Der Fall der Fälle

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Der Fall der Fälle

Ich stelle den Innenspiegel ein, betrachte mein Gesicht. Dunkle Ringe unter den Augen zeugen von schlaflosen Nächten, die Traurigkeit ist noch die gleiche. Ich spüre, wie kalter Schweiß den Nacken hinunterläuft, wie er das T-Shirt durchtränkt. Das Herz pocht stärker.
Vage erinnere ich mich an Jaroslaws Worte. Maximales Risiko, maximale Bezahlung. Hass sei der beste Ansporn.
„Eigentlich ’ne viel zu große Nummer für dich. Aber du bist wie ein Sohn, Ludomir. Und ich konnte mich immer auf dich verlassen.“ Dann verfinsterte sich Jaroslaws Blick, während seine fleischige Hand an seiner Kehle entlangfuhr. „Wenn es schief geht …“
Ich nickte. Was blieb mir auch anderes übrig? Bei Diebstahl, Bruch und Überfall bleibt nie genug. Dieser eine, letzte Job, ohne mit jemandem teilen zu müssen. Die Zeit läuft ab.

Der Arzt gab meinem Jungen noch drei Monate. Maximal – wenn er kein Spenderorgan bekommen würde. Ich informierte mich, sprach mit vielen Leuten. Man wies mich ab. Ich bettelte, flehte sie an. Sie ließen sich nicht erweichen.
Dann ging ich die Sache anders an. Ich ergründete das System, begab ich mich in die Höhle des Löwen. Dem Ersten zahlte ich Zweitausend. Der Nächste verlangte noch mehr. Es kostete all mein Geld, bis ich überhaupt die richtige Person fand, die Einfluss auf die Warteliste hat. Ich schlug vor, das Geld in Raten abzustottern. Keine Chance. Ich musste mir was einfallen lassen.
Dann witterte ich die rettende Chance, als mir Plötschke von dem Job erzählte, den er wegen einer Verletzung nicht ausführen konnte.

Ich hielt Bogdans Hand und versprach ihm, dass er bald gesund werde. Dass wir Drachen steigen lassen, ins Stadion gehen, Bigos kochen würden. Was immer er mochte. Er zuckte noch nicht mal mit der Hand.
Zuhause habe ich mich auf sein kaltes Bett gesetzt und geheult. Habe mir die Fotos von seinem ersten Tag im Kindergarten angeschaut – die letzten Aufnahmen einer glücklichen Familie. Wer hätte ahnen können, wie krank Bogdan tatsächlich ist, dass seine Mutter so plötzlich von uns ging?
Ich habe an seinem Lieblingspulli gerochen, der ihm viel zu klein geworden war, an dem längst nicht mehr sein Duft haftete.
Lange habe ich überlegt, ob ich das Richtige tue.
Auf einen Zettel habe ich Jaroslaw schließlich geschrieben, wem er das Geld geben sollte. Nur für den Fall der Fälle.

Meine Nägel krallen sich ins Lenkrad. Die Adern treten hervor. Jaroslaw hatte Unrecht. Ich muss mir nicht einreden, den Kerl zu hassen. Eigentlich ist mir egal, was er getan hat. Ich tue es für meinen Jungen, mein Gottesgeschenk.
In sieben Minuten kommt er. Der Mann, den ich nicht wirklich kenne. Edler Boss-Zwirn, Lackschuhe, Armani-Brille.
In Gedanken gehe ich wieder die Abläufe durch. Wie der Benz mit den getönten Scheiben anrauscht. Wie es klingt, wenn die Räder über den Gullideckel rollen. Wie sich das Abblendlicht im Tor der Tiefgarage widerspiegelt, bevor es geräuschlos hochgleitet. Wie kurz darauf das gedämpfte Licht in seinem Laden aufflackert und die geschmackvollen Sachen im Schaufenster angestrahlt werden. Dekomaterialien, Wohnaccessoires; Dinge, die jede Wohnung ausschmücken und in ein behagliches Heim verwandeln. Etwas, wofür ich keine Verwendung habe, an dem ich mich nicht erfreuen kann.
Dann mein Moment.
Die entscheidende Sekunde, wenn er von innen aufschließt und die Tür öffnet.

