Der Fluch (2)

jon

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Francis Fallon hatte Sam schon erwartet. Er ließ ihn an den im Vorzimmer Wartenden vorbei direkt in sein Büro bringen. Er kam ihm, die Hände ausgestreckt, entgegen, so dass Sam schon eine Umarmung befürchtete. Sie blieb Gott sein Dank aus.
[ 3]„Mein liiiieber Sam! Ich darf doch Sam sagen? Ich bin ja soooo froh, dass Sie sich entschieden haben, herzukommen. Kommen Sie, setzen Sie sich!“ Fallon wies auf eine Ledercouch. „Kann ich Ihnen etwas anbieten?“ Er dreht sich halb um und rief: „Lizzy, zwei Kaffee!“
[ 3]Sam hob die Hand. „Für mich nicht, danke.“
[ 3]„Einen Sherry? Oh entschuldigen Sie, Sie trinken ja keinen Alkohol.“
[ 3]Das stimmte zwar nicht, aber Sam nickte trotzdem. Er setzte sich. Die Couch war härter als sie aussah, was Sam als sehr angenehm empfand.
[ 3]Fallon ließ sich in einem Sessel gegenüber nieder. „Ohh Sam, ich habe ja schon soooo viel von Ihnen gehört. Gutes, Sam,“ beeilte er sich hinzuzusetzen. „Gutes.“
[ 3]„Ach ja? Das erstaunt mich jetzt aber.“
[ 3]Fallon winkte tuntenhaft ab. „Ach was, dieses kleine Problem, da finden wir schon eine Lösung. Sie sind eben nicht für lange Aufführungsreihen gemacht, Sie brauchen kurze Gastspiele, vielleicht sogar Film.“
[ 3]„Film“, echote Sam. „Klar.“ Er kam sich deplatziert vor.
[ 3]„Oh Sam! Sie sind brillant! Ich weiß, wovon ich rede, ich habe Sie spielen sehen. Es war grooooßartg!“
[ 3]„Ach ja?“ Er fühlte sich auf den Arm genommen. „Wann?“
[ 3]„Oh von Anfang an! 1990 hab ich Sie das erste Mal gesehen, damals in Manchester. Als Pal Joey. Eine wirklich bizarre Show, aber Sie waren grandios, mein Lieber, wirklich gran-di-os!“
[ 3]Sam erinnerte sich. Die Show war wirklich bizarr gewesen. Man hatte sie vorzeitig abgesetzt, weil die Zuschauer ausblieben. Damals hielt er das für das Schlimmste, was ihm passieren konnte.
[ 3]„Ich habe mir keines der Stücke entgehen lassen, in denen Sie mitspielten, Sam, wirklich keines. Viele hab ich mehrfach gesehen und ehrlich gesagt, waren Sie der Grund, warum ich die Agentur gegründet habe. Ich dachte, so ein Talent wie Sie, das muss doch gefördert werden! Und jetzt sind Sie hier, das finde ich wunderbar!“
[ 3]Sam schüttelte den Kopf. „Mr. … Fallon! Ich … weiß nicht, wann Sie zu diesen Shows gegangen sind, sicher nicht am Ende der jeweiligen Spielzeit, habe ich Recht?“
[ 3]„Oh“, er winkte ab. „Auch das hab ich gesehen, mein Lieber, auch das hab ich gesehen. Ich konnte ja nicht immer schon zur Premiere da sein, nicht wahr. Ich war am Anfang da, in der Mitte und am Ende, ich habe alles gesehen.“ Erbeugte sich leicht vor und raunte: „Wirklich alles, Sam. Ich weiß, wann Sie aufhören müssen, weil es abwärts geht, ich kann Ihnen den Moment genau sagen.“
[ 3]„Ach!“
[ 3]Fallon nickte bedeutungsschwer und rückte noch ein bisschen näher.
[ 3]Sam beugte sich unwillkürlich ebenfalls vor.
