Der Fluch / 2 – Kapitel 1/2

jon

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Sam ging durch das Labyrinth des Theaters hin in den repräsentativen Teil und durch das Foyer. Das Büro des Direktors lag im neu erbauten Trakt am Ende des Hauptganges. Ein Blatt, das auf dem Boden des Ganges lag, erregte Sams Aufmerksamkeit. Das New London Theatre bewarb ein Musical mit dem Titel „Cop Two“. Sam hatte gute Kritiken über das Stück gelesen. Vielleicht würde er es sich ansehen, jetzt, da er Zeit hatte. Er stopfte den Zettel in die Tasche und betrat ohne anzuklopfen das Büro des Direktors.
[ 3]„Ah Mr. Thompson!“ Finningworth wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Setzen Sie sich.“
[ 3]„Entschuldigen Sie, aber das lohnt sich wohl kaum.“
[ 3]„Äh …“
[ 3]„Wissen Sie, schicken Sie mir doch einfach den noch ausstehenden Scheck zu, dann ist die Sache erledigt.“
[ 3]„Mr. Thompson, lieber Samuel …“
[ 3]Sam staunte. „Wie bitte?“
[ 3]Finnigworth stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Er lotste Sam zu den Ledersesseln, von denen Sam bisher immer gedacht hatte, sie seien nur Dekoration. Sprachlos ließ er sich in einen hineinplumpsen.
[ 3]„Sehen Sie, Samuel“, hob Finningworth an und eigentlich hätte er dabei eine Zigarre oder ein kristallen glitzernden Whiskyglas schwenken müssen, empfand Sam. „Samuel, ich weiß nicht genau, was Sie für ein Problem haben, aber Sie sollten es so bald wie möglich beheben. Es gibt gute Therapeuten, wirklich gute. Wissen Sie“, er beugte sich etwas vor, „Sie sind ein begnadeter Schauspieler, ein hinreißender Tänzer und ein mehr als passabler Sänger. Es wäre eine Sünde, dieses Talent zu vergeuden. Sie sollten …“
[ 3]Sam stand auf. „Entschuldigen Sie, aber diese Rede kenne ich bereits.“
[ 3]Finningworth erhob sich ebenfalls. „Ich würde Ihnen gern helfen, Samuel, ich würde Sie wirklich gern für unser Theater retten, aber …“
[ 3]„Retten?“ Er lachte unfroh auf. „Vielleicht bin ich nicht zu retten! Vielleicht bin ich ja … verflucht.“
[ 3]Finningworth blieb gelassen. „Ich glaube nicht an Flüche, Sam.“
[ 3]„Beweisen Sie's! Verlängern Sie ja meinen Vertrag!“
[ 3]„Sie wissen, dass ich das nicht tun kann.“ Er holte einen Zettel aus seiner Jackettasche und reichte ihn Sam.
[ 3]Sam starrte den Zettel an. „Was ist das?“
[ 3]„Nehmen Sie! Das ist die Telefonnummer eines Bekannten von mir. Er ist Agent. Er arbeitet unter anderem mit Theatern auf dem Kontinent zusammen und hat Kontakte zum Europäischen Film. Dort finden Sie vielleicht eine Aufgabe, die Ihnen besser liegt.“
[ 3]„Europa“, wiederholte Sam und nahm den Zettel. „Film.“
[ 3]„Das passt sicher besser zu Ihnen.“
[ 3]„Warum? Weil jedes Stück nur einmal gespielt wird?“ Er rieb sich die Stirn. „Na ja. Vielleicht ist es den Versuch wert.“
[ 3]Finningworth nickte heftig. „Unbedingt!“
[ 3]„Ok. Dann …“ Sam hob den Zettel leicht an, „… danke.“


Es war kalt auf der Polizeiwache und zugig. Die Holzbank war unbequem. Neben Sam saß ein Betrunkener, der weit vorgebeugt zu dösen schien. Er stank erbärmlich.
[ 3]„Hey, du da!“, rief der Polizist hinter der Sprech-Theke.
[ 3]Sam sah zu ihm.
[ 3]„Ja dich meine ich, Bürschchen, komm her!“
[ 3]Sam gehorchte.