Noch fünf Minuten. Von links fährt jetzt der Schulbus vorbei. Vollbesetzt mit Kindern der Reichen aus dem Süden der Stadt. Deren Eltern müssen sich keine Sorgen machen. Mit ihrem Geld könnten sie sich alles leisten, jede Behandlung bezahlen, mühelos die Ärzte bestechen.
Ich tippe mit den Fingern aufs Lenkrad, werfe einen Blick in den Innenspiegel. Sehe, wie mein Mundwinkel zuckt. Es darf nichts schiefgehen. Keine Zeugen, kein Kollateralschaden. Wieder denke ich an Bogdan. Ob er jemals zur Schule gehen wird? Ich schüttle den Kopf und versuche, die inneren Bilder zu vertreiben, die Gedanken an das Krankenhaus, die Apparate und die Schläuche.
Es will mir nicht gelingen. Noch immer sehe ich den schlaffen Körper vor mir. Bogdans traurige Augen.

In drei Minuten kommt er. Der Mann, der mir nichts angetan hat. Ich öffne das Handschuhfach, lege meinen Rosenkranz hinein, greife nach den Lederhandschuhen und dem Strumpf.
Ich bin gut vorbereitet. Das Nummernschild ist gestohlen, drei Blöcke weiter werde ich auf ein Motorrad umsteigen und zum Ufer am Stadtrand fahren. Die Waffe im Fluss versenken, den Strumpf und die Handschuhe in den Müll werfen. Den Rest lege ich zu Fuß zurück.
Ich will dabei sein, wenn Bogdan nach der OP wieder aufwacht. Ich will erleben, wie er mich anlächelt.

Tagelang habe ich diese Gegend beobachtet. Ich weiß, wann die Frau von nebenan ihren Dackel ausführt, wann der bärtige Alte das Fenster öffnet und eine Zigarette raucht. Jede Bewegung, jeden Luftzug, alle Einzelheiten habe ich aufgesaugt. Es ist der perfekte Plan.
Das Licht im Hausflur nebenan geht an. Jeden Augenblick wird die Frau mit dem Hund herauskommen. Durch den feinmaschigen Strumpf erkenne ich jedoch ein blondes Mädchen. Müsste es nicht in der Schule sein? Ist mir was entgangen?
Mit weit geöffneten Augen schaue ich ihr hinterher, bis sie schließlich mit dem Hund um die Ecke schlendert. Lass dir Zeit!, möchte ich ihr am liebsten noch hinterherrufen.
Sie ist in Sicherheit. Erleichtert atme ich auf.

Der silberne SLK. Er ist pünktlich, auf den Mann ist Verlass. Ich lehne mich zurück, ziehe meinen Kopf ein. Schnell stecke ich noch den Kreuzanhänger meiner Kette unter das T-Shirt.
Das Auto schleicht über den hervorstehenden Rand des Gullideckels. „Klack, klack“. Das gewohnte Geräusch. Das Tor der Tiefgarage fährt hoch. Ein Quietschen. Egal. Nichts Besonderes. Jetzt nicht aus der Ruhe bringen lassen.
Ich kurble das Seitenfenster herunter und brauche zwei Anläufe, um meinen Golf zu starten. Lege den ersten Gang ein und spiele mit Gas und Kupplung. Meine Füße sind ungeduldig, rutschen fast vom Pedal. Während ich versuche, meine verkrampften Schultern zu lockern, rollt das Auto ein Stück den Hang herunter. Schnell trete ich auf die Bremse. Glück gehabt! Ich merke, wie der Schweiß in meine Augen läuft. Jetzt nichts falsch machen, alle Sinne kontrollieren! Beim Wegfahren auf den Wagen vor mir achten!
Erneut greife ich ins Handschuhfach und hole das kalte Eisen heraus. Plötschke hat mir die Sauer P6 genauestens erklärt. Er hat mir empfohlen, nicht alle acht Patronen auf einmal abzufeuern. Noch mindestens eine aufbewahren für einen finalen Schuss. Falls notwendig, aus kurzer Entfernung die Sache endgültig beenden.
Aussteigen, von Angesicht zu Angesicht abdrücken. Ich hoffe, soweit kommt es nicht.
Im Wald, direkt am Autobahnkreuz, habe ich einige Magazine leergeschossen und dabei die Patronen mitgezählt. Ich fühle mich in der Lage, mit den letzten acht Kugeln das nahe und kaum bewegliche Ziel mehrmals zu treffen. Innerhalb kurzer Zeit den tödlichen Schuss abzugeben und zu verschwinden.
Der Schalldämpfer ist schnell aufgeschraubt. So kann man zwar kaum zielen, das ist aus dieser Nähe aber unwichtig. Viel wichtiger ist es, dass der Mündungsknall minimiert wird.
Die Pistole liegt gut in der Hand und sollte mir eigentlich Sicherheit schenken.

