Der falsche Dolch

Stalker

Mitglied
Muchnara 9
Der falsche Dolch

„Wir können die Nacht über hier bleiben, aber dann müssen wir verschwinden“, meinte Sylissa und zündete eine auf dem Tisch stehende Öllampe an. In deren Schein wurde nun ihr Gesicht besser erkennbar. Es war schlank aber ohne jene asketische Härte, die für Aylene immer prägender zu werden schien. Fast hätte man die Zauberin für eine zarte Person halten können, wären da nicht ihre strengen eisgrauen Augen gewesen.

„Wir waren öfters hier zu Gast bei den Soldaten, um mit ihnen unsere Unternehmungen abzustimmen“ fuhr sie fort und lächelte leicht über Aylenes erstaunten Gesichtsausdruck. „Askar hatte schon lange eine Vereinbarung mit den hiesigen Kommandanten und Soldaten getroffen, wonach sie etwas von der Beute abbekamen, wenn sie im Gegenzug uns in Ruhe ließen. Wir sind gut damit gefahren und sie sind gut damit gefahren.“ Sie holte Luft. „Aber jetzt ist es damit aus und vorbei. Askar brach das Abkommen, und vermutlich liegen die beiden Soldaten dieses Stützpunktes jetzt in irgendeiner Schlucht.“
„Ihr habt zwei Soldaten umgebracht?“, fragte Keron.
„Askar hat sie umgebracht, um das Geheimnis für sich nutzen zu können.“
„Welches Geheimnis?“, fragte Keron weiter.

Sylissa lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah Aylene an.
„In der Nacht, in der wir zusammen in die Scheune gingen, war die Entscheidung längst gefallen, dich an die Soldaten auszuliefern.“
Aylene erwiderte den Blick.
„Warum? Was habe ich euch getan, dass ihr mir das antatet? Mich so zu verraten?“
„Weil du uns längst verraten hattest.“
„Was?“
„Sei doch ehrlich zu dir selbst!“, forderte Sylissa. „Warst du mit uns jemals wirklich zusammen? War dein Zögern beim Überfall durch Vorsicht, durch Angst oder nicht doch durch Zweifel verursacht?“

Aylene schwieg kurz, dann antwortete sie:
„Vielleicht wollte ich euch verlassen, aber nicht verraten.“
„Das sagst du jetzt. Nein, es war richtig, dich auszustoßen.“
„Was weißt denn du!“, rief Aylene aufgebracht und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Was glaubst du, was sie in ihren Gefängnissen machen? Was sie dort mit einer Frau machen?“

Sylissa senkte nur kurz den Blick, dann sah sie Aylene wieder an.
„So war das nicht geplant gewesen, Samara. Die Soldaten sollten dich verschonen. Askar meinte, deine Eltern würden dich freikaufen.“
„Du meinst den Askar, der dich beseitigen wollte?“
„Ja.“
„Und was hast du dir dabei gedacht?“
„Das, oder sie würden dich aufhängen.“
„Macht das für dich keinen Unterschied?“
„Du hast es dir selbst zuzuschreiben.“

Keron Augen sprangen hilflos zwischen den beiden Frauen hin und her. Schließlich nahm er Aylenes Hand und drückte sie tröstend. Sie schwieg, so blickte er Sylissa an und wollte etwas sagen, doch sie kam ihm zuvor:
„Ich hoffe, wenigstens du und dein Vater habt sie in Ruhe gelassen.“
„Was? ... Oh nein, wir sind Bauern und keine Soldaten“, erwiderte er mit verächtlicher Stimme.
„Du hältst wohl nicht viel von ihnen?“, fragte Sylissa, aber Keron antwortete nicht.