[ 3]Der Polizist kam hinter der Theke hervor und legt Sam die Hand auf die Schulter. „Hast Glück gehabt, Kleiner.“
[ 3]Sam ignorierte die Anrede. „Wieso?“
[ 3]„Normalerweise stecken wir Herumtreiber in ein Heim.“
[ 3]„Ich bin kein Herumtreiber, ich habe nur mein Gedächtnis verloren.“
[ 3]„Klar doch“, behauptete der Polizist und schob Sam in einen kleinen kahlen Raum. Ein Tisch stand darin und drei Stühle. Auf einem saß ein Mann, der sich jetzt erhob.
[ 3]Er kam auf Sam zu. „Du bist also der Junge ohne Erinnerung.“
[ 3]Sam nickte.
[ 3]Der Mann setzte ein Lächeln auf, es kam Sam unecht vor. Dabei musterte er Sam, als wollte er durch das bloße Hinschauen Sams Gedächtnis aufspüren wollen.
[ 3]„Mister“, sagte der Polizist, „Sie wissen schon, dass das nicht der übliche Weg ist …“
[ 3]„Ich weiß“, sagte der Mann und stopfte dem Polisten etwas in die Jackentasche.
[ 3]Der Polizist grinste. „Na, wir wollen mal nicht so sein. Wir haben den Jungen ja registriert und wenn sich jemand nach ihm erkundigt, haben wir Ihre Adresse.“
[ 3]Der Mann nickte beiläufig. Zu Sam sagte er: „Du kannst bei mir wohnen, bis du volljährig bist, Samuel. In Ordnung?“
[ 3]Sam nickte. Was hätte er auch sonst tu sollen.
[ 3]„Gut.“ Der Mann reichte ihm die Hand. „Ich bin Jonathan.“


Francis Fallon hatte Sam schon erwartet. Er ließ ihn an den im Vorzimmer Wartenden vorbei direkt in sein Büro bringen. Er kam ihm, die Hände ausgestreckt, entgegen, so dass Sam schon eine Umarmung befürchtete. Sie blieb Gott sein Dank aus.
[ 3]„Mein liiiieber Sam! Ich darf doch Sam sagen? Ich bin ja soooo froh, dass Sie sich entschieden haben, herzukommen. Kommen Sie, setzen Sie sich!“ Fallon wies auf eine Ledercouch. „Kann ich Ihnen etwas anbieten?“ Er drehte sich halb um und rief: „Lizzy, zwei Kaffee!“
[ 3]Sam hob die Hand. „Für mich nicht, danke.“
[ 3]„Einen Sherry? Oh entschuldigen Sie, Sie trinken ja keinen Alkohol.“
[ 3]Das stimmte zwar nicht, aber Sam nickte trotzdem. Er setzte sich. Die Couch war härter als sie aussah, was Sam als sehr angenehm empfand.
[ 3]Fallon ließ sich in einem Sessel gegenüber nieder. „Ohh Sam, ich habe ja schon soooo viel von Ihnen gehört. Gutes, Sam,“ beeilte er sich hinzuzusetzen. „Gutes.“
[ 3]„Ach ja? Das erstaunt mich jetzt aber.“
[ 3]Fallon winkte tuntenhaft ab. „Ach was, dieses kleine Problem, da finden wir schon eine Lösung. Sie sind eben nicht für lange Aufführungsreihen gemacht, Sie brauchen kurze Gastspiele, vielleicht sogar Film.“
[ 3]„Film“, echote Sam. „Klar.“ Er kam sich deplatziert vor.
[ 3]„Oh Sam! Sie sind brillant! Ich weiß, wovon ich rede, ich habe Sie spielen sehen. Es war grooooßartg!“
[ 3]„Ach ja?“ Er fühlte sich auf den Arm genommen. „Wann?“
[ 3]„Oh von Anfang an! 1990 hab ich Sie das erste Mal gesehen, damals in Manchester. Als Pal Joey. Eine wirklich bizarre Show, aber Sie waren grandios, mein Lieber, wirklich gran-di-os!“
[ 3]Sam erinnerte sich. Die Show war wirklich bizarr gewesen. Man hatte sie vorzeitig abgesetzt, weil die Zuschauer ausblieben. Damals hielt er das für das Schlimmste, was ihm passieren konnte.
