Der Fluch (3)

jon

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„Wow!“, entfuhr es Sam, als er die Fotos durchblätterte. Er sah zu Gretchen auf. Die strahlte ihn aus ihren blaugrauen Augen begeistert an. Sam wies auf den Stuhl neben sich und sagte, schelmisch mit dem Finger drohend: „Sie haben retuschiert!“
[ 3]Gretchen setzte sich zu ihm an den Kaffeehaustisch. Ein Kellner stellte ungefragt eine Tasse Kakao vor sie hin. Sie lächelte ihm kurz zu. Sie kannten sich wohl.
[ 3]„Nein im Ernst“, sagte Sam und tippt auf die Bilder. „Mit den Fotos würde ich mich sogar selbst engagieren. Ihr Chef ist wirklich gut.“
[ 3]„Nur das Beste für die Herren Künstler, sagt er immer“, kicherte Gretchen und ließ ihren Blick über Sams Oberarme gleiten.
[ 3]Ihm entging der Blick nicht, aber er ignorierte ihn.
[ 3]„Mein Chef will Fallon vorschlagen, ein Video von Ihnen zu machen. Weil Sie sich so toll bewegen.“
[ 3]Sam schmunzelte. „Sagt er das?“
[ 3]„Oh ja! Sie sind …“, Röte schoss ihr ins Gesicht, „… Sie bewegen sich ganz toll!“ Sie griff hastig nach ihrer Tasse und trank einen großen Schluck. Dann sagte sie: „Sie sind bestimmt ein toller Tänzer“, blinzelte Sam von der Seite her an und trank erneut.
[ 3]„Es geht schon, denke ich“, erwiderte er.
[ 3]Sie stellte die Tasse ab. „Sagen Sie, Samuel“, sie sah in ihren Kakao, als stünde dort ihr Text, „meine Freundin feiert heute eine kleine Party und da kommen jede Menge Pärchen und ich dachte, ich könnte ja vielleicht … ich meine, ich könnte Sie …“ Sie sah ihn fragend an.
[ 3]„…bitten, Sie zu begleiten?“, vermutete er.
[ 3]Sie nickte. Ihr fiel plötzlich etwas ein, sie hob die Hände. „Nicht, dass Sie jetzt denken … Ich meine nur für die Party … Weil Sie doch bestimmt ganz gern tanzen und so.“
[ 3]„Und so“, wiederholte er schmunzelnd und tat, als überlege er.
[ 3]„Och bitte, Sam, ich bin doch die einzige, die im Moment solo ist, da brauch ich doch jemanden mit dem ich tanzen kann.“ Sie stockte. „Oder haben Sie eine Freundin? Wenn Sie eine Freundin haben und die dann wütend wird, dann will ich Sie natürlich nicht in Schwierigkeiten bringen.“
[ 3]„Nein, natürlich nicht.“
[ 3]„Und? Haben Sie eine?“
[ 3]„Nein, habe ich nicht.“
[ 3]Sie strahlte.
[ 3]„Ich hoffe nur, ich bin nicht schon zu alt für Ihren Freundeskreis.“
[ 3]Sie schlug scherzhaft nach ihm „Na Sie! Sie sind doch erst 30!“
[ 3]Er lachte leise auf. „Sie sind ja gut informiert.“
[ 3]„Na klar, ich mache doch auch die Mappen für Fallons Künstler fertig. Die Lebensläufe und so.“
[ 3]Sie fand offenbar nichts bei ihrem Geständnis, sich über ihn informiert zu haben. Sam allerdings fühlte sich plötzlich unbehaglich.
[ 3]Gretchen bemerkte es nicht. Sie stand auf und trank ihren Kakao aus. „Ich komme gegen sieben bei Ihnen vorbei und hole Sie ab“, sagte sie. „Ihre Wohnung liegt sowieso auf dem Weg.“ Sie kramte in ihrer Handtasche.
[ 3]„Ich übernehme das“, sagte Sam.
[ 3]Sie verstand nicht.
[ 3]„Den Kakao“, erklärte er.
