Der Esel als Wahlredner

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rotkehlchen

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„Kinder, wollt ihr wissen, warum der Esel so lange Ohren hat?“
„Au ja!“
„Gut, dann setzt euch hin und hört zu.
Eines Tages beschloss der Esel, Bürgermeister zu werden und für sich zu werben, denn er hielt sich für einen begnadeten Redner. Schließlich konnte er weithin hörbar Ihh – Ahh schreien –“
„Was ist ein Bürgermeister, Opa?“
„Ein Bürgermeister? Hmm . . . nun ja . . . das ist jemand, der es allen recht machen muss.“
„Aha! Du meinst, jemand wie Mama.“
„Was? Unsinn! Hör zu und halt die Beine still. Er stieg auf einen Misthaufen und schrie weithin hörbar: Ihh – Ahh – Ihh – Ahh, und alle Esel in der Nachbarschaft schrien auch Ihh – Ahh – Ihh –Ahh. Dann ging er in die Stadt, kletterte auf den Marktbrunnen und rief wieder Ihh – Ahh – Ihh –Ahh, und alle Esel der Stadt riefen auch Ihh – Ahh – Ihh –Ahh. Ein Rabe, der zufällig vorbei kam – Raben, Kinder, diese großen schwarzen Vögel, gelten seit Alters her als besonders klug und weise – hörte sich den Esel eine Weile geduldig an, dann rief er: He, Esel, kannst du nicht mal was anderes sagen? Doch der Esel rief wieder nur Ihh – Ahh – Ihh –Ahh. Der Rabe schüttelte betrübt den Kopf und sauste so schnell er konnte zu Odin, dem Göttervater. Erhabener, rief er, der Esel –
Ich weiß, sagte der Erhabene, der Esel redet schon wieder Unsinn. Ich werde meine Wölfe Geri und Freki schicken, die werden ihm schon das Maul stopfen. Und so geschah es. Geri und Freki hängten den Esel bei den Ohren an der Kirchturmspitze auf. Da konnte ihn kaum noch einer hören. Doch die Stadesel liebten Geschrei und riefen weiterhin Ihh – Ahh – Ihh –Ahh. Da hing der Esel nun, rang nach Luft, und seine Ohren wurden immer länger.“
„Eine schöne Geschichte, Opa, hast du noch mehr davon auf Lager?“
„Aber natürlich doch! Morgen erzähl ich euch eine andere.“
 

Bo-ehd

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Hallo Rotkehlchen,
feines Märchen, piksauber erzählt. Nur der Dreh mit Odins Raben kommt mir zu abrupt. Der Zeitunterschied zu Odin bzw. seine Gegenwart hätte ein/zwei Sätze zur Klärung verdient.
Gruß
Bo-ehd
 

aliceg

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Hallo Rotkehlchen,

dein Märchen animiert zu abweichenden Handlungssträngen:

z.B. könnte der Rabe als begabter Redner Bürgermeister werden wollen,
und der Esel ihm mit seinem ständig ins Wort fallenden IIHH AAH die Show stehlen wollen,
weshalb der Rabe die Geduld verliert und dem Esel die Ohren langzieht.
Somit brauchen wir Odin nicht, falls du den überhaupt rauskicken willst!

lg aliceg
 

rotkehlchen

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Hallo Bo-ehd, ich dachte weniger an ein Märchen (dann hätt ich´s unter Kindergeschischten eingestellt), sondern an eine poliische Satire in Form einer Fabel.
Der Esel ist ein Kommunalpolitiker einer gewissen rechtsgerichteten Partei, der mit immer dem gleichen einfältigen Geschwätz durch die Lande zieht. Die Vorhaltungen des klugen/besonnenen Zuhörers (= Rabe) beachtet er nicht. Der Kluge/Besonnene bittet die Regierung (Odin), tätig zu werden. Die aktiviert den Verfassungsschutz (die Wölfe), der ihn als Verdachtsfall einstuft und unter Beobachtung stellt. Mittlerweile glauben die Anhänger des Politikers mit den einfachen Antworten sebst, was er ihnen erzählt (sind schließlich Esel). Die Geschichte könnte auch in Amerika spielen.
Ich dachte mir, mach doch mal eine Satire, bei der sogar Putins Schergen nicht auf die Idee kämem, es sei eine. Ist anscheinend gelungen.


Hallo lg aliceg,
natürlich könnte man, doch dann bräuchte ich zwei Raben, denn einer kann schon anatomisch nicht einem Esel beide Ohren auf einmal lang ziehen.

Gruß und Dank an euch.
Rotkehlchen
 

aliceg

Mitglied
Sehr fein durchdacht.

Meiner Meinung nach wäre im Forum "Humor und Satire" der geeignetere Ort, als im 'Sammelbecken' für Kurzprosa.
Und ein zweiter Rabe (als Helfer) hätte dort auch noch Platz. ;)

lg aliceg
 



 
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