[ 3]„Ich habe mir keines der Stücke entgehen lassen, in denen Sie mitspielten, Sam, wirklich keines. Viele hab ich mehrfach gesehen und ehrlich gesagt, waren Sie der Grund, warum ich die Agentur gegründet habe. Ich dachte, so ein Talent wie Sie, das muss doch gefördert werden! Und jetzt sind Sie hier, das finde ich wunderbar!“
[ 3]Sam schüttelte den Kopf. „Mr. … Fallon! Ich … weiß nicht, wann Sie zu diesen Shows gegangen sind, sicher nicht am Ende der jeweiligen Spielzeit, habe ich Recht?“
[ 3]„Oh“, er winkte ab. „Auch das hab ich gesehen, mein Lieber, auch das hab ich gesehen. Ich konnte ja nicht immer schon zur Premiere da sein, nicht wahr. Ich war am Anfang da, in der Mitte und am Ende, ich habe alles gesehen.“ Erbeugte sich leicht vor und raunte: „Wirklich alles, Sam. Ich weiß, wann Sie aufhören müssen, weil es abwärts geht, ich kann Ihnen den Moment genau sagen.“
[ 3]„Ach!“
[ 3]Fallon nickte bedeutungsschwer und rückte noch ein bisschen näher.
[ 3]Sam beugte sich unwillkürlich ebenfalls vor.
[ 3]„Sehen Sie“, raunte Fallon, „es ist Tricker. Er ist mir schon 1992 aufgefallen, da saß ich neben ihm. Er starrte Sie so sehr an, dass ich dachte, er will sie hypnotisieren!“
[ 3]Sam setzte sich aufrecht hin und runzelte die Stirn. „Tricker?“
[ 3]„Oooh ja! Erst dachte ich, es ist Zufall, aber das ist es nicht. Wenn er zur Vorstellung kommt, haben Sie noch zwei drei gute, und vielleicht noch vier erträgliche Abende und dann wird es schlimmer und schlimmer. Ich weiß natürlich nicht, ob er es macht oder ob er nur weiß, wann es losgeht, wegen dieser Sache, von der ich ja nichts Genaues weiß, aber …“
[ 3]„Moment mal!“, unterbrach in Sam. „Was zum Teufel reden Sie da?“
[ 3]Fallon lehnt sich zurück. „Lieber Sam, das muss Ihnen nicht peinlich sein, alle großen Stars haben irgendeine … nun ja … Macke, um es mal so salopp auszudrücken. Es ist nur, dass Sie vielleicht …“
[ 3]„Macke?“
[ 3]Fallon hob beschwichtigend die Hände. „… oder Problem, wenn Sie wollen. Sehen Sie, wenn ich es richtig verstehe, was Tricker über Sie erzählt …“
[ 3]Sam begann wütend zu werden. „Was für ein verdammter Tricker?“
[ 3]„Jonathan, er sagt, er heißt Jonathan.“
[ 3]„Jonathan …“ Er ließ sich zurück fallen. „Sind Sie sicher?“
[ 3]„Oh ja!“ Er beugte sich vor. „Wissen Sie, Theaterleute sind ja etwas abergläubisch, aber diese Fluch-Geschichte, die er über Sie erzählt …“
[ 3]Diesmal wurde er von Lizzy unterbrochen. Sie brachte den Kaffee. Zwei Tassen, die sie auf das kleine Tischchen neben Fallons Sessel stellte.
[ 3]„Na, nicht doch einen?“, fragte Fallon und hielt Sam eine Tasse hin. „Er ist wirklich gut!“
[ 3]„Nein, verdammt! Was für ein verdammter Fluch? Was erzählt John über mich?“
[ 3]„Oh, Sie kennen Ihn?“
[ 3]„Er ist eine Art Ziehvater für mich gewesen …“
[ 3]„Ach!“ Fallon war überrascht. Dann begann er Sam zu mustern.