[ 3]Sie winkte ab. „Ach was! Das Café gehört meinem Schwager, ich krieg hier den Kakao immer umsonst.“
[ 3]„Aha.“
[ 3]Sie war in den Tiefen ihrer Taschen endlich fündig geworden und überreichte Sam einen Briefumschlag. „Hier, das soll ich dir von Fallon geben. Er sagt, er kann nicht hingehen. Keine Ahnung, vielleicht sind es Kinokarten oder so. Also dann! Bis heute Abend! Ich freu mich schon!“
[ 3]„Ja. Bis heute Abend.“ Er sah ihr nach, wie sie durch die Drehtür verschwand. Er versuchte sich zu erinnern, wann er sich das letzte mal so jung gefühlt hatte, wie sie wirkte. Es musste irgendwann vor dem Pal-Joey-Desaster gewesen sein, vielleicht sogar noch vor dem großen Black-Out. Keine Erinnerungen an seine Kindheit zu haben war beinahe so, als wäre man nie Kind gewesen. Als sei man nicht echt. Nur eine Erfindung. So wie die Rollen, die Sam spielte. Manchmal kamen sie ihm so echt vor wie sein eigenes Leben, nur mit dem Unterschied, dass er diese gespielten Leben mit jemandem teilen konnte. Mit dem Publikum. Für ein paar Stunden wenigstens.
[ 3]Der Kellner kam und trug das Gedeck ab.
[ 3]Sam schrak auf. „Wie viel bekommen Sie?“, fragte er.
[ 3]„Geht auf's Haus.“
[ 3]„Warum das?“
[ 3]„Gretchen“, sagte der Kellner obenhin, als erkläre das alles.
[ 3]Sam fragte nicht nach. Er griff nach seinem Mantel, warf ihn sich über den Arm und verließ das Café. Draußen öffnete er den Briefumschlag von Fallon. Es enthielt zwei Karten für die morgige Vorstellung von „Cop Two“ und eine Visitenkarte des Agenten. Mit schwungvoller Schrift hatte er etwas auf deren Rückseite geschrieben. „Gretchen ist ein Henson-Fan, sie würde sich bestimmt freuen. Viel Spaß!“, entzifferte Sam. Er lächelte. Fallon kannte das Mädchen offenbar gut. Andererseits war schon beim Fotoshooting offensichtlich gewesen, dass sie einen Narren an Sam gefressen hatte, selbst einem Blinden wäre das aufgefallen.
[ 3]„Ok“, dachte Sam. „Warum nicht?“ Er steckte die Karten in die Manteltasche und ging nach Hause.

Sam erwachte davon, dass etwas rhythmisch und heiß seinen Hals streifte. Er versuchte, es wegzuwischen und stellte fest, dass sein Arm blockiert war. Jemand lag darauf. Gretchen. Sam blinzelte zu ihr. Sie schlief noch. Ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet und Sam spürte das dringende Bedürfnis, sie zu küssen. Er beugte sich zu ihr, sie drehte sich, im Schlaf grummelnd, um. Weich fiel ihr dunkelblondes Haar ihm über den Arm und ein Duft nach Wärme erreichte Sam. Er lächelte und gab sich dem Gefühl eines perfekten Morgens hin.
[ 3]Gretchen drehte sich erneut, schniefelte und vergrub ihr Gesicht an Sams Halsansatz. Sam neigte den Kopf zu ihr und begann, ihr über das Haar zu streichen. Die Augen geschlossen genoss er ihre Nähe.
[ 3]Sie begann sich zu regen und sah zu ihm auf.
[ 3]Er lächelte ihr zu. „Guten Morgen, meine Schöne“, flüsterte er.
[ 3]Ein Strahlen brach aus ihr. „'n Morgen.“ Sie drehte sich auf den Rücken, den Kopf noch immer auf seinem Arm, und räkelte sich. Dann rollte sie sich wieder an seine Seite, legte einen Arm um ihn und sah ihm ins Gesicht. Ihr Blick tastete jeden Zentimeter davon ab, es wirkte fast, als könnte sie nicht fassen, was sie sah.
[ 3]Sam rührte sich nicht, ließ sie gewährten. Auch als ihr Blick über seinen Körper zu gleiten begann und ihre Finger die Konturen der Muskeln nachzeichneten. Erst als sie den Bauch erreichte, lachte er leise auf und zuckte unwillkürlich.
[ 3]Sie schaute ihm wieder ins Gesicht. „Kitzelt es?“
[ 3]„Ein bisschen. Aber mach ruhig weiter.“
[ 3]Sie schlug scherzhaft nach ihm. Er schlang seine Arme um sie und zog sie zu sich herab. Küsste sie, rollte sie beide herum, so dass er nun über ihr war.