Endlich unterbrach Sylissa das bedrückende Schweigen.
„Wie gesagt, es war mit den Soldaten vereinbart, dass ich Samara bewusstlos mache. Sie sollten sie dann gefangen nehmen und danach die Scheune anzünden.“
„Samara?“
„Das ist ihr richtiger Name.“ Sie deutete auf Aylene, die aber weiter stumm blieb. „Genau genommen Samara De Veracas.“ Sie grinste über Kerons Überraschung. „Ja, ihr habt die Tochter eines Adeligen als Sklavin bekommen.“
„Oh ...“
„Aber das ist jetzt unwichtig“, meinte Sylissa und wurde wieder ernst. „In der Scheune trafen wir dann auf dich und deine Tochter. Das war natürlich nicht geplant. Vor Überraschung schoss ich einen Feuerball auf euch ab, doch er traf Samara an der Schulter. Zum Glück war der Feuerball nur klein, so wurde sie lediglich nach vorne geworfen, ohne größere Verbrennungen zu erleiden. Der Feuerball erlosch, und im Dunkeln hörte ich dann die Schritte der sich nähernden Soldaten. Ich glaubte alles wäre in Ordnung und schlich mich weg.“
„War das alles?“
„Nein!“, erwiderte Sylissa und grüne Augen blitzten ihn zornig an. „Was dann geschah, ist niemals so vereinbart gewesen.“
„Ich kann mich leider an Nichts mehr erinnern, aber Farah hat immer von einem Mann mit einer Laterne erzählt, der sie erstechen wollte. Das kann ich aber nicht glauben.“
„Glaube es nur, denn es ist wahr. Einer der Soldaten hat versucht, deine Tochter zu töten.“
„Aber warum?“, fragte Keron. „Nur, um ... Samara einen Kindesmord anzuhängen?“ Er wandte seinen Kopf der immer noch schweigsamen Frau zu. Ihre unbewegten Gesichtszüge waren in dem Licht der Öllampe besonders gut zu erkennen, und er spürte das Zittern ihrer verkrampften Hand.
„Das habe ich mich auch oft gefragt“, meinte Sylissa weiter. „Aber ich konnte nie einen Grund finden.“ Sie wandte sich an Samara. „Wüsstest du einen, Samara?“

Samara brach ihr Schweigen.
„Nein. Natürlich hat meine Familie auch Feinde, aber dessen Macht wirkt nicht hier in der Umheide. Außerdem geht es denen immer nur um Gold.“
„Außerdem war es Zufall, dass wir überhaupt in der Scheune waren“, warf Keron ein.
„Das glaube ich auch“, bekräftigte Sylissa trocken. „Denn es war ein Idiot und kein geübter Mörder, der zustach.“
„Wie meinst du das?“, fragte Samara. „Weil Farah überlebt hat?“ Sie blickte zu Keron, der aber ruhig blieb.

Sylissa hob demonstrativ ihre rechte Hand und streckte zwei Finger aus.
„Er hat gleich zwei Fehler gemacht: Das Opfer hat überlebt und er hat einen Beweis hinterlassen, dass du nicht die Täterin gewesen sein kannst.“
„Was für ein Beweis?“, fragte Samara gespannt.
„Die Verletzung des Kindes passt nicht zu deinen Waffen. Sie stammt eindeutig von einem zweischneidigen Dolch, und so einen hast du nicht dabei gehabt.“

Die Zauberin ließ in der entstandenen Stille ihren Blick über ihre beiden Zuhörer schweifen. Während Samaras Erstaunen unübersehbar war, schien der Mann noch nicht verstanden zu haben. Das war auch nicht zu erwarten gewesen, denn er hatte sicherlich nie eine militärische Ausbildung erfahren. Als ihre Blicke sich trafen, fragte er:
„Hat Samara denn keinen Dolch dabei gehabt?“
„Doch“, antwortete Sylissa. Sie zog ihren eigenen Dolch aus der Scheide und legte ihn vor sich auf den Tisch.
„Samara trug immer einen Dolch wie diesen bei sich.“
„Das stimmt“, bestätigte Samara. „Außerdem ein Messer und ein Kurzschwert.“ Sie blickte kurz zu Sylissa, die auffordernd nickte. „Aber in der Scheune habe ich nur den Dolch gezogen.“ Sie deutete auf die Klinge. „Das ist eine militärische Waffe, ein sogenannter Rüstungsstecher. Er ist nicht zum Schneiden gebaut worden, sondern zum Zustechen. Die Klinge hat einen fast quadratischen Querschnitt und ist dadurch sehr fest, man kann mit ihr sogar leichte Rüstungen durchschlagen, ohne dass sie abbricht.“ Sie machte eine entschuldigende Geste. „Genau genommen ist es also gar kein Dolch, denn die haben immer zwei Schneiden. Aber meistens nennt man ihn dennoch so, weil er ihn ersetzt hat und wie Dolche ebenfalls zum Stechen gedacht ist.“