[ 3]„Darf ich jetzt endlich erfahren, was hier eigentlich los ist? Was hat mein Ziehvater mit all dem zu tun? “
[ 3]Fallons Enthusiasmus hatte an Glanz verloren. „Ich wusste nicht, dass er Ihr Ziehvater ist.“
[ 3]Sam schloss einen Moment lang die Augen und konzentrierte sich darauf, nicht zu explodieren. Schließlich sagt er: „Ich habe einige Jahre bei ihm gelebt, bevor ich ans College ging. Ich habe ihn seit damals nicht wieder gesehen. Nicht im Theater und nicht anderswo. Kann ich jetzt bitte endlich erfahren, was er über mich erzählt?!“
[ 3]„Nun ja… “ Fallon nippte an seiner Tasse, verschluckte sich und hustete. Etwas zu lange, fand Sam. Dann fuhr Fallon fort: „Es ist nicht eigentlich ein Fluch. Dieser Tricker, also Ihr Ziehvater, erzählt, dass ein traumatisches Erlebnis in Ihrer Kindheit Sie … wie soll ich sagen … ruhelos gemacht hat. Sie können es angeblich nicht ertragen, lange am selben Ort und unter den selben Menschen zu sein.“
[ 3]Sam zog die Brauen zusammen. „Das ist mir neu.“
[ 3]Fallon beugte sich etwas vor und schlug wieder diesen verschwörerischen Ton an. „Genau das sagt Tricker auch! Er sagt, dass Sie sich dieser Sache nicht bewusst sind, dass Ihr Unterbewusstsein aber dafür sorgt, dass Sie gewissermaßen sich selbst von Ort zu Ort treiben.“
[ 3]„Sagt er das …“
[ 3]Fallon nickte. „Ja. Verrückt, oder? Denn wenn es das ist, was hat er dann in Ihren Vorstellungen zu suchen?“

1989
Sam betrat sein kleine Wohnung, streifte die Jacke ab und warf sie auf den schäbigen Sessel. Dann öffnete er den Briefumschlag. Er enthielt einen Scheck von Jonathan, wie üblich ohne Brief oder dergleichen. Sam griff trotzdem zum Telefon und rief Jonathan an.
[ 3]„Tricker?“
[ 3]„Hallo John. Ich bin's.“
[ 3]„Sam.“ Es klang nicht überrascht.
[ 3]„Ich habe eben den Scheck bekommen. Danke.“
[ 3]„Es ist der letzte.“
[ 3]Sam ließ sich auf die Couch fallen. „Ich weiß. Ich wollte nur sagen, dass er da ist. Und … eh … ich zahl dir alles zurück. Irgendwann.“
[ 3]„Das habe ich nie verlangt“, stellte Jonathan fest.
[ 3]„Ich weiß. Ich tu's trotzdem. Du hast mich damals aufgenommen und all das.“ Sam versuchte zu lächeln, es war nicht leicht bei Jonathans Kühle, die ihm selbst durch den Telefonhörer anzuwehen schien. „Du hast sogar die Schauspielschule bezahlt, obwohl du dagegen warst.“
[ 3]„Ich weiß. Aber ich habe nie etwas dafür erwartet.“
[ 3]„Ich bin dir trotzdem dankbar, du hättest das nicht tun müssen.“
[ 3]Jonathan schwieg.
[ 3]„Hey! Ich habe eben mein erstes Engagement bekommen! Noch vor der Abschlussprüfung!“
[ 3]„Ich gratuliere“, sagte er ohne erkennbare Emotion.
[ 3]Sam versuchte, sich trotzdem zu freuen. „Ja, den Pal Joey. In Manchester.“
[ 3]„Viel Spaß.“
[ 3]„Kommst du hin?“, fragte Sam, obwohl er die Antwort kannte.
[ 3]„Nein.“
[ 3]Sam schloss die Augen und schluckte.
[ 3]„Ich werde umziehen“, sagte Jonathan.
[ 3]Sam schwieg einen Moment. Dann fragte er: „Wohin?“
[ 3]„Weg.“
[ 3]„Aha“, sagte Sam. „Und wie … Wie erreiche ich dich?“
[ 3]„Gar nicht.“
[ 3]„John, du …“ … bist meine Familie, wollte Sam sagen, schwieg dann aber. Kopfschüttelnd und die Augen geschlossen saß er da, den Hörer am Ohr, und fragte sich, was er eigentlich erwartet hatte.
[ 3]„War's das?“, fragte Jonathan.
[ 3]Sam nickte. „Ja“, sagte er. „Das war's.“
[ 3]Jonathan legte grußlos auf.
[ 3]„Auf Wiedersehen“, murmelte Sam in die Stille. Dann schleuderte er das Telefon quer durch das Zimmer.