[ 3]Sie schob ihn von sich. „Ich muss ins Studio“, erklärte sie und stand auf.
[ 3]Er sah ihr nach, wie sie nackt ins Bad tappte und dabei provokant mit den Hüften wippte. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, ließ sich Sam noch einmal ins Bett fallen, kostete ein paar Sekunden lang die Stimmung aus und stand dann ebenfalls auf. Er schlüpfte in Shorts und Jeans und setzte Kaffee an. Im Kühlschrank fand er eine Rolle Brötchenteig, die ihm seine Vermieterin vor drei Tagen spendiert hatte, um ihn aufzumuntern. „Nach einem guten Frühstück ist die Welt gut“, war ihr Lieblingsspruch.
[ 3]Einige Minuten später zog der Duft nach frisch Gebackenem durch Sams Wohnung. Gretchen kam, perfekt frisiert und geschminkt, aus dem Bad und staunte den Frühstückstisch an.
[ 3]„Ui!“ Sie setzte sich. „Das ist ja … Das sieht lecker aus.“
[ 3]Er holte den Kaffee. „Nimmst du Zucker?“
[ 3]„Nein, nur Milch. Was ist das?“ Sie wies auf ein Schälchen Konfitüre. „Erdbeere?“
[ 3]„Himbeere. Und das ist Aprikosenmarmelade.“
[ 3]Sie sah ihn an. „Ich wusste gar nicht, dass du vom Kontinent kommst.“
[ 3]Er goss ihnen Kaffee ein. „Wieso?“
[ 3]„Na“, sie machte eine den Tisch umfassende Geste, „das hier. Ein europäisches Frühstück.“
[ 3]Sam schaute sich auf dem Tisch um. „Ach ja? Ja, irgendwie schon.“ Er sah auf und reichte Gretchen den Brötchenkorb. „Nein, ich war nie dort. Mein … mein Ziehvater machte das Frühstück immer so. Manchmal auch mit Wurst, aber damit kann ich im Moment leider nicht dienen.“
[ 3]Während sie sich ein Brötchen aufschnitt, sagte sie: „Ich wusste gar nicht, dass du bei Zieheltern aufgewachsen bist. In deinem Lebenslauf steht nicht viel drin über deine Kindheit. Eigentlich gar nichts.“
[ 3]„Ich weiß.“ Er trank einen großen Schluck Kaffee, um den Gedanken an John herunterzuspülen.
[ 3]„Erzähl mir was davon“, bat sie. „Hast du in der Schule schon Theater gespielt?“
[ 3]Er nahm ein Brötchen. „Lass uns über etwas anderes reden, ok?“
[ 3]Sie sah ihn einen Moment lang irritiert an. „Warum? Was ist …?“
[ 3]„Bitte!“
[ 3]Sie zuckte zusammen. Dann nickte sie. „Ok.“
[ 3]Sam ärgerte sich über die Missstimmung, die das Thema in ihm geweckt hatte. Er griff über den Tisch hinweg nach Gretchens Hand. „Entschuldige! Ich … Ich möchte einfach nicht darüber sprechen. Es ist …“, er zog seine Hand zurück, „… einfach etwas schwierig im Moment.“
[ 3]Sie versuchte sichtbar, sich vorzustellen, was passiert sein mochte, und schaute ihn an, als suche sie nach Zeichen, nach Hinweisen. Er kam ihr nicht entgegen, tat so, als sei alles geklärt. Schließlich nahm sie den Blick von ihm und widmete sich wieder dem Frühstück.
[ 3]Eine Weile aßen sie schweigend. Dann fielen Sam die Theaterkarten ein.
[ 3]„Hast du heute Abend schon etwas vor?“, fragte er.
[ 3]Sie schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht.“ Sie lächelte. „Warum? Willst du mich ausführen?“
[ 3]Er ging auf den Ton ein, stützte den Kopf die Hand und blinzelte zu ihr hinüber. „Vielleicht.“
[ 3]Auch sie stützte ihr Kinn auf. „Ah. Und wohin?“
[ 3]Einen Moment lang versank er in ihren Augen.
