lietzensee
Mitglied
Der Fluch
Er stand jung auf der großen Bühne und war verflucht. Scheinwerferlicht umtanzte ihn. Immer fühlte er sich, als könnte er es mit der ganzen Welt aufnehmen und in seinen Muskeln spielte die Kraft. "Yeah", rief er ins Mikro. Das Publikum jubelte. Seine Finger griffen in die Seiten, als hätten sie schon eine Ewigkeit nur das geübt.
Sein Gesicht war faltenlos und sein Lächeln verführte die Frauen. Er wählte sie immer ein wenig zu jung, denn bald wurde jede Partnerin alt und lebenserfahren. Das ging so schnell, dass es sich kaum lohnte, ein Mädel in den dunklen Winkeln der Garderobe zu küssen. Heute wollte die ganze Band mit ihm feiern. Ihre Party sollte nie enden. Aber morgen schon schmiss der Gitarrist hin, weil er Vater geworden war und der Drummer musste auf Heroinentzug.
Er war verflucht, da wollte er die Zeit im Rampenlicht wenigstens nutzen. Das Publikum hing an seinen Lippen und er sang Träume von einer besseren Welt ins Mikro. Hellwach war sein Verstand, wenn die Rückkopplungen durch den Saal hallten. Er predigte junge Ideen und verdammte alle alten Gewissheiten. Aber seine Ideen waren gut. Nie dauerte es lange, bis auch sie zu Gewissheiten wurden. Dann verdammte er, woran er glaubte, wieder und wieder. All die frischen Gedanken sah er vor seinen Augen welken.
Er war verflucht. Die Kinder, welche er backstage gezeugt hatte, wurden erwachsen. Sie machten Fehler, lernten daraus und schlossen irgendwann Bausparverträge ab. Nur hin und wieder stand eines von ihnen noch mit Doppelkinn vor der Bühne. Das Kind sah zum Vater auf und schüttelte peinlich berührt den Kopf.
Er war als Baby verflucht worden, weil neben seiner Wiege ein Plattenspieler stand. Im Knacken der Rillen hatte der Zauberer Dylan beschworen: May you stay forever young.