Der Fluch (6)

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jon

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**** KAPITEL 2 ****

Als Carola Brauer das Kino verließ, schlug ihr kühle Feuchtigkeit entgegen. Sie schloss ihren Blazer, schlang die Arme um sich und eilte zu ihrem Auto. Der Film, den sie gesehen hatte, begann schon zu verblassen. Dieses „Ich geh jeden Montag ins Kino“-Prinzip hatte ihr bisher mehr Enttäuschungen als Entdeckungen eingebracht, aber so hatte sie immerhin das Gefühl, ab und zu mal etwas Neues zu erleben.
[ 3]Auf dem Parkplatz stand eine schmale Gestalt und fror sichtlich. Carola vermutete, dass es ein junger Mann war. Er hatte die Schultern hochgezogen und das Gesicht halb im Kragen der seltsam altmodisch wirkenden Jacke versteckt. So im Dämmer dieses niesligen Juniabends wirkte er etwas suspekt. Er schien Carola zu bemerken, hörte auf, von einem Bein aufs andere zu treten und sah in ihre Richtung. Sie tat, als gelte der Blick nicht ihr, und schlängelte sich durch die Reihen der parkenden Fahrzeuge. Dabei kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel und fand einen erledigten Einkaufszettel, den sie zusammenknüllte und wieder einsteckte. Dann war sie an ihrem Auto, schloss auf und …
[ 3]… schrak auf. Auf der Beifahrerseite stand der junge Mann und fragte: „Schdat?“
[ 3]„Was?“
[ 3]Er zeigte hinter sich. „Schdat?“
[ 3]„Ach Stadt!“ Sie nickte. „Ja.“
[ 3]Er zeigte auf sich, dann wieder nach hinten und setzte eine fragende Miene auf.
[ 3]Carola zögerte. Der Junge, er mochte 16 oder 17 Jahre alt sein, wirkte heruntergekommen, aber nicht gefährlich. Unwillkürlich sog sie die Luft ein, um zu riechen, ob er vielleicht betrunken war, aber da waren nur der Regen und die Autos. Also nickte sie, stieg ein und öffnete die Beifahrertür. Der Junge nahm Platz. Er hatte viel zu lange Beine für die Einstellung des Sitzes, aber er änderte sie nicht.
[ 3]„Wohin willst du?“, fragte Carola, während sie den Motor startete.
[ 3]„Sorry, I don't speak german.“
[ 3]Sie sah überrascht zu ihm. Er lächelte um Verzeihung bittend, sein müdes Gesicht hellte sich dabei ein wenig auf.
[ 3]„Verstehe“, antwortete Carola auf englisch. „Ich wollte wissen, wo ich dich absetzen soll.“ Sie fuhr los.
[ 3]„Irgendwo in der Stadt.“
[ 3]„Wo willst du denn hin?“
[ 3]„Irgendwohin.“
[ 3]„Aha.“ Sie verließ den Parkplatz und bog auf die Straße ein. Ein Motorrad dröhnte vorbei. „Und wo kommst du her?“
[ 3]„Iowa.“
[ 3]„Iowa? Das ist nicht gerade um die Ecke.“
[ 3]„Nein.“
[ 3]Sie sah zu ihm. Er hatte die Beine angezogen und sich tief in den Sitz sinken lassen. Die Arme hatte er um sich geschlungen. Er war offenbar sehr müde.
[ 3]„Und wie bist du hergekommen?“
[ 3]„Keine Ahnung.“
[ 3]„Keine Ahnung? Du musst doch wissen, wie du nach Deutschland gekommen bist!“
[ 3]„Nein. Ich weiß es nicht. Ich war plötzlich hier.“
[ 3]„Du warst …“ Sie musterte ihn. Wenn er es merkte, dann konnte er es gut überspielen: Er sah nach vorn aus dem Fenster und schien ganz entspannt. Carola widmete sich wieder dem Fahren und schwieg. Es gab nicht viele sinnvolle Möglichkeiten dafür, dass jemand sich plötzlich an einem völlig fremden und vor allem so weit entfernten Ort wiederfand. Keine davon war angenehm.
[ 3]„Ich war mit meiner Familie beim Picknick und wollte Feuerholz holen. Ich muss gestolpert sein oder so. Als ich zu mir kam, war ich hier.“