Keron hob den Rüstungsstecher auf und betrachte ihn genauer. Er war überraschend schwer und erzeugte ein ihm unbekanntes Gefühl in ihm.
„Ja ...“, meinte er nachdenklich. „Jetzt verstehe ich. Dieser Dolch würde ein Loch hinterlassen, aber Farahs Verletzung war ein Schlitz.“
„Genau“, bekräftigte Sylissa. „Doch Samara soll damit zugestochen haben. Laut amtlichem Bericht soll er sich mit Blut beschmiert in Samaras Faust befunden haben. Messer und Schwert sollen noch in ihren Scheiden gesteckt haben, und zu ihnen würde die Verletzung ebenfalls nicht passen. Also muss es jemand anders gewesen sein.“

Sylissa wartete ab, bis Keron den Dolch wieder auf den Tisch zurücklegte. Es war gut zu erkennen, wie es in seinem Gesicht arbeitete, doch er sagte nichts.
„Lange Zeit ist das niemandem aufgefallen“, fuhr sie fort. „Vorgestern Abend war ich mit Janon in der Herberge ‚Schwarzer Eber’. Wir kennen dessen Wirt gut und kaufen von ihm gelegentlich einige der Sachen, die wir auf andere Weise nicht bekommen können. Perimor, das war einer der Soldaten vom Stützpunkt, war ebenfalls dort. Wir setzten uns in einem abgesonderten Nebenzimmer zusammen, um bei der Gelegenheit einige neue Absprachen zu treffen. Wir wollten schon aufbrechen, als ein mir Unbekannter hinzukam. Zuerst habe ich mich gewundert, weshalb der Wirt ihn in den Raum gelassen hatte, könnte er doch mich oder Janon als Räuber erkennen, aber der Fremde hatte den Wirt einfach stehen gelassen und war schnurstracks zu Perimor gegangen, den er offensichtlich gut kannte. Es war Malorus, der Garnisionsarzt.“

Dieses Mal war es Keron, der sofort begriff.
„Malorus!“, rief er aus. „Farah leidet immer noch unter der Verletzung, und wir haben lange sparen müssen, um uns einen richtigen Arzt leisten zu können, der sich damit auskennt. Hat er den Widerspruch entdeckt?“
Sylissa nickte. „Ja, und er bestand darauf, es zu melden. Perimor versprach, das sofort nach seiner Rückkehr, die er für Heute morgen plante, zu machen.“ Frustriert fuhr ihre Hand durch die Luft. „Auch wenn Perimor später mir gegenüber versprach, es sich noch einmal zu überlegen, so war mir klar, er würde es tun, denn ich konnte geradezu fühlen, was er dachte: Ich hätte es getan und eine falsche Spur gelegt.“
„Das würde ich nun auch glauben“, warf Samara ein, „hätte nicht Farah von einem Mann erzählt.“

Sylissa warf ihr einen seltsamen Blick zu, dann sprach sie weiter: „Janon und ich trennten uns. Währen ich mich um Malorus kümmerte, sollte er zu Askar eilen, um eine Meldung der Soldaten zu verhindern.“
„Deswegen habt ihr alle umgebracht?“, fragte Samara.
„Nein!“, erwiderte Sylissa und machte eine um Geduld bittende Geste zu Keron, der zwar stumm blieb, aber sichtlich um seine Beherrschung rang. „Hört mich erst ganz an und urteilt danach!“ Sie warte ab, bis Keron sich etwas entspannte.
„Ich brauchte Malorus nicht zu töten, denn er war leicht einzuschüchtern. Als ich dann zum Stützpunkt aufstieg, um mich dort mit Askar zu treffen, hatte er bereits die beiden Soldaten getötet.“ Sylissa schüttelte ihren Kopf. „Das war dumm von ihm gewesen. Ich stritt mich mit ihm, und als er auch noch seinen Plan offenbarte, das Kind zu entführen, um seine ehemaligen Auftraggeber damit erpressen zu können, kam es zum Bruch.“

