Der Fensterplatz

Rebecca

Mitglied
Krebs war die Diagnose. Er war niedergeschmettert. An diesem Tag mußte er wieder einmal zur Chemotherapie ins Krankenhaus. Er mußte sich das Zimmer mit einem Mann teilen, dem gerade die Niere entnommen wurde. Das war doch keine größere Sache. Aber dieser Kerl hatte das Bett am Fenster bekommen. Verdammt, warum hatte er nicht diesen Platz bekommen, schließlich war er todkrank. Er mußte sterben, hatte Krebs. Das war ein Grund diesen Platz zu beanspruchen. Der andere erzählte ihm, wie das Leben sich vor dem Fenster abspielte. Doch das war keine Entschädigung. Er dachte, daß es schön wäre rauszusehen und die Leute zu
beobachten. Er wollte diesen Platz unbedingt haben.

Jeden Tag erzählte der andere von den Vögeln und dem Eichhörnchen, das täglich zu Besuch kam. Nachts erzählte er von den Sternen, die silbrig in der Dunkelheit glänzten, und von den Menschen, die ihre Verwandten und Freunde besuchten. Er wurde traurig. Freunde, Familie, das waren gute Dinge. Die hatte er auch mal, aber das war lange her. Wenn man älter wird, sterben die meisten einfach weg. Er war allein und hatte keine Familie mehr. Menschen zu beobachten wäre ein Trost gewesen, aber ein anderer hatte den Fensterplatz. Er mußte diesen Mann loswerden und wollte sehen, was dieser sieht. Er wollte ein wenig mehr als nur die Einsamkeit. Das Leben war nicht besonders zimperlich mit ihm umgegangen.

Seine Frau starb bei der Geburt seiner Tochter. Die war gerade sechs Jahre alt, als ein betrunkener Autofahrer sie überfuhr und ihm ins Gesicht lachte. Jetzt lag er auch noch an der Tür und konnte nicht hinaussehen. Was für ein beschissenes Leben, dachte er. Doch er konnte nichts machen. Die Einsamkeit und die schreckliche Langeweile zerfraßen ihn. Der andere hingegen war immer gut gelaunt und erzählte ihm von den Dingen, die draußen passierten. Der genoß es auch noch, ihn zu demütigen. Er konnte sein Gerede nicht mehr mitanhören, immer das Gleiche Tag für Tag.
"Mich interessieren Ihre Erlebnisse in Afrika nicht, und auch nicht wie Sie mit dem Krokodil gerungen haben", schnauzte er den anderen an.
"Schon gut. Ich sage ja schon nichts mehr. Ich dachte nur..."
"Ja, denken ist nicht gerade Ihre Stärke. "
Aber dann eines Nachts krümmte sich der andere schmerzerfüllt in seinem Bett und schnappte nach Luft. Das war der Moment der Entscheidung. Ein Leben für einen Fensterplatz? Er hätte den Klingelknopf leicht erreichen können. Aber warum? Nur damit er ihm weiter zuhören mußte, wie der vom Krieg und Reisen erzählte, oder ihm vorschwärmte, wie wundervoll es war, Leute zu beobachten. Nein. Ignorieren, einfach nicht darauf reagieren." Ich habe geschlafen, Herr Doktor. Ich habe ihn leider nicht gehört. Ich habe geschlafen. Ich habe ihn nicht gehört." , würde er einfach sagen. Niemand könnte mir einen Vorwurf machen. Es war nicht meine Schuld, dachte er und schloß die Augen. Der andere rührte sich nach kurzer Zeit nicht mehr. Es war still. Eine Totenstille herrschte. Er drehte sich um. Der andere lag ruhig in seinem Bett. Plötzlich schoß es ihm durch den Kopf: Er bewegt sich nicht mehr. Wahrscheinlich ist er tot. Ich habe ihn umgebracht.
Mein Gott, ich habe einen Menschen getötet. Aber ich habe doch nur geschlafen. Es ist nicht meine Schuld, nicht mein Fehler. Es war ein Unfall.
Doch er hätte ihn retten können, ein Knopfdruck nur. Diese Nacht schlief er nicht.
Am nächsten Morgen wurde das Nachbarbett geräumt und frisch bezogen. Der andere war in dieser Nacht erstickt. Der Arzt fragte ihn, ob er etwas gehört oder bemerkt hatte.