[ 3] Carola sortierte die Möglichkeiten neu. „Wann bist du geboren?“, erkundigte sie sich.
[ 3]„Ich bin 17“, sagte er.
[ 3]Das war nicht, was sie wissen wollte, aber sie fragte nicht nach. Statt dessen reichte sie ihm die Hand. „Ich bin Caro.“
[ 3]„Dean“, antwortete er und erwiderte ihren Händedruck.
[ 3]„Hast du Hunger, Dean?“
[ 3]Er nickte.
[ 3]Sie langte nach hinten und holte eine Einkaufstüte vor. Sie reichte sie ihm. „Ist nicht viel, aber in 10 Minuten sind wir zu Hause, da mach ich dir was Richtiges.“
[ 3]Dean griff in die Tüte und holte die angefangene Keksschachtel raus. „Cocos?“
[ 3]„Magst du nicht?“
[ 3]„Doch! Sehr sogar.“ Er begann zu futtern.
[ 3]Zwei Minuten später war die Schachtel leer. Dean steckte sie zurück in die Tüte und knüllte alles auf seinem Schoß zusammen. Er sah wieder nach vorn.
[ 3]„Kriegst du nicht Ärger, wenn du einfach jemanden mitbringst?“, fragte er, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
[ 3]Carola lachte. „Mit wem?“
[ 3]„Ich weiß nicht.“ Jetzt sah er sie an. „Mit deinem Mann oder so.“
[ 3]„Ich habe keinen Mann. Und auch keinen oder so.“
[ 3]„Warum nicht?“
[ 3]„Wa…“ Sie sah ihn an und runzelte die Stirn. „Muss es dafür einen Grund geben?“
[ 3]Er zuckte die Achseln. „Kann ja sein.“
[ 3]„Nein, es gibt keinen Grund. Ich … Es gibt eben grade keinen Mann in meinem Leben.“
[ 3]„Bist du geschieden?“
[ 3]Sie lachte auf. „Also weißt du …“
[ 3]„Entschuldige, ich wollte nicht unhöflich sein. Ich dachte eben, dass du vielleicht geschieden bist.“
[ 3]Sie fragte nicht nach dem Warum.
[ 3]Eine Weile fuhren sie schweigend. Dean sah nach vorn, manchmal aus dem Seitenfenster. Einmal glitt sein Blick über die Mittelkonsole und blieb am Kassettendeck hängen, aus dem eine Kassette halb eingelegt herausragte. Carola sah, dass Deans Brauen nach oben zuckten, konnte die Geste aber nicht deuten.
[ 3]„Erzähl mir was von dir“, bat sie.
[ 3]„Was denn?“
[ 3]„Ich weiß nicht. Hobbys, Familie. Schule von mir aus.“
[ 3]„Ich mache Sport.“
[ 3]„Sport. Was denn?“
[ 3]„Crickett.“
[ 3]„Crickett? In Iowa? Da hätte ich eher Baseball vermutet.“
[ 3]„Hab ich auch mal gemacht.“
[ 3]„Und warum hast du aufgehört?“
[ 3]„Ich war nicht gut genug“, sagte er obenhin.
[ 3]Sie sah ihn an. „Du bist rausgeflogen?“
[ 3]Er schaute zu ihr, zog die Brauen zusammen. „Nein. Ich hab nur aufgehört.“
[ 3]„Weil du nicht gut genug warst? Ich dachte man hört auf, wenn es keinen Spaß mehr macht.“
[ 3]Die steile Falte über seiner Nasenwurzel vertiefte sich. „Es macht keinen Spaß, wenn man nicht gut ist.“
[ 3]Sie musterte ihn. „Das ist Blödsinn, Dean.“
[ 3]Er schniefte, antwortete aber nicht. Statt dessen sah er wieder aus dem Fenster.
[ 3]„Entschuldige, aber das ist wirklich Blödsinn. Natürlich macht es mehr Spaß, wenn man auch noch gut ist und andere einen deswegen anerkennen, aber glaub einer alten Frau, das ist nicht das Maß. Du musst nur wissen, wie gut du bist und die Ansprüche entsprechend ausrichten.“
[ 3]Er sah sie an. „Wie alt bist du?“
[ 3]„Was?“
[ 3]„Du sagtest alte Frau …“
[ 3]Sie lachte auf. „Das war symbolisch gemeint! Ich … habe einfach ein bisschen mehr Lebenserfahrung als du, das ist alles.“
[ 3]Er schien enttäuscht. „Ach so.“
[ 3]„Ach so?“ Sie schüttelte den Kopf. „Was soll das bitte heißen?“
[ 3]Die Falte kehrte auf seine Stirn zurück. „Nichts. Wieso?“
[ 3]Sie winkte ab. „Schon gut! - Wir sind gleich da.“