Innen geht das gedämpfte Licht an. Ein paar Augenblicke noch, und ich bin wieder weg. Genauso geräuschlos und unerkannt, wie ich gekommen bin. Habe es hinter mir. Bogdan wird gesund.
Ich lege meinen Arm auf die Autotür, stütze die Hand mit der Waffe darauf ab. Richte den Lauf auf die Tür. Gleich öffnet er zum letzten Mal die Tür. Der Mann, den ich nicht kenne, der mir nichts angetan hat. Den ich gleich töten werde.
Meine Hand zittert, der Strumpf scheuert an meinen Wimpern. Heißer Atem lähmt jeden rebellierenden Gedanken. Ich muss im richtigen Moment abdrücken.
Ein Leben für das andere.
Wie in Zeitlupe öffnet sich die Tür. Nur einen kleinen Spalt breit. Mein Finger bleibt gekrümmt, ich kneife die Augen zusammen. Die Tür bewegt sich nicht weiter. Er bleibt im Rahmen stehen, tritt nicht heraus. Meine Hand wird noch feuchter, mein Atem stockt. Er dreht sich leicht zur Seite. Ich muss es jetzt tun. Solange er noch in meinem Schussfeld ist. Es gibt kein Zurück.
Ich zögere. Nun beugt er sich ganz langsam herunter.
Ich hasse ihn! Jetzt!
Dann sehe ich einen kleinen Jungen. Etwa Bogdans Alter. Gleiche Statur. Das gleiche schwarze Haar. Wieder schwirren Bilder durch meinen Kopf. Das Krankenbett, der blasse, kümmerliche Körper.
Zu spät … Mein Finger hat bereits abgedrückt. Das Geschoss freigegeben.

Ein unterdrückter Knall, ein kräftiger Rückstoß. Dann ein kurzer, stummer Aufschrei. Ein dumpfes Geräusch, als der Körper zu Boden sackt. Blut strömt auf den Bürgersteig.
Die nächsten sechs Schuss gebe ich automatisch ab, unnachgiebig, gewissenlos. Ich nehme eine letzte Bewegung wahr, höre ein letztes Aufstöhnen, bevor der Körper in einer Blutlache liegen bleibt.
Absolute Stille.

Regungslos steht der Junge am Türrahmen. Stumm. Keine Reaktion. Ich kenne diesen apathischen Blick, die ähnlich traurigen Augen. Mir wird übel, ich bekomme kaum Luft. Hastig reiße ich den Strumpf vom Kopf und übergebe mich.
Was habe ich getan?
Ich würge den Wagen ab, er macht einen Satz nach vorne. Ein stumpfes Geräusch, als zwei Stoßstangen gegeneinander treffen. Die Alarmanlage des vorderen Autos springt an. Leidige Erinnerungen an das Tönen der Krankenhausapparate.
Ich müsste längst weg sein. Geräuschlos, unerkannt.

Ich betrachte nur stumm die Waffe.
Das laute Dröhnen hat die Idylle in ein Tollhaus verwandelt. Ich sehe, wie Haustüren aufgerissen werden. Leute eilen heraus und schauen neugierig herüber. Ich höre Rufe. Zwei Autos halten an. Man zeigt in meine Richtung, ein Mann spricht in sein Handy. Zwei andere stehen neben dem bewegungslosen Körper und halten sich stumm die Hände vor die offenen Münder.
Eine Frau greift endlich nach dem kleinen Jungen, der noch immer mit stumpfem Blick einfach nur dasteht. Der Junge, der Hilfe braucht. Der Junge, der alleine ist.
Ich lasse den Kopf hängen und heule. Brülle aus Wut, wimmere vor Angst. Lache vor Glück. Mein Job ist getan, Bogdan gerettet.
Eine Patrone steckt noch im Magazin.
Für den Fall der Fälle.
 