 

jon

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Sam ging durch das Labyrinth des Theaters hin in den repräsentativen Teil und durch das Foyer. Das Büro des Direktors lag im neu erbauten Trakt am Ende des Hauptganges. Ein Blatt, das auf dem Boden des Ganges lag, erregte Sams Aufmerksamkeit. Das New London Theatre bewarb ein Musical mit dem Titel „Cop Two“. Sam hatte gute Kritiken über das Stück gelesen. Vielleicht würde er es sich ansehen, jetzt, da er Zeit hatte. Er stopfte den Zettel in die Tasche und betrat ohne anzuklopfen das Büro des Direktors.
[ 3]„Ah Mr. Thompson!“ Finningworth wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Setzen Sie sich.“
[ 3]„Entschuldigen Sie, aber das lohnt sich wohl kaum.“
[ 3]„Äh …“
[ 3]„Wissen Sie, schicken Sie mir doch einfach den noch ausstehenden Scheck zu, dann ist die Sache erledigt.“
[ 3]„Mr. Thompson, lieber Samuel …“
[ 3]Sam staunte. „Wie bitte?“
[ 3]Finnigworth stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Er lotste Sam zu den Ledersesseln, von denen Sam bisher immer gedacht hatte, sie seien nur Dekoration. Sprachlos ließ er sich in einen hineinplumpsen.
[ 3]„Sehen Sie, Samuel“, hob Finningworth an und eigentlich hätte er dabei eine Zigarre oder ein kristallen glitzernden Whiskyglas schwenken müssen, empfand Sam. „Samuel, ich weiß nicht genau, was Sie für ein Problem haben, aber Sie sollten es so bald wie möglich beheben. Es gibt gute Therapeuten, wirklich gute. Wissen Sie“, er beugte sich etwas vor, „Sie sind ein begnadeter Schauspieler, ein hinreißender Tänzer und ein mehr als passabler Sänger. Es wäre eine Sünde, dieses Talent zu vergeuden. Sie sollten …“
[ 3]Sam stand auf. „Entschuldigen Sie, aber diese Rede kenne ich bereits.“
[ 3]Finningworth erhob sich ebenfalls. „Ich würde Ihnen gern helfen, Samuel, ich würde Sie wirklich gern für unser Theater retten, aber …“
[ 3]„Retten?“ Er lachte unfroh auf. „Vielleicht bin ich nicht zu retten! Vielleicht bin ich ja … verflucht.“
[ 3]Finningworth blieb gelassen. „Ich glaube nicht an Flüche, Sam.“
[ 3]„Beweisen Sie's! Verlängern Sie ja meinen Vertrag!“
[ 3]„Sie wissen, dass ich das nicht tun kann.“ Er holte einen Zettel aus seiner Jackettasche und reichte ihn Sam.
[ 3]Sam starrte den Zettel an. „Was ist das?“
[ 3]„Nehmen Sie! Das ist die Telefonnummer eines Bekannten von mir. Er ist Agent. Er arbeitet unter anderem mit Theatern auf dem Kontinent zusammen und hat Kontakte zum Europäischen Film. Dort finden Sie vielleicht eine Aufgabe, die Ihnen besser liegt.“
[ 3]„Europa“, wiederholte Sam und nahm den Zettel. „Film.“
[ 3]„Das passt sicher besser zu Ihnen.“
[ 3]„Warum? Weil jedes Stück nur einmal gespielt wird?“ Er rieb sich die Stirn. „Na ja. Vielleicht ist es den Versuch wert.“
[ 3]Finningworth nickte heftig. „Unbedingt!“
[ 3]„Ok. Dann …“ Sam hob den Zettel leicht an, „… danke.“


Es war kalt auf der Polizeiwache und zugig. Die Holzbank war unbequem. Neben Sam saß ein Betrunkener, der weit vorgebeugt zu dösen schien. Er stank erbärmlich.
[ 3]„Hey, du da!“, rief der Polizist hinter der Sprech-Theke.
[ 3]Sam sah zu ihm.
[ 3]„Ja dich meine ich, Bürschchen, komm her!“
[ 3]Sam gehorchte.