Caro hatte ihm Brot hingestellt, Margarine und Wurst. Als sie mit dem Cappuccino kam, kaute Dean schon mit vollen Backen.
[ 3]„Schmeckt's?“
[ 3]Er nuschelte etwas, was wie eine Zustimmung klang.
[ 3]Carola setzte sich im gegenüber auf den Schrankvorsprung und sah ihm beim Essen zu. Er erschien etwas zu schmal für 17 Jahre. Aber er hatte schöne Hände.
[ 3]Ohne mit Kauen aufzuhören, wies Dean mit dem Kopf Richtung Fernseher. „Dein Freund?“
[ 3]Sie schaute irritiert hin. „Ach das Bild! Nein. Das ist Thomas Bern.“
[ 3]„Wer ist das?“
[ 3]„Ein Sänger.“
[ 3]„Kenn ich nicht.“
[ 3]„Würde mich auch wundern.“
[ 3]„Wieso? Ist er nicht gut?“
[ 3]„Du hast es mit den gut-sein, oder? Nein, er ist gut. Er ist einfach nur in den Staaten nicht bekannt, weil er deutsch singt.“
[ 3]„Ach so.“
[ 3]„Ach so, ach so!“, äffte Carola. „Junge, du musst viel entspannter werden. Du bist 17, mein Gott!“
[ 3]Er reagierte nicht darauf. Er spülte den letzten Bissen mit Cappuccino herunter. „Kann ich mich bei dir waschen?“
[ 3]„Klar. Oder dachtest du, ich lass dich dreckig auf meiner Couch schlafen?“
[ 3]Zum ersten Mal schien er die Fassung zu verlieren: Er riss die Augen auf. „Hier schlafen?“
[ 3]Sie runzelte die Stirn. „Hast du 'ne bessere Idee?“
[ 3]„Nein, ich … Nein.“ Er begann an seinen Fingernägeln zu spielen. „Es ist nur … ich …“
[ 3]„Was?“
[ 3]„… ich habe kein Schlafzeug dabei.“
[ 3]„Kein … ? Oh Gott! Das ist wirklich dein geringstes Problem, Dean. Schlafzeug! Ich fasse es nicht!“ Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer. Sie holte eines ihrer Bigshirts und ein paar alte Shorts, die irgendwann bei ihr gestrandet waren und die sie noch nicht weggeworfen hatte, weil sie im Schrank nicht störten. Sie legte beides neben Dean auf die Couch. „Hier. Das dürfte bis morgen reichen, dann holen wir dir was Passendes für die nächsten Tage.“
[ 3]„Die nächsten Tage?“ Es klang fast panisch, wie er das sagte.
[ 3]„Oder auch nicht. Wenn du eine bessere Unterkunft findest …“
[ 3]Er sah sie forschend an. „Warum machst du das alles?“
[ 3]„Was denn?“, fragte sie und versuchte, nicht zu bemerken, dass er grüne Augen hatte.
[ 3]„Das hier“, erwiderte Dean und machte eine den Tisch und die Couch umfassende Geste. „Du kennst mich gar nicht, ich könnt ein Räuber sein.“
[ 3]„Ein Räuber?“ Sie lachte. „Entschuldige, aber … Nein, wie ein Räuber wirkst du nicht gerade.“
[ 3]„Das könnte eine gute Tarnung sein“, sagte er. Ein Lächeln hatte sich in seine Mundwinkel geschlichen.
[ 3]Sie winkte theatralisch ab. „Neeee! Ach was! Nein nein, mit Tarnungen kenn ich mich aus. Du bist echt.“ Und wie echt, setzte sie in Gedanken hinzu. „Weißt du was? Ich hol dir jetzt das Bettzeug für die Couch und geh dann schlafen. Du kannst bleiben oder gehen - ganz wie du willst. Ok?“
[ 3]Er nickte und griff nach Shirt und Shorts. „Wo ist das Bad?“
[ 3]Sie wies Richtung Korridor. „Klo rechts, Dusche gerade aus.“ Dann holte sie das Bettzeug und machte die Couch zurecht. Draußen ging die Dusche an. Caro ging ins Schlafzimmer und suchte die Sachen für morgen zusammen. Sie goss die Blumen und sammelte abgefallene Blätter rund um die Bonsais auf. Sie ging ins Wohnzimmer, goss dort die Blumen. Draußen ging noch immer die Dusche. ,So viel dazu', dachte Carola und stellte den Wecker für eine Stunde eher. Heute Abend würde sie kein heißes Wasser mehr für's Haarewaschen kriegen. Da konnte sie sich auch gleich umziehen und in Bett gehen. Sie schloss die Schlafzimmertür hinter sich und knöpfte die Bluse auf. Gerade als sie sie ausziehen wollte, platzte Dean herein. Er hatte das Badetuch um die Hüfte geschlungen, Wasser perlte auf seiner Haut.
[ 3]„Was ist das?“, fragte er und streckte Carola fordernd eine Tube entgegen.
[ 3]Caro hielt die Bluse mit einer Hand zu, mit der andern nahm sie die Tube. „Zahnpasta.“ Sie reichte sie ihm zurück.
[ 3]„Das weiß ich! Ich meine das hier!“ Er tippt auf den Falz am Ende. „Diese Zahlen.“
[ 3]„Das Haltbarkeitsdatum?“, vermutete Caro.
[ 3]„2003?“
[ 3]„Eh …“
[ 3]„2003??“ wiederholte er. „Was für eine Zahncreme hält denn fast zwanzig Jahre?“

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flammarion

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und

doch noch n fehler gefunden: . . .wann und wo solche Löcher auftauchen und wohin sie fürhen - führen. wegen solcher tippfehler lasse ich immer mein rechtschreibprogramm mitlaufen.
lg
 



 
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