Der Esel

Der Esel​



Longtemps, je me suis couché de bonne heure - und das ist auch bitter nötig gewesen. Die Tage plätscherten dahin und hinterließen nicht einmal den kleinsten Kratzer an der Wand des Vergessens. Dabei waren sie, glaube ich, recht heilsam.



Ich denke leider viel zu häufig an meine Kindheit, an die Unbeschwertheit, an das Gefühl der schrankenlosen Freiheit. Doch in mir sind nur die Schulferien lebendig. Und davon nur die Wochen, in denen ich bei meinen Großeltern auf dem Land weilte. Dort trat mir niemand zu nahe. Die anderen Kinder mieden mich und ich mied sie. Was in aller Welt hätten mir diese pausbäckigen Einfaltspinsel auch bieten können? Mir stand ja eine gut sortierte Bibliothek zur Verfügung, und ich genoss eine Landschaft, die mir die abenteuerlichsten Geschichten erzählte. Das Dumme ist nur, dass sich mit der Zeit selbst die schönsten Träume entzaubern – und auch mir war das vor drei Jahren durchaus bewusst. Dennoch verlor ich mich in der irrigen Annahme, mein längst verflossenes Glück wieder einfangen zu können. Zugegeben, es ist leicht andere zu beleidigen, wenn man doch selbst zu den Einfaltspinseln zählt. Was also sollte meine peinliche Flucht zu einem Ort, in dem die Erinnerung an meine Großeltern erloschen ist? Aber darauf eine Antwort zu finden ist müßig und führt zu nichts. Wie seltsam klein und eng es dort war. So klein und eng wie sich mir die Welt schon im Laufe meines Studiums gezeigt hat. Und wenn diese kleine und enge Welt dann auch noch zuschlägt, hinterlässt sie nur verbrannte Erde.



Damals hatte ich dem reizvollen Angebot nicht widerstehen können, einen schlecht besuchten und daher ordentlich verschuldeten Studentenclub zu leiten. Das war das oft bemühte Licht am Ende des Tunnels. Ich sah endlich eine Aufgabe, einen Sinn. Dieser Club wurde schon deshalb von den meisten Studenten übersehen, weil er abseits der gewohnten Saufrouten lag. Mich aber zog dieser Umstand unwiderstehlich an. Zahllose Abende verbrachte ich dort, einzig um allein unter Menschen zu sein. Und wenn mich der in mein Wesen gelegte Trappist doch einmal plagte, fand ich zuweilen ein gutes Gespräch. Nur in den letzten Wochen meiner Gastrolle musste ich wohl oder übel darauf verzichten. Studentische Besucher blieben nun gänzlich aus. Dafür zeigten sich vermehrt Jugendliche oder eher Straßenkids, die konsequent ihr Ithaka verfehlten. Um ihre - und auch meine - Odyssee zu beenden, übernahm ich kurzerhand die mir ans Herz gelegte Verantwortung für den Club und schloss mich sogleich mit einem Sozialarbeiter zusammen. Nachdem wir gemeinsam ein schlüssiges Konzept entwickelt hatten, flossen die erhofften Fördergelder. Jetzt stand mir nichts mehr im Weg. Es war wunderbar. Ich konnte etwas für mich und für andere tun. Niemand führte mich am Gängelband, und auch ich maßte mir nichts an. Natürlich musste ich einen Rahmen setzen, aber die Kids füllten ihn nach eigenem Ermessen aus.



