Der Feuervogel

hades

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Der Feuervogel

Am Anfang der Zeit erhob sich aus dem Rachen des gewaltigen Vulkans am östlichen Kreise der Erde zusammen mit glühendem Stein und Asche ein großer schöner Vogel, lange bevor der Urahn unserer Gattung das Wasser verließ.
Myriaden von Jahren hatte das Ei des Feuervogels auf dem Grunde des Vulkans gebrütet um just am ersten Tag der Erdenklichkeit in der brodelnden Glut des Feuers die diamantene Schale zu brechen. So wie die schützende Schale des Eies war das Gefieder des Vogels aus feinstem Diamant und über hunderte von Meilen erstrahlte das glitzernde Feuer seines Kleides.
Tausende von Meilen erhob sich der Feuervogel über dem glühenden Schlund, und er trug das Bewusstsein der Welt in sich.
Nachdem er über Tage, Wochen und Monde im steilen Flug den äußersten Erdkreis erreichte, fürchtete er die schützende Kraft der Erde zu verlassen und schwenkte in eine Bahn, auf der er fortan die Erde umkreiste. Unzählige Male umflog er die Erde, indessen viele Millionen von Jahren vergingen.
Da der Vogel alles Bewusstsein in sich trug, verging die Zeit nicht vergebens. Er dachte nach über die Bedeutung seines Seins und kam zu dem Schluss, dass all dieses Feuer der Erde der Teil eines großen Ganzen sein müsse, entstanden, um ihn, den Feuervogel, hervorzubringen. Am Anfang war das Ei, dachte er, und dieser Gedanke manifestierte sich in ihm. Im Fluss der Zeit erkannte er hinter all dem Sein eine Bedeutung. Lange vor seiner Geburt mussten diese Feuer bereits gebrannt haben und die lodernde Glut war kein Selbstzweck. All das Flackern und Brennen führte zu einem Ziel: ihn zu gebären und zum Träger des Bewusstseins zu machen.
Es gab viele Feuer im Universum, zahlreicher und gewaltiger als alle auf der Erde und diese sind vor ewigen Zeiten einmal ein großes Ganzes gewesen. Lange nach ihrem Entstehen haben sie sich getrennt, damit eines von ihnen den Sinn ihres Brennens erfüllen und das diamantene Ei hervorbringen kann.
Nachdem der strahlende Vogel Millionen von Jahren die Erde umkreist hatte, wurde ihm die Bedeutung seines Daseins bewusst.
Er hatte die Grenzen seines Denkens erreicht; obwohl er glaubte, dass all sein Bewusstsein die Ursache der Existenz war, konnte er doch in den nächsten Jahrmyriaden nicht den Sinn seiner Existenz finden. Er ahnte, dass sich mit ihm allein der Sinn nicht erfüllte. Deshalb entschloss er sich zur Erde zurück zu kehren, um seine Aufgabe zu vollenden.
Aus den tiefen Weiten des Alls stürzte er zur Erde, die mittlerweile eine dichte Atmosphäre gebildet hatte. Wie ein zäher Brei umgab sie die Erde und als er so unvermittelt darin eintauchte, erhitzte sich das diamantene Gefieder; der Vogel erglühte und ging in loderndes Feuer auf.
Als sein Körper die Erde erreichte, war er zu Asche verbrannt.
Und siehe da, aus der Asche stieg der Phönix, schöner und klüger als der alte Feuervogel; doch er trug nicht mehr all das Bewusstsein. Er hatte sich von den Grenzen der Erkenntnis befreit und flog höher hinaus als sein Vater jemals war.
Ein großer Teil des Bewusstseins blieb zurück auf der Erde. Die Asche vermischte sich in den Sümpfen und nach wenigen Millionen Jahren kroch eine Echse an Land, die das schlafende Bewusstsein in sich trug. Es dauerte noch sehr lange, bis es erwachte und erkannte, dass es die Ursache des Seins ist.
Das Bewusstsein verteilte sich mit der Zeit auf viele Milliarden Teile, wobei es sich wie der Phönix ständig erneuert, um schöner und klüger zu werden als das Alte.
Seit dieser Zeit erblicken unzählige Augen in der Nacht die Sterne und die meisten erkennen nicht, dass sie sich selbst anschauen. Die Träger dieser Augen begehen und begehren törichte Dinge und glauben für diese zu leben.
Doch der alte Feuervogel wusste von all dem und deshalb hatte er das Bewusstsein so verschwenderisch verteilt.
Eins von Tausenden Augenpaaren eines jeden Geschlechts suchen in der Nacht den Phönix, der mit ihnen das Bewusstsein dieser Welt trägt. Es kommt die Zeit, da der Phönix wieder erglüht und das Bewusstsein der Welt sich neu vereint. Aus der Asche wird ein neuer Phönix geboren werden: größer, gewaltiger und schöner. Er wird den Sinn des Daseins in sich tragen und seine Brut wird die Erkenntnis sein, lange, nachdem die törichten Dinge dieser Welt verglüht sind.
Am Anfang war das Ei, und am Ende steht die Erkenntnis.

© Erich Romberg, Mai 2001
 



 
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