[ 3]„Also?“
[ 3]Er tat, als überlege er. „Wie wäre s mit … Theater?“
[ 3]„Theater?“ Ihre Stirn kräuselte sich ein wenig und ihre vollen Lippen öffnete sich zu einem halb amüsierten, halb erstaunten Lächeln.
[ 3]Sam kämpfte mit dem Verlangen, diese Lippen zu berühren. Er fühlte etwas in sich denken, dass Gretchen perfekt sei.
[ 3]Sie lehnte sich zurück und nahm ihre Tasse in die Hand. „Theater also“, sagte sie und nippte am Kaffee. „Irgendwas Bestimmtes?“
[ 3]„Cop Two“, sagte er.
[ 3]Gretchen riss die Augen auf. „Cop Two?!“ Dann strahlte sie. „Wow!“ Dann zerfiel ihr Lächeln und sie sagte noch einmal „Wow.“ Dann trank sie und sah dabei intensiv an Sam vorbei.
[ 3]Er verstand nicht. „Was?“
[ 3]Sie hörte auf, an ihrem Kaffee zu nippen, setzte die Tasse aber nicht ab. „Naja“, druckste sie, sah Sam noch immer nicht an.
[ 3]Er lehnte sich ebenfalls zurück. „Ich dachte, du wärst ein Fan von diesem Henson.“
[ 3]Jetzt sah sie ihn an. Fragend, fast lauernd.
[ 3]„Oder nicht?“
[ 3]„Doch! Doch, doch“, beeilte sie sich zu sagen. Das Lauern blieb in ihrem Blick.
[ 3]„Was …? Ich nahm an, du würdest dich freuen. Die Shows sind ausverkauft, es … Was ist das Problem?“
[ 3]„Naja, es ist, weil …“ Sie sah ihn an. Die Frage in ihrem Blick war jetzt irgendwie anders. „Du … du hast kein Problem damit?“
[ 3]„Womit?“
[ 3]„Dass ich … ein Henson-Fan bin?“
[ 3]Er lachte. „Warum sollte ich? Oh Gott, nein! Er ist gut, warum sollte ich deshalb ein Problem haben?“
[ 3]Sie war deutlich erleichtert. „Naja, ich dachte, du könntest eifersüchtig sein oder so.“
[ 3]„Eifersüchtig?“ Er schüttelte den Kopf. „Oh Gott, Gretchen, das … eh … Hey! Wenn du nicht gerade mit ihm ins Bett steigst!“
[ 3]Ihm schien, als flöge ein Schatten über ihr Gesicht, aber es war so rasch vorbei, dass er sich nicht sicher war, es gesehen zu haben. „Nein, nein, im Ernst. Das … ist schon ok. Also? Heute Abend Cop Two?“
[ 3]Sie nickte strahlend.

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Der Fluch (4)


(edit 5.2.07, 17:57)
 

flammarion

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Der Fluch (3)
Veröffentlicht von jon am 02. 02. 2007 17:26
„Wow!“, entfuhr es Sam, als er die Bilder durchblätterte. Er sah zu Gretchen auf. Die strahlte ihn aus ihren blaugrauen Augen begeistert an. Sam wies auf den Stuhl neben sich und sagte, schelmisch mit dem Finger drohend: „Sie haben retuschiert!“
Gretchen setzte sich zu ihm an den Kaffeehaustisch. Ein Kellner stellte ungefragt eine Tasse Kakao vor sie hin. Sie lächelte ihm kurz zu. Sie kannten sich wohl.
„Nein(Komma) im Ernst“, sagte Sam und tippt auf die Bilder. „Mit den Fotos würde ich mich sogar selbst engagieren. Ihr Chef ist wirklich gut.“
„Nur das [red] beste [/red] (Beste) für die Herren Künstler, sagt er immer“, kicherte Gretchen und ließ ihren Blick über Sams Oberarme gleiten.
Ihm entging der Blick nicht, aber er ignorierte ihn.
„Mein Chef will Fallon vorschlagen, ein Video von Ihnen zu machen. Weil Sie sich so toll bewegen.“
Sam schmunzelte. „Sagt er das?“
„Oh ja! Sie sind …“,(besser Punkt) Röte schoss ihr ins Gesicht, „… Sie bewegen sich ganz toll!“ Sie griff hastig nach ihrer Tasse und trank einen großen Schluck. Dann sagte sie: „Sie sind bestimmt ein toller Tänzer“, blinzelte Sam von der Seite her an und trank erneut.