"Nein, tut mir leid. Ich habe fest geschlafen und nichts bemerkt. Ich mache mir schreckliche Vorwürfe deswegen. Der arme Mann. Ich habe ihn sehr gemocht. Er war ein so guter Gesprächspartner" , log er den Arzt bei der Visite an. Er fragte ihn, ob er nicht ans Fenster dürfte. Der Arzt nickte. Die Pfleger schoben ihn rüber.Jetzt konnte er endlich hinaussehen und die Leute beobachten. Das stand ihm auch zu. Er hatte es geschafft, er hatte den Platz bekommen. Wie herrlich. Aber was sah er dort. Kein Park, keine Menschen, kein Leben. Nur eine dreckige, alte Mauer, die ihn anstarrte. Wieso nur? Warum immer er? Er war ein todkranker Mann, der sich nur wünschte, etwas zu sehen , was gar nicht da war. Hatte er einen Menschen auf dem Gewissen, nur um eine Mauer anzustarren? Er hatte wegen einer Mauer getötet. Schuld überkam ihn. Angst und ein schreckliches Gefühl drängten sich in seinen Kopf. Er konnte weder essen noch schlafen. Seine Gedanken kreisten nur noch um diese Nacht. Ein Knopfdruck nur, es wäre so einfach gewesen. Warum hatte er es nicht getan? Schließlich wanderten seine Finger zum Knopf und drückten ihn.
Wenige Minuten später kam eine Schwester ins Zimmer. Doch was sollte er ihr sagen? Etwa: Schwester, ich habe gestern nacht einen Menschen getötet? Das war wohl kaum das Richtige. Panik überkam ihn. Er wäre am liebsten fortgelaufen. Aber er war zu schwach. Die Schwester lächelte freundlich und fragte: " Kann ich etwas für Sie tun? " Ihm stockte der Atem, und er zitterte vor Angst. Dann meinte er nur: " Nein. Nichts. "
 

gladiator

Mitglied
Hmm....

...eigentlich eine gute Idee, und auch gut erzählt. Trotzdeem fühle ich mich als Leser unbefriedigt.

Nur eine dreckige, alte Mauer, die ihn anstarrte. Wieso nur? Warum immer er?
Hier hatte ich erwartet, daß der Krebskranke erkennt, daß der Nierenkranke (oder so) ihn mit seinen Lügen von der schönen Aussicht aufheitern wollte. Oder wollte er sich nur über ihn lustig machen?

Der genoß es auch noch, ihn zu demütigen.
War das wirklich so? Oder ist es nur die verquere Sicht des Protagonisten?

Fragen, die ein Text nicht aufwerfen sollte.

Außerdem ist mir das Ende zu langgezogen, ich hätte bei der Entdeckung der Mauer aufgehört.

Gruß
Gladiator
 

Ingwer

Mitglied
-I-

Ich finde den Absatz, der erzählt, wie der Bettnachbar stirbt zu ausformuliert- das nimmt ein wenig Spannung, finde ich.
Besser würde mir zum Beispiel gefallen, wenn der Krebskranke träumen würde, wie er den anderen umbringt (oder sich einfach in den Gedanken hineinsteigert), und nach erneutem Einschlafen und Aufwachen morgends dann feststellt, dass alles wahr geworden ist.
Würde sehr nachdenklich machen- fast schon philosophisch:
Ist es der Wille, der zählt oder die Tat?
Meiner Meinung nach würde das die glatte Geschichte ein wenig kantiger machen- und mehr zum Nachdenken anregen.

Nur eine Idee.

Liebe Grüße
Ingwer
 



 
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