[ 3]Der Polizist kam hinter der Theke hervor und legt Sam die Hand auf die Schulter. „Hast Glück gehabt, Kleiner.“
[ 3]Sam ignorierte die Anrede. „Wieso?“
[ 3]„Normalerweise stecken wir Herumtreiber in ein Heim.“
[ 3]„Ich bin kein Herumtreiber, ich habe nur mein Gedächtnis verloren.“
[ 3]„Klar doch“, behauptete der Polizist und schob Sam in einen kleinen kahlen Raum. Ein Tisch stand darin und drei Stühle. Auf einem saß ein Mann, der sich jetzt erhob.
[ 3]Er kam auf Sam zu. „Du bist also der Junge ohne Erinnerung.“
[ 3]Sam nickte.
[ 3]Der Mann setzte ein Lächeln auf, es kam Sam unecht vor. Dabei musterte er Sam, als wollte er durch das bloße Hinschauen Sams Gedächtnis aufspüren wollen.
[ 3]„Mister“, sagte der Polizist, „Sie wissen schon, dass das nicht der übliche Weg ist …“
[ 3]„Ich weiß“, sagte der Mann und stopfte dem Polisten etwas in die Jackentasche.
[ 3]Der Polizist grinste. „Na, wir wollen mal nicht so sein. Wir haben den Jungen ja registriert und wenn sich jemand nach ihm erkundigt, haben wir Ihre Adresse.“
[ 3]Der Mann nickte beiläufig. Zu Sam sagte er: „Du kannst bei mir wohnen, bis du volljährig bist, Samuel. In Ordnung?“
[ 3]Sam nickte. Was hätte er auch sonst tu sollen.
[ 3]„Gut.“ Der Mann reichte ihm die Hand. „Ich bin Jonathan.“


Francis Fallon hatte Sam schon erwartet. Er ließ ihn an den im Vorzimmer Wartenden vorbei direkt in sein Büro bringen. Er kam ihm, die Hände ausgestreckt, entgegen, so dass Sam schon eine Umarmung befürchtete. Sie blieb Gott sein Dank aus.
[ 3]„Mein liiiieber Sam! Ich darf doch Sam sagen? Ich bin ja soooo froh, dass Sie sich entschieden haben, herzukommen. Kommen Sie, setzen Sie sich!“ Fallon wies auf eine Ledercouch. „Kann ich Ihnen etwas anbieten?“ Er drehte sich halb um und rief: „Lizzy, zwei Kaffee!“
[ 3]Sam hob die Hand. „Für mich nicht, danke.“
[ 3]„Einen Sherry? Oh entschuldigen Sie, Sie trinken ja keinen Alkohol.“
[ 3]Das stimmte zwar nicht, aber Sam nickte trotzdem. Er setzte sich. Die Couch war härter als sie aussah, was Sam als sehr angenehm empfand.
[ 3]Fallon ließ sich in einem Sessel gegenüber nieder. „Ohh Sam, ich habe ja schon soooo viel von Ihnen gehört. Gutes, Sam,“ beeilte er sich hinzuzusetzen. „Gutes.“
[ 3]„Ach ja? Das erstaunt mich jetzt aber.“
[ 3]Fallon winkte tuntenhaft ab. „Ach was, dieses kleine Problem, da finden wir schon eine Lösung. Sie sind eben nicht für lange Aufführungsreihen gemacht, Sie brauchen kurze Gastspiele, vielleicht sogar Film.“
[ 3]„Film“, echote Sam. „Klar.“ Er kam sich deplatziert vor.
[ 3]„Oh Sam! Sie sind brillant! Ich weiß, wovon ich rede, ich habe Sie spielen sehen. Es war grooooßartg!“
[ 3]„Ach ja?“ Er fühlte sich auf den Arm genommen. „Wann?“
[ 3]„Oh von Anfang an! 1990 hab ich Sie das erste Mal gesehen, damals in Manchester. Als Pal Joey. Eine wirklich bizarre Show, aber Sie waren grandios, mein Lieber, wirklich gran-di-os!“
[ 3]Sam erinnerte sich. Die Show war wirklich bizarr gewesen. Man hatte sie vorzeitig abgesetzt, weil die Zuschauer ausblieben. Damals hielt er das für das Schlimmste, was ihm passieren konnte.