„Was hättest du getan?“, fragte Samara in die entstandene Stille hinein.
„Dasselbe wie bei Malorus. Ich hätte alle zum Schweigen gebracht, aber möglichst ohne sie zu töten.“
„Warum nicht?“
„Weil es zu auffällig wäre.“
Sylissa ignorierte ihren zweifelnden Blick und wandte sich Keron zu. „Die Soldaten müssen jeden Tag eine Parole melden. Wegen des Regens konnten sie das Heute nicht mit dem Spiegel machen, aber spätestens in der Nacht wird man die Parole mit einem Feuer in der Garnison erwarten. Das nimmt man hier an der Grenze sehr genau und man wird bei seinem Ausbleiben sofort eine Truppe zum Nachsehen schicken. Deswegen war Askar auch in Eile. Er muss sein Versteck erreichen, bevor seine ehemaligen Partner bemerken, dass er die Vereinbarung gebrochen hat.“
„Du weißt, wohin sie Farah bringen?“, fragte Keron.
Sylissa nickte. „Es kommt nur ein Versteck in Frage, alle anderen sind zu unsicher.“

Als Keron nachdenklich schwieg, schlug Samara vor: „Wenn du es uns verrätst, könnten es den Soldaten mitteilen. Dafür würden wir ihnen auch sagen, dass du weder Farah verletzt hast, noch mit den Morden etwas zu tun hast.“
Sylissa schüttelte langsam den Kopf. „Ich will Askar haben. Er soll mir für seinen Verrat büßen.“
„Ist dir das so wichtig? Wie sollen wir ohne die Unterstützung der Soldaten Farah retten?“
„Du hast noch nicht ganz begriffen. Die Soldaten würden das Mädchen ohnehin nicht retten wollen. Im Gegenteil, sie und ihre Kommandeure werden ihre Geschäfte mit uns vertuschen wollen, und sie haben ihre Bereitschaft zu allen Mitteln bereits deutlich gezeigt. Nein, nur wir können sie retten. Dabei helfe ich euch, wenn ihr mir helft, Askar zu bekommen.“
Samara machte ein unglückliches Gesicht und sah Keron an.
„Damit könnte sie Recht haben“, meinte Keron nickend und wandte sich an Sylissa: „Aber wir müssten dir vertrauen können.“
„Kann ich euch vertrauen?“ Sylissa zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wir haben keine Wahl als zusammenzuarbeiten, wollen wir das Ziel erreichen.“
„Und dann?“
„Danach trennen wir uns wieder.“ Sylissa stand auf. „Überlegt es euch bis Morgen früh.“

*​

Keron hatte den Frauen die beiden schmalen Betten überlassen, während er selbst am Tisch sitzen geblieben war, um, wie er sagte, über alles nachzudenken. Doch er fand zu keinem klaren Gedanken. Im Gegenteil, die Gedanken fingen an, ihn zu finden. Keron sprang auf und eilte hinaus auf das Plateau, wo er ruhelos umherging. Er versuchte, seine Gedanken, wenn er sie schon nicht ausschalten konnte, so wenigstens unbeachtet vorbeiziehen zu lassen. Doch sie umschlichen ihn weiter wie Raubtiere, und manchmal, wenn er zu sehr aufpasste, sprangen sie ihn an. Es waren quälende Erinnerungen an eine Zeit, die nicht wieder kommen würde. Es hatte keinen Zweck, er konnte ihnen nicht davon laufen. Keron blieb stehen.

