Der französische Professor

GerRey

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Ich kannte ihn nicht. Mit
Professoren hatte ich es nie so.
Von akademisch gebildeten Leuten
war mir nie etwas widerfahren, das
Nennenswert wäre. Im Gegenteil.
Ihre Hybris, die Welt leiten zu meinen
geht mir ziemlich auf die Nerven.

Gestern Abend begann ich die
Walking-Runde in umgekehrter
Richtung, damit ich einen Brief,
den ich an meine Transkriptorin
Anika geschrieben hatte, nicht
die ganzen fünf Kilometer
mitschleppen musste.

Als ich in die Gasse, in der der
alte Toni wohnt, einbog, sah ich,
eine Gestalt am Anfang der Gasse,
auf die ich zuging, wie sie auf mich
zukam - oder so ähnlich.

Wer war das? Zuerst glaubte ich
ein altes Weib, müde zwischen zwei
Walking-Stöcken, schleppe sich
dahin. um die letzten Sonnentage
ihres Lebens zu genießen. Erst
als wir auf der Höhe des Hauses
vom alten Toni zusammentrafen
erkannte ich, dass die Gestalt
ein Mann war.

Er grinste mich verhalten an und
sagte mit französischem Akzent:
“Sie gehen aber schnell.”

Französischer Akzent, in der Gasse
des alten Toni - das konnte nur der
Professor sein, der in der Quergasse,
aus der ich gekommen war, wohnte. Vor mehr
als 20 Jahren hatte er das Eckhaus gekauft
und war mit seiner Frau dort eingezogen.

Das hatte noch meine Mutter ermittelt, deren
Bekanntschaften in seiner Nachbarschaft wohnten,
und die mein Wissen über ihn
gebildet hatten. Und haften geblieben
war, dass seine Frau es mit dem
Postboten getrieben habe.

Das machte mich natürlich neugierig auf
die Frau. Als ich dann wusste, wer sie war
und wie sie aussah, fand ich sie keineswegs
so attraktiv, um ihren Zaun zu übersteigen.

“Ja”, sagte ich zu dem vermeintlich
identifizierten Professor, “ohne Schnelligkeit
gibt es keinen Benefit.”

Ich erinnerte mich, dass ich ihn nachts
einmal vor seinem Haus gesehen hatte. Er
war gerade angekommen und stieg aus dem
Kombi, der mit dem sportlichen Smart vor
seinem Haus parkte. Ich hatte ihn laut und deutlich
gegrüßt, als ich vom Postkasten auf dem Rückweg
vorbeigekommen war -
aber er hatte nicht reagiert.

Diese Leute übersehen freie Typen wie mich
gerne - und ich war nicht darauf aus, mich bei ihm
Lieb-Kind zu machen.

“Ich kann nicht so schnell”, sagte der Professor
vor dem Haus des alten Toni. “Es ist heiß und
ich bin müde.”

“Probieren Sie’s! Machen Sie einfach große
Schritte - dann kommt die Geschwindigkeit von
selber. So belasten Sie auch Muskeln, die
sonst nicht belastet werden.”

“Ich weiß, ich weiß”. sagte er. “Ich habe das
früher alles gemacht, war joggen, Rad-fahren …”

Ja, ich weiß auch, dachte ich. Du weißt das
alles viel besser als ich. Dann sagte ich:
“Ich muss weiter.”

Nachdem ich zum Abschied gegrüßt hatte, ließ
ich ihn stehen. Natürlich grüßte er nicht zurück. Ich
ging am Fußballplatz vorbei, bog an der Hauptstraße
beim Schloss ab und warf den Brief in den Postkasten
beim Pensionisten-Club. Dann lief ich an der Kirche
vorbei, die Ortschaft hinaus auf die Feldwege.
Der Abend brach heran. Am Himmel zogen dunkle
Wolken auf, fern grummelte Donner am Firmament.
Ich hatte noch gute vier Kilometer vor mir.
Da fiel mir ein, dass ich nicht einmal wusste, wie
der Professor hieß, oder welcher Art Professor
er überhaupt war -
und das war gut so!
 



 
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