[ 3]„Ich habe mir keines der Stücke entgehen lassen, in denen Sie mitspielten, Sam, wirklich keines. Viele hab ich mehrfach gesehen und ehrlich gesagt, waren Sie der Grund, warum ich die Agentur gegründet habe. Ich dachte, so ein Talent wie Sie, das muss doch gefördert werden! Und jetzt sind Sie hier, das finde ich wunderbar!“
[ 3]Sam schüttelte den Kopf. „Mr. … Fallon! Ich … weiß nicht, wann Sie zu diesen Shows gegangen sind, sicher nicht am Ende der jeweiligen Spielzeit, habe ich Recht?“
[ 3]„Oh“, er winkte ab. „Auch das hab ich gesehen, mein Lieber, auch das hab ich gesehen. Ich konnte ja nicht immer schon zur Premiere da sein, nicht wahr. Ich war am Anfang da, in der Mitte und am Ende, ich habe alles gesehen.“ Erbeugte sich leicht vor und raunte: „Wirklich alles, Sam. Ich weiß, wann Sie aufhören müssen, weil es abwärts geht, ich kann Ihnen den Moment genau sagen.“
[ 3]„Ach!“
[ 3]Fallon nickte bedeutungsschwer und rückte noch ein bisschen näher.
[ 3]Sam beugte sich unwillkürlich ebenfalls vor.
[ 3]„Sehen Sie“, raunte Fallon, „es ist Tricker. Er ist mir schon 1992 aufgefallen, da saß ich neben ihm. Er starrte Sie so sehr an, dass ich dachte, er will sie hypnotisieren!“
[ 3]Sam setzte sich aufrecht hin und runzelte die Stirn. „Tricker?“
[ 3]„Oooh ja! Erst dachte ich, es ist Zufall, aber das ist es nicht. Wenn er zur Vorstellung kommt, haben Sie noch zwei drei gute, und vielleicht noch vier erträgliche Abende und dann wird es schlimmer und schlimmer. Ich weiß natürlich nicht, ob er es macht oder ob er nur weiß, wann es losgeht, wegen dieser Sache, von der ich ja nichts Genaues weiß, aber …“
[ 3]„Moment mal!“, unterbrach in Sam. „Was zum Teufel reden Sie da?“
[ 3]Fallon lehnt sich zurück. „Lieber Sam, das muss Ihnen nicht peinlich sein, alle großen Stars haben irgendeine … nun ja … Macke, um es mal so salopp auszudrücken. Es ist nur, dass Sie vielleicht …“
[ 3]„Macke?“
[ 3]Fallon hob beschwichtigend die Hände. „… oder Problem, wenn Sie wollen. Sehen Sie, wenn ich es richtig verstehe, was Tricker über Sie erzählt …“
[ 3]Sam begann wütend zu werden. „Was für ein verdammter Tricker?“
[ 3]„Jonathan, er sagt, er heißt Jonathan.“
[ 3]„Jonathan …“ Er ließ sich zurück fallen. „Sind Sie sicher?“
[ 3]„Oh ja!“ Er beugte sich vor. „Wissen Sie, Theaterleute sind ja etwas abergläubisch, aber diese Fluch-Geschichte, die er über Sie erzählt …“
[ 3]Diesmal wurde er von Lizzy unterbrochen. Sie brachte den Kaffee. Zwei Tassen, die sie auf das kleine Tischchen neben Fallons Sessel stellte.
[ 3]„Na, nicht doch einen?“, fragte Fallon und hielt Sam eine Tasse hin. „Er ist wirklich gut!“
[ 3]„Nein, verdammt! Was für ein verdammter Fluch? Was erzählt John über mich?“
[ 3]„Oh, Sie kennen Ihn?“
[ 3]„Er ist eine Art Ziehvater für mich gewesen …“
[ 3]„Ach!“ Fallon war überrascht. Dann begann er Sam zu mustern.
