele Fehler machte. Sie wollte nach der Schule so schnell wie möglich in den Stall und sich nicht mit Berichtigungen aufhalten. Ich konnte in der Zwischenzeit an meinem Manuskript arbeiten. Reiner hatte sich in Absprache mit Karin und deren Mann Sven bereit erklärt, die beiden Jüngsten zu beaufsichtigen. Nach den notwendigen Arbeiten am Haus und im Garten, traf er sich mit meinem Vater und half ihm auf dem Hof und an der Koppelumzäunung. Die beiden hielten Wort. Das Getränkeauto brachte nicht nur Selters, Saft und zuckerfreie Brause, sondern auch diverse Kästen Bier. Es reichte um zwei Meter zwischen Vater und Reiner auszufüllen und als Karins Mann Sven, der einen Kilometer entfernt wohnte und seinen Sohn auf dem Fahrrad abholen wollte, erschien, auch für einen weiteren zwei Meter Abstand für ihn. Karin sah ich nicht. Das abendliche Bier ließ sich Sven nicht entgehen und beteiligte sich mit Freuden an der nächsten Lieferung.

Es war alles schön. Zu schön. Das sorgenfreie Leben trog. Die zwei Wochen Quarantäne, in denen mein Göttergatte und ich öfter als gewöhnlich eine ausgiebige Mittagsstunde im Bett feierten, waren noch nicht zu Ende, als den Männern die Arbeit ausging. Das hatte es in der Familie noch nie gegeben. Auch alle Vorhaben, die die beiden immer vor sich hergeschoben hatten, nahmen Formen an. Mein Mann war von der Arbeit im Finanzamt freigestellt, denn als Beamter hatte er hoheitliche Aufgaben zu erfüllen und das konnte er nicht zu Hause. Akten mussten im Amt bleiben und eine Internetleitung für das Homeoffice wurde vom Finanzministerium als nicht sicher genug verworfen. Reiner räumte seinen Schreibtisch auf, las einige Verfügungen, zu denen er während der Arbeit nie kam und war arbeitslos. „Was soll ich jetzt machen?“, fragte er mich mit einem Anflug von Verzweiflung. Reiner konnte weder Däumchen drehen, noch stundenlang vor dem Fernseher sitzen. „Geh und sattle dein Pferd. Ich mache Mittag und nach dem Ausritt fühlst du dich wohler.“ Er nickte mit dem Kopf, zog die Reithosen an und verschwand auf dem Hof. Das ging drei Tage gut. Am Vierten regnete es. Die Maschinen aus der Scheune fahren und im Stall reiten, wollte er nicht. Er wanderte im Haus umher. Tobias warf seinen Vater aus dem Zimmer. Er störte ihn während der online Stunden, die die Jungs längst für private Nachrichten und PC Spiele nutzten, während der Lehrer ihnen den Rücken zu kehrte. Ein Klassenzimmer war übersichtlicher als zwanzig Schüler zu Hause am PC. Mia reagierte ähnlich. Sie war gut in der Schule und beeilte sich eifrig, alle Arbeitsbögen abzuarbeiten, damit sie zu ihrem Pony kam. So sehr sich mein Mann auch bemühte, es fand sich kein Riss in der Wand, keine kaputte Dachpfanne musste ausgewechselt werden. Im Urlaub teilte sich die Familie stets auf. Während ich mit den Mädchen in der Eishalle weilte, fuhren Reiner und Tobias zur Kartbahn oder zum Klettern. Auch ein Schwimmbad gab es am Ort und Langeweile kam nie auf.
Jetzt war alles anders. Wir konnten uns noch als privilegiert betrachten, auf unserem abgelegenen Hof. Wir durften raus und in den Wald reiten, wann immer wir es wollten. Platz gab es ohne Ende. Nur nichts mehr zu tun. Jedenfalls für den Haushaltsvorstand. Meine Mutter rief an. Opa war außerplanmäßig in ihrer geheiligten Küche aufgetaucht. Sie fühlte sich mit Recht beim Kochen von ihm beobachtet. Irgendwann erklärte er ihr, dass sie die Kartoffeln auch anders schälen könne. Anfangs gefiel ihr sein aufmerksames Verhalten, doch mit der Zeit nervte er sie nur noch. Das ging so weit, dass die beiden, die inzwischen kurz vor der Rubinhochzeit standen, also vierzig Jahre glückliche Ehe hinter sich hatten, in heftigsten Streit darüber gerieten, wie lange der Schweinebraten im Schnellkochtopf bei welcher Temperatur kochen durfte. Mutter hatte gerade das Küchenmesser in der Hand und wollte Tomaten für den Salat schneiden. Sie schluchzte am Telefon. Fast hätte sie Opa umgebracht. Ob sie nun eine Beinahemörderin war, fragte sie mich. Ich beruhigte sie, rief Opa auf dem Handy an und beschwor ihn, nie wieder außerhalb der Mahlzeiten Omas Küche zu betreten. Er versprach es.