„Es geht schon, denke ich“, sagte er.
Sie stellte die Tasse ab. „Sagen Sie, Samuel, meine [red] Feundin [/red] (Freundin) feiert heute eine kleine Party und da kommen jede Menge [red] Päarchen [/red] (Pärchen) und ich dachte, ich könnte ja vielleicht Sie …“ Sie sah ihn fragend an.
„…bitten, Sie zu begleiten?“, vermutete er.
Sie nickte. Ihr fiel plötzlich etwas ein. Sie hob die Hände. „Nicht(Komma) dass Sie jetzt denken … Ich meine(Komma) nur für die Party … Weil Sie doch bestimmt ganz gern tanzen und so.“
„Und so“, wiederholte er schmunzelnd und tat, als überlege er.
„Och bitte, Sam, ich bin doch die einzige, die im Moment solo ist, da brauch ich doch jemanden(Komma) mit dem ich tanzen kann.“ Sie stockte. „Oder haben Sie eine Freundin? Wenn Sie eine Freundin haben und die dann wütend wird, dann will ich Sie natürlich nicht in Schwierigkeiten bringen.“
„Nein, natürlich nicht.“
„Und? Haben Sie eine?“
„Nein, habe ich nicht.“
Sie strahlte.
„Ich hoffe nur, ich bin nicht schon zu alt für Ihren Freundeskreis.“
Sie schlug scherzhaft nach ihm „Na Sie! Sie sind doch erst 30!“
Er lachte leise auf. „Sie sind ja gut informiert.“
„Na klar, ich mache doch auch die Mappen für Fallons Künstler fertig. Die Lebensläufe und so.“
Sie fand offenbar nichts bei ihrem Geständnis, sich ein Bild von ihm gemacht zu haben. Sam allerdings fühlte sich plötzlich unbehaglich. Gretchen bemerkte es nicht. Sie stand auf und trank ihren Kakao aus. „Ich komme gegen sieben bei Ihnen vorbei und hole Sie ab“, sagte sie. „Ihre Wohnung liegt sowieso auf dem Weg.“ Sie kramte in ihrer Handtasche.
„Ich übernehme das“, sagte Sam.
Sie verstand nicht.
„Den Kakao“, erklärte er.
Sie winkte ab. „Ach was! Das Café gehört meinem Schwager, ich krieg hier den Kakao immer umsonst.“
„Aha.“
Sie war in den Tiefen ihrer Taschen endlich fündig geworden und überreichte Sam einen Briefumschlag. „Hier, [red] dass [/red] (das) soll ich dir von Fallon geben. Er sagt, er kann nicht hingehen. Keine Ahnung, vielleicht sind es Kinokarten oder so. Also dann! Bis heute Abend! Ich freu mich schon!“
„Ja. Bis heute Abend.“ Er sah ihr nach, wie sie durch die Drehtür verschwand. Er versuchte sich zu erinnern, wann er sich das letzte mal so jung gefühlt hatte, wie sie wirkte. Es musste irgendwann vor dem Pal-Joey-Desaster gewesen sein, vielleicht sogar noch vor dem großen Black-Out. Keine Erinnerungen an seine Kindheit zu haben war beinahe so, als wäre man nie Kind gewesen. Als sei man nicht echt. Nur eine Erfindung. So wie die Rollen, die Sam spielte. Manchmal kamen sie ihm so echt vor wie sein eigenes Leben, nur mit dem Unterschied, dass er diese gespielten Leben mit jemandem teilen konnte. Mit dem Publikum. Für ein paar Stunden wenigstens.
Der Kellner kam und trug das Gedeck ab.
Sam schrak auf. „Wie viel bekommen Sie?“, fragte er.
„Geht auf's Haus.“
„Warum das?“
„Gretchen“, sagte der Kellner obenhin, als erkläre das alles.
Sam fragte nicht[blue] nach[/blue] (weiter). Er griff nach seinem Mantel, warf ihn sich über den Arm und verließ das Café. Draußen öffnete er den Briefumschlag von Fallon. Es enthielt zwei Karten für die morgige Vorstellung von „Cop Two“ und eine Visitenkarte von Fallon. Mit schwungvoller Schrift hatte er noch etwas auf die Rückseite geschrieben. „Gretchen ist ein Henson-Fan, sie würde sich bestimmt freuen. Viel Spaß!“, entzifferte Sam. Er lächelte. Fallon kannte das Mädchen offenbar gut. Andererseits war schon beim Fotoshooting offensichtlich gewesen, dass sie einen Narren an Sam gefressen hatte, selbst einem Blinden wäre das aufgefallen.