Er hatte sich mit seinen Eltern mehr als einmal über ihren Tod unterhalten, und es war stets Hildes und Ragars feste Überzeugung gewesen, er solle nicht über Dinge trauern, die unabänderlich waren. Nein, ihr Tod war nicht die Quelle seiner Unruhe, sie war es nie gewesen. Keron spürte, wie langsam seine Trauer und Wut über den Mord an seinen Eltern einer seltsamen, kaum zu greifenden Ernüchterung wich.

Er sah wieder, wie sich seine Mutter sterbend auf dem Stuhl krümmte.
Warum versteht ich immer erst, wenn es zu spät ist?
Erst in diesen wenigen Minuten vor ihrem Tode hatte er erkannt, wie sehr Hilde immer unter ihrem ... Versagen ... gelitten hatte. Es war dieser innere Schmerz, der sie krümmte, die Verdammnis, niemals gutmachen zu können, was sie glaubte, getan zu haben. Damals, als sie Janina abgeholt hatten.
Und was habe ich getan?

Es war ein Abschied auf immer gewesen. Hätte er das damals geahnt, er hätte es verhindert.
Zu spät!
Hätte er nicht Angst um jenes lebende Bündel gehabt, das Janina ihm in die Arme gelegt hatte, er hätte es verhindert. Hätte Janina ihn nicht so angesehen, er hätte es verhindert. Hätte er nicht ...
Ausreden!
Keron stieß an den Zaun. Die unerwartete Berührung löste ihn kurz aus seinen Gedanken, und er presste seine Hände um das Holz.

*​

Auch Samara fand keinen Schlaf. Sie grübelte über Sylissas Worte. Wie lange sie auch nachdachte, wie oft sie auch die Worte drehte und wendete, sie kam zu keinem Schluss. Doch machte es Sinn, die zu fragen, der sie nicht traute?

„Sylissa?“, fragte Samara schließlich leise.
„Ja?“, kam es wach zurück.
„Willst du wirklich Farah retten?“
Ein leises Lachen erklang. „Auf diese Frage habe ich gewartet, seit du mich so zweifelnd angesehen hast.“
„Weiche mir nicht aus.“
Das Lachen verstummte. „Das will ich gar nicht, Samara. Vielleicht hätte ich das Kind getötet. Vielleicht aber auch nicht, ich weiß es nicht. Doch jetzt ist es mir egal.“
„Wirklich? Jemand könnte Perimors Gedanken erneut aufgreifen und dich anklagen.“
„Nein, bestimmt nicht. Man wird es vertuschen wollen, und dabei keinerlei Skrupel haben.“
„Meinst du? Es können doch nicht alle darin verstrickt sein.“
„Das nicht, aber man hat in dir bereits eine Schuldige gefunden, wozu also eine Neue? Damit würden sie nur einen Fehler zugeben.“
„Du glaubst nicht an Gerechtigkeit?“
„Glaubst du etwa noch daran? Nur zu! Erzähle ihnen, ich wäre es gewesen und du könnest es beweisen.“
„Ich würde niemals jemanden absichtlich fälschlich einer solchen Tat bezichtigen.“
„Tatsächlich? Das wäre doch eine schöne Rache an mir, oder nicht?“
„Ich bin nicht du.“
Sylissa schnaufte verärgert. „Hör mal! Sitz nicht so auf dem hohen Ross und spiele den Moralprediger! Du kennst mich kaum und bildest dir dennoch ein, mich beurteilen zu können. Ja, ich war nur deswegen gegen Askars Plan, weil ich mich nicht mit Mächten anlegen will, die mir über sind. Aber nein, ich hätte nicht alles um das Kind herum abgeschlachtet, nur weil es einen Vorteil bringen könnte. Glaube das jetzt, oder lasse es sein!“

„Gut, in Ordnung“, meinte Samara nach einer Pause beschwichtigend. „Jetzt würdest du Farah also retten wollen?“
„Ja, wenn ihr mir bei Askar helft.“
„Habe ich dein Wort, dass du es ehrlich meinst?“
„Wenn du Wert darauf legst, kannst du es gerne haben.“ Sie seufzte. „Also gut: Du hast mein Wort, dass ich Farah retten will. Ich will nur eure Hilfe für Askars Kopf als Gegenleistung haben. Das meine ich ehrlich und ohne Hintergedanken.“
„Du hast sie eben zum ersten Mal bei ihrem Namen genannt“, meinte Samara.
„Du hast ihn auch oft genug genannt“, erwiderte Sylissa.