Eine Stunde später geschah das Unglück. Ich wollte Reiner erzählen, welches Drama sich heute Vormittag bei Vater und Mutter abgespielt hatte. Er setzte sich an den Küchentisch, sah zu, wie ich das Mittagessen vorbereitete. „Ihr Frauen arbeitet nicht effektiv“, meinte er. Du brauchst keine Extratöpfe für Kartoffeln und Gemüse. Du kannst alles im Schnellkochtopf garen. Das spart Zeit und die Spülmaschine wird nicht gleich voll.“ Ich hatte die Bratpfanne in die Hand genommen um Zwiebeln anzubraten. Es war eine schwere gusseiserne, die mit Sicherheit Schaden anrichtet, wenn man sie jemanden auf den Kopf schlägt. Die Zwiebeln brannten in meinen Augen. Ich musste mir ständig Tränen aus dem Gesicht wischen. Mit feuchtem Blick sah ich mich um. Mein Mann hatte die gefährliche Situation gar nicht wahr genommen. Er befand sich in akuter Lebensgefahr. Aber das ahnte er nicht, als er mich weiter belehrte. „Du brauchst das Gemüse auch nicht so lange auf dem zweiten Ring kochen. Wenn der zweite Ring da ist, kannst du ausschalten. So ein Schnellkochtopf ist ein kleines Wunderwerk an Küchenhilfe. Du machst dir viel zu viel Arbeit und verschwendest auch noch Energie.“ Meine Energie war auf dem Nullpunkt angekommen. Ich stand zitternd vor diesem besserwissenden Beamten, der sich erdreistete, mich nach dreizehn Ehejahren wie ein dummes kleines Mädchen zu behandeln, hielt immer noch die schwere Bratpfanne in der Hand. Ein kleines Teufelchen in meinem Kopf riet mir, ihm das Haushaltsgerät mit aller Kraft über den Schädel zu ziehen. Ich setzte an, hob den Arm. Er grinste und verstand immer noch nicht, wie ernst sich die Lage für ihn zuspitzte.
In diesem Moment klingelte auf dem Flur das Telefon. Hinterher wusste ich, dass der Festnetzanschluss dem Steuerbeamten Reiner Gebhard an besagtem Mittag das Leben gerettet hatte. Reiner stand auf, nahm das Mobiltelefon. Überglücklich kam er einen Moment später zu mir in die Küche. Ich hielt die Pfanne in der Hand. Tränen liefen über mein Gesicht. Die Augen brannten fürchterlich. „Liebling. Entwarnung. Das war der Vorsteher. Meine Probe ist negativ. Ich darf wieder zur Arbeit kommen. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal auf das Amt freuen würde. Morgen geh ich wieder zum Dienst. Freust du dich nicht? Dann bist du mich endlich los. Aber unsere gemeinsamen Mittagstunden, die werden mir fehlen.“ Er drückte mir einen Kuss auf die nasse Wange und ging zur Haustüre hinaus. Ich stand wie versteinert. Die Bratpfanne stellte sich wie von selbst auf den Herd. Noch mehr Tränen liefen mir übers Gesicht. Nur diese kamen nicht von den Zwiebeln. Ich hätte fast meinen Mann erschlagen. Wäre das Telefon nicht dazwischengekommen, ich hätte für nichts mehr garantieren können. Puh, das war knapp gewesen. Was so ein Virus in einer Familie anrichten kann! Ich beruhigte mich nur langsam.

Wir Menschen waren weniger als ein Staubkorn in der Schöpfung. Wir müssen wieder Demut lernen und begreifen, dass wir die Natur nicht restlos beherrschen können. Was im Mittelalter die Pest oder die Pocken waren, sind heute Viren. Der Unterschied besteht nur darin, dass wir inzwischen davon wissen und mit der Hygiene weiter sind. Aber der Natur ein Schnippchen schlagen können wir nicht. Was kommt, das kommt. So, oder so.

Mein Mann gab mir am anderen Morgen einen Kuss und fuhr freudig wie noch nie in seinem Leben, zur Arbeit. Die Kinder hatten sich in ihre Situation gefügt. Von ihnen drohte mir keine Gefahr. Meine Küche gehörte wieder mir. Ich begann die Schubladen und Schränke aufzuräumen. Dabei bemerkte ich meine Pillenschachtel. Sie war hinter das Radio gerutscht und hatte sich zwischen die Lautsprecher verkantet. Ich stutzte. Wie lange hatte sie dort gelegen? Ich zählte nach. Es waren fast alle Tabletten für diesen Monat drinnen. Langsam wurde mir die Tragweite bewusst. Reiner und die Mittagstunde. Gewiss, das Virus nahm uns einige Leben.
85 000 000 Menschen zählte die deutsche Bevölkerung. 10 000 waren davon infiziert. 20 Todesfälle hatten wir bisher zu beklagen. Wer gut in Mathe ist, soll den Prozentsatz ausrechnen. Auch im Mittelalter mussten sich die Menschen der Natur fügen. Und sie starben nicht aus. Sonst gäbe es uns heute nicht. Ich dachte an die Bratpfanne. Fast hätte ich den ersten Corona- Mord begangen. Ich bat Gott um Vergebung und dafür, auf die anderen Menschen zu achten, damit es aufgrund der langen erzwungenen häuslichen Nähe nicht doch irgendwo zu einer Gewalttat kommt. In einigen Wochen werde ich wissen, ob er mich erhört hat. Gott nimmt Leben, aber er gibt es auch. Wenn es ein Mädchen wird, soll es Corona heißen.
 
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