[ 3]„Sehen Sie“, raunte Fallon, „es ist Tricker. Er ist mit schon 1992 aufgefallen, da saß ich neben ihm.“
[ 3]Sam setzte sich aufrecht hin und runzelte die Stirn. „Tricker?“
[ 3]„Oooh ja! Erst dachte ich, es ist Zufall, aber das ist es nicht. Wenn er zur Vorstellung kommt, haben Sie noch zwei drei gute, und vielleicht noch vier erträgliche Abende und dann wird es schlimmer und schlimmer. Ich weiß natürlich nicht, ob er es macht oder ob er nur weiß, wann es losgeht, wegen dieser Sache, von der ich ja nichts Genaues weiß, aber …“
[ 3]„Moment mal!“, unterbrach in Sam. „Was zum Teufel reden Sie da?“
[ 3]Fallon lehnt sich zurück. „Lieber Sam, das muss Ihnen nicht peinlich sein, alle großen Stars haben irgendeine … nunja … Macke, um es mal so salopp auszudrücken. Es ist nur, dass Sie vielleicht …“
[ 3]„Macke?“
[ 3]Fallon hob beschwichtigend die Hände. „… oder Problem, wenn Sie wollen. Sehen Sie, wenn ich es richtig verstehe, was Tricker über Sie erzählt …“
[ 3]Sam begann wütend zu werden. „Tricker, ja? Was für ein verdammter Tricker?“
[ 3]„Jonathan, er sagt, er heißt Jonathan.“
[ 3]„Jonathan …“ Er ließ sich zurück fallen. „Sind Sie sicher?“
[ 3]„Oh ja!“ Er beugte sich vor. „Wissen Sie, Theaterleute sind ja etwas abergläubisch, aber diese Fluch-Geschichte, die er über sie erzählt …“
[ 3]Diesmal wurde er von Lizzy unterbrochen. Sie brachte den Kaffee. Zwei Tassen, die sie auf das kleine Tischchen neben Fallons Sessel stellte.
[ 3]„Na, nicht doch einen?“, fragte Fallon und hielt Sam eine Tasse hin. „Er ist wirklich gut!“
[ 3]„Nein, verdammt! Was für ein verdammter Fluch? Was erzählt John über mich?“
[ 3]„Oh, Sie kennen Ihn?“
[ 3]„Er ist eine Art Ziehvater für mich gewesen …“
[ 3]„Ach!“ Fallon war überrascht. Dann begann er Sam zu mustern.
[ 3]„Darf ich jetzt endlich erfahren, was hier eigentlich los ist? Was hat mein Ziehvater mit all dem zu tun? “
[ 3]Fallons Enthusiasmus hatte an Glanz verloren. „Ich wusste nicht, dass er Ihr Ziehvater ist.“
[ 3]Sam schloss einen Moment lang die Augen und konzentrierte sich darauf, nicht zu explodieren. Schließlich sagt er: „Ich habe einige Jahre bei ihm gelebt, bevor ich ans College ging. Ich habe ihn seit damals nicht wieder gesehen. Nicht im Theater und nicht anderswo. Kann ich jetzt bitte endlich erfahren, was er über mich erzählt?!“
[ 3]„Nun ja …“ Fallon nippte an seiner Tasse, verschluckte sich und hustete. Etwas zu lange, fand Sam. Dann fuhr Fallon fort: „Dieser Tricker, also Ihr Ziehvater, erzählt, dass ein traumatisches Erlebnis in Ihrer Kindheit Sie … wie soll ich sagen … ruhelos gemacht hat. Sie können es angeblich nicht ertragen, lange am selben Ort und unter den selben Menschen zu sein.“
[ 3]Sam zog die Brauen zusammen. „Das ist mir neu.“
[ 3]Fallon beugte sich etwas vor und schlug wieder diesen verschwörerischen Ton an. „Genau das sagt Tricker auch! Er sagt, dass Sie sich dieser Sache nicht bewusst sind, dass Ihr Unterbewusstsein aber dafür sorgt, dass Sie gewissermaßen sich selbst von Ort zu Ort treiben.“
[ 3]„Sagt er das …“
[ 3]Fallon nickte. „Ja. Verrückt, oder? Denn wenn es das ist, was hat er dann in Ihren Vorstellungen zu suchen?“
[ 3]Sam versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Ein traumatisches Erlebnis in der Kindheit? Möglich wäre es. Er erinnerte sich nicht an seine Kindheit. Manchmal quollen Bilder in ihm auf, Bilder von einer großen Familie, von Geschwistern, Eltern. Von Mitschülern. Aber diese Bilder ließen sich nie fassen. Die erste klare, verlässliche Erinnerung war, dass er in einem Park aufgewacht war und fror. Dann, dass er feststellte, dass er nicht wusste, wo er war. Und wer er war. Nur ein Name und eine Altersangabe war noch gespeichert: Samuel Thompson, 17 Jahre. Er hatte sich an jemanden gewandt, der aussah wie ein Polizist, und so erfahren, dass er sich in London befand. Er wusste, dass er nicht in London sein sollte, aber wo statt dessen, das hatte er nie herausbekommen.