Zwei wahrhaft glückliche Jahre verstrichen, in denen persönliche Gewinninteressen keine Rolle spielten. Die Jugendlichen wuchsen mit ihren Aufgaben, und ich – ich lebte einzig vom BAföG und dem beruhigenden Gefühl, einer der wenigen Auserwählten zu sein, die auf geraden Wegen wandeln. Es hätte ewig so weiterlaufen können. Doch dann kam ein Schreiben vom Studentenwerk, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich der Leiter eines Studentenclubs sei und es mir in dieser Funktion keineswegs obliege, mich auf dem Feld der Jugendarbeit zu betätigen. Sollte es mir innerhalb der nächsten drei Monate nicht gelingen, genügend studentische Clubmitglieder vorzuweisen, werde der Club unweigerlich geschlossen. Ich verzichtete auf eine mich enervierende und im Grunde überflüssige Korrespondenz und verfing mich in dem Glauben, diese dumme Geschichte in einem persönlichen Gespräch ein für alle Mal aus der Welt schaffen zu können. Aber ich war ja noch jung und ging straff auf die Mitte meiner zwanziger Jahre zu. Es ist schon merkwürdig und auch irgendwie verstörend, dass mich häufig, wenn ich mit mir selbst rede, dieses blödsinnige Gefühl überwältigt, mich vor einem aufgeblasenen Spinner rechtfertigen zu müssen. Im Verwaltungsgebäude des Studentenwerkes empfing mich solch ein Hanswurst, der gleich einem Kalmar zuerst seine Tentakel nach mir ausstreckte, diese dann um meinen Hals schlang und schließlich fest zudrückte. Er wollte kein Jota von der im Schreiben enthaltenen Forderung abrücken und fügte noch hinzu, es sei zwar sehr schön, diesen Club nach zwei Jahren unter meiner bewundernswert erfolgreichen Führung um zwei Drittel seiner Schuldenlast befreit zu sehen, nur verkenne ich bedauerlicherweise die hier üblichen Gepflogenheiten. Im Übrigen, und ich dürfe mich durchaus beruhigen, seien die nicht nur hier üblich, au contraire, hier fordere man nur das, was einem zugebilligt werde und schieße niemals über das Ziel hinaus. Insofern folge man fraglos allen Regeln des Anstands und handle in jeder Hinsicht vernünftig. Unsere Bundesrepublik habe sich doch recht gut sortiert und keiner sei den Absurditäten einer Willkürherrschaft unterworfen wie einst in der glücklicherweise verblichenen DDR. Aus diesem Grunde werde ich gewiss verstehen, dass die Arbeit dieses Hauses auf einem festen und unverbrüchlichen Fundament fuße. Für ihn war das Thema damit abgehakt. Mein Einwand, es sei leider unverkennbar, dass sich die staatlichen Zuwendungen für das Studentenwerk zur sinkenden Schuldenlast eines an das Studentenwerk gebundenen Clubs proportional verhielten, verfügte mich augenblicklich in den Flur - und ich hörte die Tür nur noch lautstark in ihr Schloss fallen. Tja, das war’s wohl gewesen, dachte ich. Was mir jetzt noch bleibt, ist das muffige Einerlei der bürgerlichen Existenz. Ich sah in eine leere Zukunft voller Gier, Ignoranz und Niedertracht. Ich fühlte, wie sich meine Seele langsam von dem Fleisch, das sie trägt, verabschiedete. Als ich aber aus dem Gebäude trat und die klare Luft einatmete, fasste ich wieder frischen Mut.