„Ok“, dachte Sam. „Warum nicht?“ Er steckte die Karten in die Manteltasche und ging nach Hause.

Sam erwachte davon, dass etwas rhythmisch und heiß seinen Hals streifte. Er versuchte, es wegzuwischen und stellte fest, dass etwas seinen Arm blockierte. Jemand lag darauf. Gretchen. Sam blinzelte zu ihr. Sie schlief noch. Ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet und Sam spürte das dringende Bedürfnis, sie zu küssen. Er beugte sich zu ihr, sie drehte sich, im Schlaf grummelnd, um. Weich fiel ihr dunkelblondes Haar ihm über den Arm und ein Duft nach Wärme erreichte Sam. Er lächelte und gab sich dem Gefühl eines perfekten Morgens hin.
Gretchen drehte sich erneut, schniefelte und vergrub ihr Gesicht an Sams Halsansatz. Sam neigte den Kopf zu ihr und begann, ihr über das Haar zu streichen. Die Augen geschlossen genoss er ihre Nähe.
Sie begann sich zu regen und sah zu ihm auf.
Er lächelte ihr zu. „Guten Morgen, Schöne“, flüsterte er.
Ein Strahlen brach aus ihr. „'n Morgen.“ Sie drehte sich auf den Rücken, den Kopf noch immer auf seinem Arm, und räkelte sich. Dann rollte sie sich wieder an seine Seite, legte einen Arm um ihn und sah ihm ins Gesicht. Ihr Blick tastete jeden Zentimeter davon ab, es wirkte fast, als könnte sie nicht fassen, was sie sah.
Sam rührte sich nicht, ließ sie gewährten. Auch als ihr Blick über seinen Körper zu gleiten begann, ihre Finger die Konturen der Muskeln nachzeichneten. Erst als sie den Bauch erreichte, lachte er leise auf und zuckte unwillkürlich.
Sie schaute ihm wieder ins Gesicht. „Kitzelt es?“
„Ein bisschen. Aber mach ruhig weiter.“
Sie schlug scherzhaft nach ihm. Er schlang seine Arme um sie und zog sie zu sich herab. Küsste sie, rollte sie beide herum, so dass er nun über ihr war.
Sie schob ihn von sich. „Ich muss ins Studio“, erklärte sie und stand auf.
Er sah ihr nach, wie sie nackt ins Bad tappte. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, ließ sich Sam noch einmal ins Bett fallen, kostete ein paar Sekunden lang die Stimmung aus und stand dann ebenfalls auf. Er schlüpfte in Shorts und Jeans und setzte Kaffee an. Im Kühlschrank fand er eine Rolle Brötchenteig, die ihm seine Vermieterin vor drei Tagen spendiert hatte, um ihn aufzumuntern. „Nach einem guten Frühstück ist die Welt gut“, war ihr Lieblingsspruch.
Einige Minuten später zog der Duft nach frisch Gebackenem durch Sams Wohnung. Gretchen kam, perfekt frisiert und geschminkt, aus dem Bad und staunte den Frühstückstisch an.
„Ui!“ Sie setzte sich. „Das ist ja … Das sieht lecker aus.“
Er holte den Kaffee. „Nimmst du Zucker?“
„Nein, nur Milch. Was ist das?“ Sie wies auf ein Schälchen Konfitüre. „Erdbeere?“
„Himbeere. Und das ist Aprikosenmarmelade.“
Sie sah ihn an. „Ich wusste gar nicht, dass du vom Kontinent kommst.“
Er goss ihnen Kaffee ein. „Wieso?“
„Na“, sie machte eine den Tisch umfassende Geste, „das hier. Ein europäisches Frühstück.“
Sam schaute sich auf dem Tisch um. „Ach ja? Ja, irgendwie schon.“ Er sah auf und reichte Gretchen den Brötchenkorb. „Nein, ich war nie dort. Mein … mein Ziehvater machte das Frühstück immer so. Manchmal auch mit Wurst, aber damit kann ich im Moment leider nicht dienen.“
Während sie sich ein Brötchen aufschnitt, sagte[red] sei[/red] (sie): „Ich wusste gar nicht, dass du bei Zieheltern aufgewachsen bist. In deinem Lebenslauf steht nicht viel drin über deine Kindheit.“
„Ich weiß.“ Er trank einen großen Schluck Kaffee, um den Gedanken an John herunterzuspülen.