[ 3]Fallon sah Sam noch immer an, als erwarte er eine extrem erhellende Antwort.
[ 3]„Und … eh …“, sortierte Sam, „… wann hat John Ihnen das erzählt?“
[ 3]„Nicht nur mir, nicht nur mir. Ich glaube, die Geschichte kennen inzwischen alle. Ich habe von meinem lieben Freund Finningworth gehört, dass Tricker wohl in jedem Theater, in dem Sie auftreten, irgendwann gegen Ende der Spielzeit beim Direktor auftaucht und diese Geschichte erzählt. Bei mir“, Fallon setzte wieder seine Verschwörermiene auf, „war er schon vorher da. Vorgestern, um genau zu sein. Er gab sich als Vertreter einer Casting-Agentur aus, aber …“, er lehnte sich zurück und winkte schelmisch ab, „… das hab ich natürlich sofort durchschaut! Sehen Sie, ich erkenne ein Talent, wenn ich es sehe und Sie sind mehr als das. Natürlich ist Ihr Ruf ein wenig lädiert, aber …“
[ 3]„Haben Sie seine Adresse?“, unterbrach ihn Sam. „Oder eine Telefonnummer?“
[ 3]„Von Tricker? Neeeein. Ach was! Was soll ich denn damit? Nein nein, darauf geb ich doch nichts. Ich glaube eher …“, er senkte die Stimme, „… es ist sogar ein gutes Zeichen für uns beide. Ich meine, wenn er jetzt schon VOR der Vertragsunterzeichnung auftaucht, da ist doch was im Busch! Stimmt's?“
[ 3]„Keine Ahnung …“ Sam beschäftigte im Moment etwas ganz anderes: Was wusste John von ihm, was er ihm nicht sagen wollte? Ihr Verhältnis zueinander war in den drei Jahren, die Sam bei ihm gewohnt hatte, kein wirklich familiäres gewesen, aber Sam hatte seinen Ziehvater immer für ungewöhnlich aufrichtig gehalten. Bis heute jedenfalls.
[ 3]„Soll ich Ihnen sagen, was ich glaube, Sam? Ich glaube, Tricker weiß gaaanz genau, dass Ihr Zukunft im Filmgeschäft liegt. Ist ja auch ideal: Immer wo anders, immer andere Leute, nicht ein halbes Jahr lang das immer gleiche Stück runterleiern … Ich weiß nicht, warum er Ihnen Ihre Karriere verderben will, aber ich versichere Ihnen, mein Freund, mit meiner Hilfe tricksen Sie ihn aus, diesen Tricker.“ Er lachte. „Den Tricker austricksen, das ist doch gut, oder?“
[ 3]Sam lächelte matt.
[ 3]Fallon stand auf. „Lieber Sam, ich glaube, wir werden uns schnell einig.“ Er ging zum Schriebtisch hinüber und nahm ein paar Blätter von dort. Er reichte sie Sam. „Das wäre unser Standard-Vertrag, lesen Sie ihn sich in aller Ruhe durch und kommen Sie morgen einfach noch mal her. Wir reden dann drüber, wenn Sie wollen, und erledigen die Formalitäten.“ Er ging zur Bürotür, hatte plötzlich alles Tuntenhafte verloren. „Haben Sie aktuelle Fotos? Nein? Kein Problem, ich habe da einen Profi an der Hand, der macht das.“
[ 3]Sam stand vom Sofa auf, rollte den Vertrag zusammen und steckte ihn in die Jackettasche. „Ok. Also morgen. Wann?“
[ 3]„Lassen Sie von Lizzy einen Termin geben, sie kennt meinen Kalender besser als ich.“ Er reichte Sam die Hand. „Wir sehen uns morgen!“

Obwohl Sam nicht viel Erfahrung mit Agenturverträgen hatte, schien ihm dieser außerordentlich fair zu sein. Und was er im Internet zu „Fallon's Artists Agency“ fand, war auch nicht übel. Fallon hatte offenbar ein paar seiner Künstler ganz gut untergebracht. Nun ja, Star war keiner davon geworden, aber so hoch hinaus wollte Sam ja auch nicht. Ihm genügte, wenn er rasch wieder würde arbeiten können.