Die Hoffnung ist und bleibt ein Mysterium. Alle Übel dieser Welt sind sichtbar, doch Pandoras Büchse, in der die Hoffnung begraben liegt, entzieht sich dem menschlichen Auge. Alles ist vergeblich. Es sind nur unsere Illusionen, die uns aufrecht halten und für den nötigen Vortrieb sorgen. Wir stellen unsere Wünsche beständig in den Mittelpunkt und sind vermessen genug, uns zugleich auf ein Piedestal zu heben. Immer verfolgen wir eigene Ziele und können nicht loslassen. In blinder Hatz verachten wir den Weg und alles, was uns auf ihm begegnet. Und für diese uns ewig anhaftende Armseligkeit erwarten wir auch noch gelobt und bewundert zu werden. Es ist abscheulich! Nein, ich bilde mir keineswegs ein, die Finsternis, die uns umfängt, mit meinem Licht zu erhellen. In mir ist nichts, was mich herausragen lässt. Ich bin nur ein Mensch unter Menschen – nicht mehr und nicht weniger. Doch damals hielten sich diese Gedanken von mir fern. Ich war mir ungemein wichtig! Immerhin hatte ich nicht wenig erreicht und glaubte daher, mir regelmäßig links und rechts auf die Schultern klopfen zu dürfen. Die Jugendlichen liebten mich und zeigten ihr gewachsenes Selbstvertrauen. Dass sich der Club nach nur zwei Jahren unter meiner Ägide finanziell deutlich erholt hatte, war mir im Wesentlichen gleichgültig. Ich bedurfte der Anerkennung, der seelischen Zuneigung meiner Mitmenschen. Aber entscheidend war, dass mein Wort etwas galt. Ich dachte nur noch an mich und wollte das bereits Geschaute nicht sehen. Warum auch? Alles lief ja wie geschmiert. Innerhalb weniger Wochen gelang es mir, eine beachtliche Zahl an Studenten für die ohnehin pflichtlose Mitgliedschaft zu gewinnen. Beflügelt durch die Solidarität, die ich durch mein hartnäckiges Werben genossen hatte, eilte ich geradenwegs zum Studentenwerk, traf dort erneut auf den mir schon lieb gewordenen Hanswurst und legte ihm, meines Triumphes gewiss, die Mitgliederliste vor. Ich glaubte auf seinem Gesicht so etwas wie Missmut zu erkennen, und da er keine Anstalten machte, auch nur ein einziges Wort mit mir zu wechseln, hielt ich diese dumme Geschichte für erledigt und ging zurück in den Club. Ja, ich hatte gesiegt. Hierin bestanden vor mir keine Zweifel. Aber schon bald beschlich mich das Gefühl, auf ganzer Linie versagt zu haben. Ich war ja auf keine nennenswerten Widerstände gestoßen und wie nebenher an mein Ziel gelangt. Sicher, ich hatte eifrig und mit viel Energie um studentische Clubmitglieder geworben, doch die Mitgliedschaft war, wie gesagt, unverbindlich und die Herzen junger Menschen erweichen schnell. Und das sollte schon alles gewesen sein? Mehr brauchte ich wirklich nicht zu tun? Nein, in diesem Fall musste mir der Erfolg unbedingt versagt bleiben! Ich hatte verloren, nicht gewonnen. Das war eine unumstößliche Tatsache. So einfach gelangt niemand an sein Ziel! Also blieb mir nur noch eines übrig: möglichst viel trinken, abwarten und auf das Schlechteste hoffen. Die Würfel waren ja gefallen, das Spiel unweigerlich beendet.



Die Gesellschaft kann außerhalb ihres kurzsichtigen und sprunghaften Willens nichts dulden – vor allem dann nicht, wenn der einfältige Samariter über den eigenen Tellerrand zu blicken wagt. Möglicherweise könnte die Barmherzigkeit eines geringen Menschen auch ihr, also der Gesellschaft, nützen - aber wer will schon kleinlich denken?! Immerhin geht es ja um das große Ganze! Und bevor der mündige und sich erhaben wähnende Bürger zur vollen Klarheit gelangt, bleibt seine höchste und ehrenwerteste Aufgabe der vordringliche Gedanke an sich selbst. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, wenn ich die Jugendlichen bevormundet, ihnen die Luft zum Atmen genommen hätte. Wandelnde Tote sind zeit ihres kümmerlichen Lebens formbar und äußerst pflegeleicht. Statt diese noch halben Kinder an Ordnung und Disziplin zu gewöhnen, ließ ich es mit einer mir nach wie vor schleierhaften Fahrlässigkeit zu, dass sie ausschließlich und nur zu ihrem Nutzen Partys organisierten und feuchtfröhlich Unzucht trieben. Aber das ist mir jetzt gleichgültig. Und das war es auch schon, als mich das Studentenwerk nach Ablauf der festgesetzten drei Monate mit einem weiteren Schreiben beehrte. Wie ich bereits erwartet hatte, wurde mir darin die unverzügliche Schließung des Clubs mitgeteilt. Natürlich sind es überaus notwendige Baumaßnahmen, mit denen sich der Eigentümer in solchen oder ähnlichen Fällen stets rechtfertigt. Warum sollte er auch von der üblichen Verfahrensweise abweichen?! Es ist schon lustig zu wissen, dass das Haus noch weitere zehn Jahre auf seinen ursprünglichen Zustand beharrte. Der Vorhang war also gefallen, die Vorstellung ist Geschichte. Der abgehalfterte Schauspieler betrat noch einmal die Bühne, bediente sich der verbliebenen Alkoholika und beweinte vor leergefegten Rängen und in langen Monologen sein widriges Geschick. Dann ließ ich alles stehen und liegen und suchte das Vergessen.