Zuletzt bearbeitet:

rainer Genuss

Mitglied
Hallo FF
Die Interaktion zwischen Täter und dem Jungen des Geschäftsmannes, da fehlt mir etwas. Zum überraschenden Moment des "Show down" hat mir eine ausführlichere Beschreibung des Jungen gefehlt.
Müsste der Titel nicht >Für den Fall der Fälle< heißen? oder war das deine Absicht.
Am Schluß würde ich, das >Lache vor Glück< weglassen. In Angesicht des Abschieds wirkt das, vor Glück lachen auf mich unpassend.
LG rainer
 
Hallo Franklyn Francis,

sehr spannend geschrieben. Er wird tatsächlich zum Mörder, um seinem Sohn eine Organspende zu ermöglichen. Unfassbar. Er hinterfragt nicht einmal das Motiv des Auftraggebers, der ihm das Geld für diese OP versprochen hat. Und wenn er dann doch nicht zahlt?
Das "Lache vor Glück." empfinde ich als Sarkasmus. Ich denke, er sagt sich in diesem Augenblick: "Oh, mein Gott. Ich habe das wirklich getan - für meinen Sohn! Ja, verdammt! Für meinen Sohn!" Das Lachen ist gewiss nicht aus Freude, sondern eher vor Entsetzen. Er lacht über sich selbst, weil er mit dieser Tat sich selbst aufgegeben hat - für das Wohl seines Sohnes.

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 
Hallo rainer,

danke fürs Lesen und Kommentieren. Habe mich sehr gefreut.

Die Interaktion zwischen Täter und dem Jungen des Geschäftsmannes, da fehlt mir etwas. Zum überraschenden Moment des "Show down" hat mir eine ausführlichere Beschreibung des Jungen gefehlt.
Ja, stimmt, der Junge ist zu wenig beschrieben. Da ist tatsächlich noch Potential. Auch, um das ganze Geschehen noch mehr wie in Zeitlupe darzustellen.

Ich bin deinem Rat gefolgt und habe das angepasst.
Sekundenschnell, quasi beim Abdrücken der Pistole, stellt der Prota eine äußerliche Ähnlichkeit mit seinem Sohn fest, schießen ihm Gedanken durch den Kopf.

Oder meinst du mit "Beschreibung" nicht die äußerliche, sondern eine szenische, @rainer Genuss?

Müsste der Titel nicht >Für den Fall der Fälle< heißen? oder war das deine Absicht.
Das war Absicht.
Für den Prota ist das sein größter, gefährlichster und letzter Fall oder Auftrag, "Der Fall der Fälle". Am Ende ist die letzte Kugel aufgespart "für den Fall der Fälle", so wie du das auch nennst. Ich habe mich für die erste Schreibweise entschieden, weil sie beides umfassen mag und weil diese Bedeutung für ihn als erstes auftritt.

Am Schluß würde ich, das >Lache vor Glück< weglassen. In Angesicht des Abschieds wirkt das, vor Glück lachen auf mich unpassend.
Dazu melde ich mich später nochmal. Womöglich habe ich das nicht genau genug beschrieben.
Dein Namensvetter hat hierzu auch einen Kommentar geschrieben.

Bis später.
LG, Franklyn Francis
 
Hallo Rainer,

auch dir vielen Dank fürs lesen und kommentieren.

sehr spannend geschrieben.
Das freut mich. Danke.

Er hinterfragt nicht einmal das Motiv des Auftraggebers, der ihm das Geld für diese OP versprochen hat. Und wenn er dann doch nicht zahlt?
Ja, er hat schon mehrere kleinere Fälle für ihn ausgeführt. Es lief immer gut. Die beiden haben gegenseitiges Vertrauen ineinander. Das Wort "Familie" fällt u.a.

Das "Lache vor Glück." empfinde ich als Sarkasmus.
Er lacht über sich selbst, weil er mit dieser Tat sich selbst aufgegeben hat - für das Wohl seines Sohnes.
Ja, so soll das Lachen gemeint sein.
Danke für deine Interpretation. Besser hätte ich es nicht ausdrücken können.

Wünsche dir einen tollen Tag.
LG, Franklyn Francis
 



 
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