Samara brauchte nicht mehr nachzudenken, ihre Entscheidung war gefallen. Sie stand auf und tastete sich durch den Raum hindurch auf das durch den Türspalt schimmernde Mondlicht zu. Sie schlüpfte durch die angelehnte Tür in das Freie und sah sich suchend um. Sie entdeckte Kerons breite Umrisse sofort. Einen Moment zögerte sie, die bewegungslose Gestalt anzusprechen, die sich so schwer auf den Zaun stützte, als wenn sie darüber nachdächte, ob sie sich in die Tiefe stürzen sollte.
„Keron?“, fragte sie vorsichtig.

„Keron?“, fragte sie erneut. „Kann ich dir helfen?“

„Wir haben sie im Stich gelassen, als die Soldaten sie holten“, flüsterte er ohne sich zu bewegen. „Sie wollte es so, wegen ihres Kindes. Als ich endlich wagte, nach ihr zu fragen, wusste niemand etwas. Angeblich wären es keine Soldaten gewesen, logen sie.“
„Was?“, fragte Samara verwirrt.
„Janina. Sie war eine Jägerin. Verstehst du jetzt?“
„Nein, aber bitte erkläre es mir.“

Die Gestalt drehte sich zu ihr um.
„Janina war meine Frau. Wir waren beim Essen, als eine Gruppe von Soldaten Einlass verlangte, um sie mitzunehmen. Man müsse ihre Anwesenheit bei uns untersuchen.“
„Sie haben deine Frau einfach so mitgenommen?“
„Entweder sie komme freiwillig mit, oder man würde auch ihr Kind in die ‚Untersuchung’ mit einbeziehen, drohten sie. Was hätten wir machen sollen?“
Samara fiel keine Antwort ein.
„Ich sehe den Schmerz in ihre grünen Augen noch immer, als sie mir Farah auf den Schoß legte. Das ist meine letzte Erinnerung an sie.“
„Du glaubst, sie haben sie umgebracht?“
„Es geschah während der Jäger-Pogrome.“

Samara erinnerte sich an Erzählungen über diese Zeit, als eine Welle zügellosen Hasses auf alles Fremde über das Land geschwappt sein soll. Das Volk der Jäger war davon besonders betroffen gewesen, und es gab Gerüchte, wonach die Soldaten beider Grenzfürsten nicht unbeteiligt gewesen sein sollen.

„Ich will dich nicht mit meinen Erinnerungen belasten“, fuhr Keron fort. „Nur, damit du verstehst, weshalb ich keinem Soldaten mehr vertrauen kann. Es war die reine Verzweiflung, die mich hier hergetrieben hat. Ehrlich gesagt, es tut mir nicht einmal Leid um die Beiden.“
„Hältst du sie für schuldig?“
„Nein!“, schnaubte Keron. „Damals müssen sie selbst noch Kinder gewesen sein.“ Unsicher zweifelnd schüttelte er seinen Kopf. „Aber dennoch ... Natürlich ist das ungerecht von mir, aber ich kann nicht anders. Sogar diese Diebin ist mir lieber als sie.“
„Du willst ihren Vorschlag annehmen?“
„Ja.“ Er streckte seinen Arm aus und legte seine Hand auf Samaras Schulter. „Ich weiß, was ich dir damit zumute.“
Samara nickte. „Das ist in Ordnung. Ich wollte es gerade selbst vorschlagen.“
„Tatsächlich?“ Kerons Stimme drücke Verwunderung und Erleichterung zugleich aus.
„Sylissa mag kein Gewissen haben, aber sie lügt nicht“, meinte Samara.
 



 
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