[ 3]„Jonathan Tricker“, gab Sam in die Suchmaschine ein. Er fand einen Arzt, einen Crickettspieler, einen Stadtplaner. Nichts zum Stichwort Theater oder Film. Bei „Samuel Thompson“ war die Ausbeute schon ergiebiger, sogar ein Schauspieler war dabei. Obwohl der offenbar auch nicht wirklich erfolgreich war, war es ein anderer. Seltsamerweise beruhigte Sam der Gedanke, dass da noch einer mit diesem Namen herumlief und es einfach nicht schaffte.
[ 3]„Cop Two“, tippte Sam ein und bekam eine Kritik vom Premierenabend zu lesen. Der Verfasser war offenkundig begeistert gewesen und wurde nicht fertig, wieder und wieder die Leistungen der Schauspieler zu loben. Besonders der Hauptdarsteller hatte es ihm offenbar angetan, überschwänglich pries er die Lebensfreude, die dieser Mike Henson versprühte.
[ 3]Samuel spürte einen Stich: Lebensfreude, das hatte man ihm anfangs auch oft beschieden. Es schien Jahrhunderte her zu sein. Im Moment fühlt er sich unendlich müde und ausgebrannt. Und obwohl er wusste, dass es vorbeigehen würde - es ging immer vorbei - empfand er es diesmal als besonders bedrückend. Vielleicht war es wegen John. Sam konnte es einfach nicht fassen, dass er ihm derart in den Rücken gefallen sein sollte. Obwohl: War er das denn? Er hatte offenbar nie ein Engagement verhindert sondern immer nur im Nachhinein eine Entschuldigung für Sams Versagen geliefert. Hatte John gewusst, dass es so kommen würde, hatte er deshalb damals versucht, ihm die Schauspielerei auszureden? Hatte er den Schlüssel, gar das Heilmittel in der Hand? Kam er deshalb zu den Vorstellungen? Sam versuchte, nicht darüber nachzudenken, aber je heftiger er sich weigerte, desto unbarmherziger brannte diese Frage in seinem Kopf. Hatte John das Heilmittel? Er wusste offenbar, was den Fluch - Sam ertappte sich dabei, dass er dieses Wort tatsächlich dachte - ausgelöst hatte. Was war es, dass es so hartnäckig verschwiegen werden musste? Dass es das wert war, ihn, Sam, dafür zu opfern? Was war denn an seinem Wunsch so gefährlich?! Er wollte doch nichts weiter, als Schauspieler sein!
[ 3]Sam bemerkte eine Träne über seine Wange rinnen, wunderte sich darüber und wischte sie fort. Dann nahm er Fallons Vertrag noch einmal in die Hand und blätterte ihn durch. Fallon hatte dem Bereich Fernsehen und Film ein extra Kapitel gewidmet, darin sah er wohl das Hauptaugenmerk seiner Agentur. Film also, dachte Sam, warum nicht. Vielleicht war das die Lösung. Wenn ihn jemand wollte. Er unterschrieb.


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Der Fluch (3)
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

richtig spannend. paar flüchtigkeitsfehler:
am ende des 2. absatzes: Er dreht sich halb um und rief - drehte
. . .es ist Trickler. Er ist mit schon 1992 aufgefallen - mir
. . .aber diese Fluch-Geschichte, die er über sie erzählt - Sie
Lassen Sie von Lizzi einen Termin geben - da fehlt ein sich
. . .nie ein Engagement verhindert sondern . . . da fehlt n Komma.
so, schnell weiter lesen.
lg
 



 
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