[ 3]„Darf ich jetzt endlich erfahren, was hier eigentlich los ist? Was hat mein Ziehvater mit all dem zu tun? “
[ 3]Fallons Enthusiasmus hatte an Glanz verloren. „Ich wusste nicht, dass er Ihr Ziehvater ist.“
[ 3]Sam schloss einen Moment lang die Augen und konzentrierte sich darauf, nicht zu explodieren. Schließlich sagt er: „Ich habe einige Jahre bei ihm gelebt, bevor ich ans College ging. Ich habe ihn seit damals nicht wieder gesehen. Nicht im Theater und nicht anderswo. Kann ich jetzt bitte endlich erfahren, was er über mich erzählt?!“
[ 3]„Nun ja… “ Fallon nippte an seiner Tasse, verschluckte sich und hustete. Etwas zu lange, fand Sam. Dann fuhr Fallon fort: „Es ist nicht eigentlich ein Fluch. Dieser Tricker, also Ihr Ziehvater, erzählt, dass ein traumatisches Erlebnis in Ihrer Kindheit Sie … wie soll ich sagen … ruhelos gemacht hat. Sie können es angeblich nicht ertragen, lange am selben Ort und unter den selben Menschen zu sein.“
[ 3]Sam zog die Brauen zusammen. „Das ist mir neu.“
[ 3]Fallon beugte sich etwas vor und schlug wieder diesen verschwörerischen Ton an. „Genau das sagt Tricker auch! Er sagt, dass Sie sich dieser Sache nicht bewusst sind, dass Ihr Unterbewusstsein aber dafür sorgt, dass Sie gewissermaßen sich selbst von Ort zu Ort treiben.“
[ 3]„Sagt er das …“
[ 3]Fallon nickte. „Ja. Verrückt, oder? Denn wenn es das ist, was hat er dann in Ihren Vorstellungen zu suchen?“

1989
Sam betrat sein kleine Wohnung, streifte die Jacke ab und warf sie auf den schäbigen Sessel. Dann öffnete er den Briefumschlag. Er enthielt einen Scheck von Jonathan, wie üblich ohne Brief oder dergleichen. Sam griff trotzdem zum Telefon und rief Jonathan an.
[ 3]„Tricker?“
[ 3]„Hallo John. Ich bin's.“
[ 3]„Sam.“ Es klang nicht überrascht.
[ 3]„Ich habe eben den Scheck bekommen. Danke.“
[ 3]„Es ist der letzte.“
[ 3]Sam ließ sich auf die Couch fallen. „Ich weiß. Ich wollte nur sagen, dass er da ist. Und … eh … ich zahl dir alles zurück. Irgendwann.“
[ 3]„Das habe ich nie verlangt“, stellte Jonathan fest.
[ 3]„Ich weiß. Ich tu's trotzdem. Du hast mich damals aufgenommen und all das.“ Sam versuchte zu lächeln, es war nicht leicht bei Jonathans Kühle, die ihm selbst durch den Telefonhörer anzuwehen schien. „Du hast sogar die Schauspielschule bezahlt, obwohl du dagegen warst.“
[ 3]„Ich weiß. Aber ich habe nie etwas dafür erwartet.“
[ 3]„Ich bin dir trotzdem dankbar, du hättest das nicht tun müssen.“
[ 3]Jonathan schwieg.
[ 3]„Hey! Ich habe eben mein erstes Engagement bekommen! Noch vor der Abschlussprüfung!“
[ 3]„Ich gratuliere“, sagte er ohne erkennbare Emotion.
[ 3]Sam versuchte, sich trotzdem zu freuen. „Ja, den Pal Joey. In Manchester.“
[ 3]„Viel Spaß.“
[ 3]„Kommst du hin?“, fragte Sam, obwohl er die Antwort kannte.
[ 3]„Nein.“
[ 3]Sam schloss die Augen und schluckte.
[ 3]„Ich werde umziehen“, sagte Jonathan.
[ 3]Sam schwieg einen Moment. Dann fragte er: „Wohin?“
[ 3]„Weg.“
[ 3]„Aha“, sagte Sam. „Und wie … Wie erreiche ich dich?“
[ 3]„Gar nicht.“
[ 3]„John, du …“ … bist meine Familie, wollte Sam sagen, schwieg dann aber. Kopfschüttelnd und die Augen geschlossen saß er da, den Hörer am Ohr, und fragte sich, was er eigentlich erwartet hatte.
[ 3]„War's das?“, fragte Jonathan.
[ 3]Sam nickte. „Ja“, sagte er. „Das war's.“
[ 3]Jonathan legte grußlos auf.
[ 3]„Auf Wiedersehen“, murmelte Sam in die Stille. Dann schleuderte er das Telefon quer durch das Zimmer.




(Weiter bei Kapitel 1 Teil 3)
 



 
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