„Erzähl mir was davon“, bat sie. „Hast du in der Schule schon Theater gespielt?“
Er nahm ein Brötchen. „Lass uns über etwas anderes reden, ok?“
Sie sah ihn einen Moment lang irritiert an. Dann nickte sie. „Ok.“
Sam ärgerte sich über die Missstimmung, die das Thema in ihm geweckt hatte. Er griff über den Tisch hinweg nach Gretchens Hand. „Entschuldige bitte! Es ist einfach … kein sehr angenehmer Gesprächsstoff für mich.“
Sie versuchte sichtbar, sich vorzustellen, was passiert sein mochte, und schaute ihn an, als suche sie nach Zeichen, nach Hinweisen. Er kam ihr nicht entgegen, tat so, als sei alles geklärt. Schließlich nahm sie den Blick von ihm und widmete sich wieder dem Frühstück.
Eine Weile aßen sie schweigend. Dann fielen Sam die Theaterkarten ein.
„Hast du heute Abend schon etwas vor?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht.“ Sie lächelte. „Warum? Willst du mich ausführen?“
Er ging auf den Ton ein, stützte den Kopf die Hand und blinzelte zu ihr hinüber. „Vielleicht.“
Auch sie stützte ihr Kinn auf. „Ah. Und wohin?“
Einen Moment lang versank (er) in ihren Augen.
„Also?“
Er tat, als überlege er. „Wie wäre s mit … Theater?“
„Theater?“ Ihre Stirn kräuselte sich ein wenig und ihre vollen Lippen öffnete sich zu einem halb amüsierten, halb erstaunten Lächeln.
Sam kämpfte mit dem Verlangen, diese Lippen zu berühren. Er fühlte etwas in sich denken, dass Gretchen perfekt sei.
Sie lehnte sich zurück und nahm ihre Tasse in die Hand. „Theater also“, sagte sie und nippte am Kaffee. „Irgendwas Bestimmtes?“
„Cop Two“, sagte er.
Gretchen riss die Augen auf. „Cop Two?!“ Dann strahlte sie. „Wow!“ Dann zerfiel ihr Lächeln und sie sagte noch einmal „Wow.“ Dann trank sie und sah dabei intensiv an Sam vorbei.
Er verstand nicht. „Was?“
Sie hörte auf, an ihrem Kaffee zu nippen, setzte die Tasse aber nicht ab. „Naja“, druckste sie, sah Sam noch immer nicht an.
Er lehnte sich ebenfalls zurück. „Ich dachte, du wärst ein Fan von diesem Henson.“
Jetzt sah sie ihn an. Fragend, fast lauernd.
„Oder nicht?“
„Doch! Doch, doch“, beeilte sie sich zu sagen. Das Lauern blieb in ihrem Blick.
„Was …? Ich nahm an, du würdest dich freuen. Die Shows sind ausverkauft, es … Was ist das Problem?“
„Naja, es ist, weil …“ Sie sah ihn an. Die Frage in ihrem Blick war jetzt irgendwie anders. „Du … du hast kein Problem damit?“
„Womit?“
„Dass ich … ein Henson-Fan bin?“
Er lachte. „Warum sollte ich? Oh Gott(Komma)[red] ein[/red] (nein)! Er ist gut, warum sollte ich deshalb ein Problem haben?“
Sie war deutlich erleichtert. „Naja, ich dachte, du könntest eifersüchtig sein oder so.“
„Eifersüchtig?“ Er schüttelte den Kopf. „Oh Gott, Gretchen, das … eh … Hey! Wenn du nicht gerade mit ihm ins Bett steigst!“
Ihm schien, als flöge ein Schatten über ihr Gesicht, aber es war so rasch vorbei, dass er sich nicht sicher war, es gesehen zu haben. „Nein, nein(Komma) im Ernst. Das … ist schon ok. Also? Heute Abend Cop Two?“
Sie nickte strahlend.


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