Zum ersten Mal fühlte ich, was Verzweiflung tatsächlich bedeutet. Der eigenen Würde beraubt, vermochte ich nirgendwo einen Sinn zu finden. Selbst die Nähe eines Spiegels, der mir stets ein fremdes Antlitz zeigte, entsetzte mich. Also bin ich einzig in der Hoffnung, nie wieder das Licht eines neuen Tages zu sehen, lange Zeit früh schlafen gegangen. Doch diese Phase meines Lebens ist wichtig, ja sogar nötig gewesen. Zweifellos bedurfte ich dieser Katharsis, um mich nicht länger den allgemeinen Erwartungen zu entziehen und endlich zu einem achtbaren Bürger zu degenerieren. Damit unser gülden Kalb, die geheiligte Wirtschaft, beständig wächst und wir uns in der Illusion eines umfassenden und ewigen Wohlstands suhlen können, bin natürlich auch ich gehalten, fleißig zu arbeiten und hirnlos zu konsumieren. In diesem Sinne gedieh ich zu einem sogenannten Akademiker und versank nach meinem Studium in einer Welt, die ich zuvor nur skizziert kennengelernt hatte. Es gibt jedoch keinen Grund, mich zu beklagen. Immerhin gewann ich etliche Freunde, mit denen ich unvergessliche Erlebnisse teilen durfte. An eines entsinne ich mich mit besonderer Herzenswärme. Einer meiner überaus hochgebildeten und mithin kultivierten Kollegen feierte seinen vierzigsten Geburtstag und hatte sich zu diesem Anlass der Dienste einer der jungen Damen versichert, die sich professionell entkleiden. Die holde Maid tanzt also auf einem Tisch, und als sie sich wie Eva vor dem Sündenfall zeigt, bestreicht sie ihr Hinterteil mit einer kräftigen Portion Schlagsahne. Ihr genügt nur eine obszöne Geste - und schon springen sämtliche virilen Gäste von ihren Stühlen und stürzen sich sabbernd auf sie. Dieses außergewöhnlich nette Mädchen cremt solang nach, bis selbst der letzte Idiot seine Zunge in die süße Masse getaucht hat. Noch heute amüsiere ich mich prächtig, wenn ich an die vielen dummen Gesichter denke. Hingerissen vom Mahlstrom der allgemeinen Wollust, konnte auch ich mich keineswegs enthalten und bereicherte leichtfertig meinen Blutzucker. Wie eng ist doch der Genuss mit dem Widerwillen verbunden. Erst nach Tagen sprang mich die Reue an und ich schwor mir, nie wieder etwas gegen meine Prinzipien zu tun. Mögen mich also meine ehemaligen Kollegen, Freunde und alle anderen selbsternannten Richter einen Esel nennen – das ficht mich nicht an, denn ich bin seither frei und erfreue mich eines ungetrübten Gewissens.
 



 
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